Ludwig Kalisch
Paris und London
Ludwig Kalisch

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Merry Christmas

Das Weihnachtsfest ist das populärste Fest des Engländers. Er freut sich ein halbes Jahr darauf und konsumiert dann den Vorrat von Lust und Fröhlichkeit des ganzen Jahres. Wenn der Engländer auch das ganze Jahr hindurch nicht liebenswürdig ist, zur Weihnachtszeit ist er gewiß liebenswürdig – wenigstens soviel, als er es sein kann.

Die Vorbereitungen dazu beginnen schon am Anfange des Dezember. Das Vieh macht den Anfang. Da nämlich der Engländer nicht lustig sein kann, wenn er nicht ißt, da sein Herz nur jubelt, wenn sein Magen keine Ursache hat, mit dem Schicksal zu grollen: so muß vor allen Dingen für Fleisch gesorgt sein. Dem Weihnachtsfeste gehen die Cattle-Shows, die Viehausstellungen, voraus. Die Ausstellung, die in diesem Jahre stattfand, hat die gerechte Bewunderung aller Sachkenner erregt. Ich bin nun zwar kein Sachkenner, aber ich muß gestehen, daß ich mit Staunen erfüllt worden, als mir einige Exemplare aus jener Ausstellung zu Gesichte 327 kamen. Ich habe Ochsen gesehen, die im strengsten Sinne des Wortes die Last ihres Körpers nicht tragen konnten und die je nach einigen, mit unsäglicher Mühe vollbrachten Schritten verzweiflungsvoll auf das Pflaster sanken. Hämmel, die sich in ihrem Fette verlieren und an denen kaum die Beine sichtbar sind, Schweine, die mit ihren Bäuchen das Pflaster fegen, und Kälber, denen die Haut zu eng ist, sieht man zur Zeit der Viehausstellung in Menge. Nach dieser Viehschau brachte der Viehmarkt auf Smithfield die herrlichsten Exemplare, und an dem der Weihnachtswoche vorhergehenden Montage wurden auf diesem Markte nicht weniger als siebentausend Ochsen und siebenundzwanzigtausend Hämmel verkauft.

Die ersten Spuren des herannahenden Weihnachtsfestes bemerkt man daher an den Metzgerläden. Diese sind mit den Prachtstücken des als Opfer menschlicher Gefräßigkeit gefallenen Viehes geschmückt, an denen man die Fettwerdung des Fleisches bewundern kann, und es geht selten ein Engländer vor einem solchen Laden vorbei, ohne einen schmachtenden Blick darauf zu richten. Besonders aber erregt diese Herrlichkeit die süße Sehnsucht der niedern Klasse. Ich habe während jener Zeit manchen armen Teufel vor einem Lendenstücke wohl zehn Minuten stehen sehen, es mit hungerigen Augen verschluckend und die Worte: »Beautiful! Splendid! Capital!« mit unbeschreiblicher Ekstase rufend.

Neben den Metzgerläden bemerkt man an den Spezereiläden die herannahende Weihnachtszeit. Ganze Bergketten von Rosinen, Korinthen, überzuckerten Pomeranzen und Lemonenschalen sind hinter den Schaufenstern aufgehäuft. Wenn ich von Bergketten rede, so ist dies nicht ganz eine rhetorische Figur; es 328 sind wirklich ungeheuer hoch aufgetürmte Massen jener süßen Früchte, die zur Bereitung des Christmaspudding unumgänglich notwendig sind. Der Engländer liebt überhaupt das Massenhafte; die englischen Läden zeichnen sich daher nicht durch geschmackvolle Anordnung, sondern durch Warenreichtum aus. An jenen dem Weihnachtsfeste vorangehenden Tagen aber ist jeder Laden noch viel massenhafter gefüllt.

Dem Engländer ist das Weihnachtsfest ein Fest der Freude; an Weihnachten legt er sein kaltes, ernstes Gesicht ab und will auch überall heitere, lebensfrohe Gesichter sehen. Zu keiner Zeit ist er so freundlich, so zuvorkommend und so wohltätig. Alle Armenanstalten erhalten reichliche Beisteuern, um das schöne Fest aufs freudigste begehen zu können, und dem Hilfsbedürftigen wird zu jener Zeit selten eine Gabe verweigert. Jeder nur einigermaßen wohlhäbige Engländer aber zeigt an diesem Tage die unbegrenzteste Gastfreundschaft, und der Ausländer, der nur irgendeine englische Bekanntschaft hat, kann sicher darauf rechnen, daß er zum Weihnachtsabend eine Einladung erhält und daß ihn der freundlichste Empfang, die zuvorkommendste Bewirtung erwartet.

Ein Weihnachtsdiner in England unterscheidet sich von den gewöhnlichen englischen Diners nicht nur durch den Reichtum, sondern auch durch gewisse Gerichte, die dabei durchaus nicht fehlen dürfen, nämlich: durch das überaus fette Rindfleisch, durch den welschen Hahn und vor allem durch den Pudding. Ich weiß nicht, welche symbolische Bedeutung der Pudding hat; ich habe es, trotz meiner mit echt deutscher Gründlichkeit angestellten Forschungen, nicht herausbringen können; sicher aber ist, daß der allerärmste Engländer 329 am Christabend seinen Pudding haben muß. Ein englischer Christabend ohne Pudding ist kein Christabend, sondern ein Unsinn, ein Anachronismus, eine Blasphemie. Alle Wohlgerüche Arabiens ersetzen dem Engländer den Duft des Puddings nicht an Weihnachten, und von der Tafel der Königin in Windsor bis zur niedrigsten Hütte des Allerärmsten muß am Weihnachtsabend der Pudding dampfen.

Der Pudding, der auf die Tafel kam, an die eine freundliche Einladung mich gerufen, war sehr korpulent und mit einem Stechpalmenzweige geschmückt, der ihm im dunkelbraunen Busen steckte. Die Stechpalme spielt eine Hauptrolle in der englischen Christmasfeier. Sie prangt in jedem Laden. Die Metzger spicken ihre Fleischmassen damit, und man sieht vor Weihnachten kein Hinterviertel, in welchem nicht ein halbes Dutzend solcher Zweige steckte. Sie haften tief in dem oft fußhohen Fette, was sich eigentümlich genug ausnimmt. Man glaubt hängende Fettgärten zu sehen. Die Stechpalme mit ihren roten Beeren ist aber nur das Surrogat für die Mistel, welche eine tiefere Bedeutung hat und allgemein als ein aus den Zeiten der Druiden herrührendes Symbol gehalten wird; in welcher Beziehung diese Pflanze zum Christentume steht, das wußte mir niemand zu sagen.

Am Christabend ist ein Mistelzweig an der Zimmerdecke befestigt, und jeder Herr, der mit einer Dame unter einen solchen Zweig zu stehen kommt, hat das Recht, sie zu küssen; ein Recht, das – unter gewissen Umständen – sehr angenehm ist. Daß die Herren viel List anwenden, die Damen unter den Zweig zu bringen, versteht sich von selbst. Der Ausländer aber, der die Bedeutung des am Plafond hängenden Zweiges nicht 330 kennt, wird oft von einer Dame selbst unter denselben gelockt und, da er in seiner Unwissenheit von seinem Rechte keinen Gebrauch macht, weidlich ausgelacht.

Die englischen Weihnachten unterscheiden sich sehr von deutschen. Man kennt in England die Christbäume nicht, und es fehlt dort an jenem poetischen Etwas, das sich nur empfinden, aber nicht klar in Worte fassen läßt. Der Deutsche fühlt an jenem Abend mehr Heimweh als gewöhnlich. Der Duft des Puddings vermag ihm nicht den Geruch der Tanne zu ersetzen; und im Glanze der Gasflammen sehnt er sich nach den kleinen bunten Wachskerzchen, die zwischen den grünen Nadeln und den vergoldeten Nüssen und Pfefferkuchen märchenhaft glitzern.

Dem Engländer ist das Weihnachtsfest eine Art Karneval, ein Fest, an welchem man dem Scherze den Zügel schießen läßt und dem Humor, wo er sich einstellt, sehr durch die Finger sieht. Man tanzt, man singt, man spielt und fühlt sich froh, daß man wenigstens einmal im Jahre lustig sein darf, ohne daß die Konvenienz oder das »heavy decorum«, wie es der Engländer in Selbstverspottung nennt, mit strafender Gebärde dazwischenfährt. Die Merry Christmas ist noch das einzige Fest, welches der finstere Puritanismus nicht zerstören konnte – der Puritanismus, der alle Lebensfreudigkeit zu zerstören suchte und nach meiner festen Überzeugung den größten Teil des Humors vernichtete, der einst im englischen Volke lebte. Die natürliche Gutmütigkeit des Engländers bricht an diesem Feste durch das Eis, das die strenge Sitte um seine Brust gelegt, und das befreite Herz atmet der Freude in lebhafteren Pulsen entgegen.

Am Weihnachtsabend wird in englischen 331 Familienkreisen nicht gegähnt, was an andern Abenden gewöhnlich geschieht, wenn die Unterhaltung über das Wetter und über eine zufällige Tagesneuigkeit erschöpft ist. Ich habe nirgendwo soviel gähnen sehen wie in englischen Familien. Kaum hat man sich in einem solchen Familienkreise angesprochen, so hat man sich auch schon ausgesprochen. Die Worte fließen dann nicht von den Lippen, sondern sickern in langsamen Pausen wie Wassertropfen durch eine Filtriermaschine, bis sie endlich ganz versiegen und jeder Mund sich öffnet und man sich gegenseitig die Zähne zeigt.

Diese Armut an Unterhaltung rührt davon her, daß den Mädchen wenig oder gar keine Teilnahme daran gegönnt wird, daß der Engländer nicht mitteilsamer Natur und daß der Kreis der Konversation durch Vorurteile mancher Art sehr eng umschrieben ist. Am Weihnachtsabend indessen taut, wie gesagt, der Engländer auf; ja, er wird warm und ist dann ein angenehmer Wirt, ein lustiger Gesellschafter. Er ist dann für Musik, von der er nichts versteht, sehr passioniert, und befindet sich ein Deutscher in Gesellschaft, so wird er so lange mit Bitten bestürmt, »a German song« hören zu lassen, bis er, er mag Talent haben oder nicht, sich dazu verstehen muß. Der Engländer hat wohl etwas Gefühl für Musik, aber keinen Musiksinn, und da wir Deutsche mit Recht als die musikalischste Nation betrachtet werden, so gilt jeder Deutsche ohne Ausnahme dem Engländer als ein ausgemachter Musiker. Ich selbst bin in vielen englischen Kreisen häufig genug zum Singen aufgefordert worden, und man hat mir trotz meiner heiligsten Schwüre nicht glauben wollen, daß ein knarrender Wetterhahn bessere Töne von sich gäbe als meine von der Natur stiefmütterlich 332 behandelte Kehle. Es hieß dann immer: »Don't be too modest. Pray, Sir, oblige us with a German song!«

Da man mir nirgends meine singende Unfähigkeit glauben wollte, schützte ich später bei dergleichen ungestümen Mahnungen eine Erkältung vor. Andere Deutsche, die ebensowenig Stimme, aber mehr Mut haben, sich selbst singen zu hören, lassen sich nicht vergebens bitten. So sang einmal einer meiner Landsleute in einer größern Gesellschaft das Lied »O du lieber Augustin« mit einer Stimme, die über ihre eigenen Beine wegstolperte. Ich konnte kaum das Lachen unterdrücken; aber das übrige Auditorium war sehr erbaut davon. Ein donnernder Applaus belohnte ihn, und er mußte auf allgemeines Bitten das Lied wiederholen. Noch komischer als diese musikalische Produktion war die einer englischen Matrone. Diese Dame, obgleich sechzig Jahre alt, sang das bekannte »O wie herrlich strahlet der Morgen« und ließ sich dabei von einem Mädchen am Klavier begleiten. Es geschah dies in einer sehr zahlreichen Gesellschaft, und ich muß gestehen, daß ich während des schauderhaften Gesanges meine Hände mit aller Gewalt in der Tasche zurückhalten mußte; so viel Lust hatten sie, meine Ohren vor den heftigen Angriffen der Anti-Sirene zu schützen.

Wird nun die Weihnachtszeit in allen Kreisen mit Lust und Heiterkeit begangen, so bemächtigen sich Kunst und Literatur auf ihre Weise der frohen Festtage, jene durch die Christmas-Books, diese durch die Aufführung von Pantomimen und Farcen. Die Christmas-Books sind von dem trefflichen herz- und geistvollen Dickens wieder zu einigem Kredit gebracht worden, den sie dadurch verloren hatten, daß kein Schriftsteller höhern Ranges seine Muse dafür in 333 Anspruch nehmen wollte. Andere Schriftsteller sind dann, durch den günstigen Erfolg gelockt, dem Beispiele Dickens' gefolgt.

Die Christmas-Books bringen den Autoren viel Geld, aber wenig Unsterblichkeit. Es sind kleine, illustrierte, vergoldete Dingerchen, die irgendeine Bluette enthalten. Der Buchbinder tut mehr dafür als der Verfasser, und kaum sind sie gelesen, so sind sie auch vergessen. Manche werden sogar vergessen, ehe sie gelesen werden; was sie jedoch von vielen anderen literarischen Erzeugnissen nicht besonders unterscheidet. Dickens freilich hat diesen Christmas-Books eine tiefere Bedeutung dadurch zu geben gewußt, daß er in ihnen eine volkstümliche, gemütliche Saite anzuschlagen gewußt. Seinen Nachfolgern und Nachahmern fehlt dazu Lust und Talent. Dickens hat dies Jahr kein Christmas-Book geschrieben, dafür hat er aber in seiner trefflichen, viel gelesenen und auch dem deutschen Publikum zu empfehlenden Wochenschrift »Household Words« einen schönen, tief empfundenen Aufsatz über das Weihnachtsfest gebracht. Der kaustische Thackeray hat dies Jahr ebenfalls ein Christmas-Book, »The Kickelburys on the Rhine«, herausgegeben, ohne indessen seinen wohlbegründeten Ruhm dadurch sonderlich zu vermehren.

Was die Pantomimen und Farcen betrifft, so sind sie noch ein Überbleibsel jener längst dahingeschwundenen Zeit, in welcher die ungeheuchelte Wahrheit unter der Maske der Narrheit erschien und die Gebrechen der Zeit schonungslos geißelte. In diesen Farcen tritt der Clown auf samt seinen ausländischen Brüdern, dem Harlekin, dem Polichinel und dem Pierrot. Es ist viel Spektakel, viel Kulissenpracht in diesen, 334 gewöhnlich nach Feenmärchen gearbeiteten Stücken, aber so wenig Witz und Humor, daß ein halbwegs vernünftiger Mensch es wohl kaum eine halbe Stunde dabei aushalten kann. Der ursprüngliche Zweck dieser Stücke war wohl kein anderer, als die während des ganzen Jahres verübten Torheiten in Stadt und Land durch die satirische Hechel zu ziehen. Sie ähneln daher den sogenannten Revues, die beim Beginne des Jahres in den Pariser Theatern aufgeführt werden; allein die Pariser Revues, obgleich eben auch nicht sehr kunstgerecht zusammengefügt, sind doch bei weitem reicher an Witz und heiterer Laune. Die englischen Farcen und Pantomimen sind meistens sehr derb, und zwar so sehr derb, daß ein guter Magen dazu gehört, um sie nicht unverdaulich zu finden. Sie beginnen mit der Weihnachtsfeier und dauern den ganzen Januar, ja oft den ganzen Februar hindurch. Ich habe sie fast sämtlich gesehen; aber mein Zwerchfell hat dadurch nicht die geringste Erschütterung erlitten, obgleich ich für einen nur halbwegs leidlichen Witz sehr empfänglich bin und gegen die Behauptung Hegels, daß ein guter Spaß soviel wert sei als eine schöne Gegend, kaum etwas einzuwenden habe.

Die eigentliche Weihnachtszeit, Christmastime, findet mit dem Dreikönigsabend ihren Abschluß. Dieser Abend wird in Familienkreisen lustig verbracht und dem Twelfthcake, dem Dreikönigskuchen, tüchtig zugesprochen. Nachdem der Dreikönigskuchen angebissen, ist die Christmastime vorüber. Der Engländer zieht sich die Liebenswürdigkeit aus, und man gähnt wieder in Gesellschaften, bis die Merry Christmas sich erneut und Scherz und heitere Laune wieder ihre legitime Herrschaft antreten. 335

 


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