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Dieses Theater unterscheidet sich von dem Vaudeville-Theater fast durch nichts als durch das Personal, und sie könnten gegenseitig die Namen vertauschen, ohne dadurch eine falsche Benennung zu erhalten. Das Théâtre des Variétés bringt nur Vaudevilles zur Aufführung. Es besitzt sehr begabte Talente, die aber alle vor dem Talente der Madame Dejazet verschwinden. Madame Dejazet ist die höchste Potenz einer Vaudeville-Schauspielerin. Ihre Grazie spottet der Jahre; denn obgleich eine Fünfzigerin, spielt sie noch die 74 Polissons mit einer alles entzückenden Virtuosität. Klein, mager und von einer quecksilbernen Beweglichkeit, findet sie kein physisches Hindernis, jene sechzehnjährige geniale Schelme mit einer solchen Wahrheit zu spielen, daß man niemals an ihr Geschlecht erinnert wird. Sie scheint in Hosen auf die Welt gekommen zu sein. Die Titelrolle in dem Vaudeville »Voltaire en vacances« ist eine ihrer vorzüglichsten Leistungen. Man kann sich den Knaben Voltaire, der eben die Grenze des Jünglingsalters überschreiten will, kaum anders, gewiß aber nicht liebenswürdiger denken. Jeder Zoll an ihr verrät den poetischen Gamin, der die Harrenden vor den Pforten des Tempels der Unsterblichkeit mit satirischen Stößen und Püffen beiseite drängt und sich Eingang verschafft. Sie spricht nicht nur, sie blickt auch witzig, und jede ihrer Bewegungen ist mit einer solchen Genialität berechnet, daß man das Berechnete nicht bemerkt.
Madame Dejazet hat diesen Winter auch in »Lully«, einem neuen Vaudeville von Dumanoir und Clairville, Bewunderung erregt. Sie gibt in diesem Stücke ebenfalls die Titelrolle. Lully, der Begründer der Großen Oper, der in seinem musikalischen Fanatismus seinem Orchesterpersonal oft mit der Geige um die Köpfe fuhr, ist hier noch ein sechzehnjähriger Küchenjunge im Dienste des Kochs Saugeon. Diesem Koch ist seine Profession zugleich seine Konfession. Seine Küche ist sein Heiligtum, und er glaubt unerschütterlich an seine pikanten Saucen, an die Unfehlbarkeit seiner gebratenen Schnepfen. Er ist ein kulinarischer Fanatiker und betrachtet die zwei Dutzend Küchengehilfen, die unter seiner Botmäßigkeit stehen, als eine Art Klerus, für dessen Oberpriester er sich hält. Der geniale Lully aber 75 ist ein geheimer Ketzer. Er glaubt nicht an die alleinseligmachende Küche und an die gebratenen Offenbarungen seines Meisters Saugeon. Er erfüllt zwar seine Pflicht, aber er fühlt sich unglücklich, daß er sie erfüllen muß, und nimmt, wenn er allein ist, den Gegenstand seiner Sehnsucht, seiner innigsten Liebe in den Arm und träumt sich dann hinüber in eine schönere Welt. Dieser Gegenstand der Liebe und der Sehnsucht ist seine Geige, die er aus Furcht vor seinem Meister in einem der Küchenschränke verborgen hält. Als er nun einst, von den Mißtönen der brodelnden Töpfe und Pfannen zur Verzweiflung gebracht, die Geige ergreift und ihr die süßesten Töne entlockt, wird er von der sämtlichen Küchenmannschaft überrascht, die, wie von einem unnennbaren Zauber gebannt, schweigend und unbeweglich die Töne mit dürstendem Ohre einsaugt. Sein Geheimnis ist verraten; man weiß, daß er Künstler ist.
Unter dieser Küchenmannschaft befindet sich zufällig ein anderes Genie, ein Bäckerlehrling, der aber mit Widerwillen sein Bäckerhandwerk treibt und, wenn er sein Brot den Kunden abgeliefert, sich auf den Helikon schleicht, es ist Quinault. Quinault, entzückt von dem Talente Lullys, offenbart diesem sein poetisches Talent, indem er ihm eine Satire zeigt. Diese Satire auf eine Hofdame gefällt Lully so sehr, daß er sie sogleich in Musik setzt. Ein Edelmann, auf Lullys Virtuosität aufmerksam geworden, befreit ihn von dem Dienste des kulinarischen Tyrannen und bringt ihn in die Nähe jener Hofdame, gegen welche Quinault die Satire gerichtet. Nun beginnen Intrigen, die der junge Tonkünstler mit der größten Liebenswürdigkeit schürzt und löst.
76 Das Stück ist an und für sich sehr unbedeutend; seine ganze Bedeutung erhält es durch Madame Dejazet, die hier den ganzen Reichtum ihres schönen Talents entfaltet. Die übrigen Personen dienen ihr nur als Staffage.
Das Merkwürdigste an der Dejazet ist ihre Stimme, die noch so frisch und hell ist, daß mir mehrere Kunstkenner, die sie vor einem Vierteljahrhundert gehört haben, versicherten, die Dejazet habe damals nicht anmutiger, nicht lieblicher gesungen als jetzt. Mag diese Behauptung nun übertrieben sein, so viel ist doch gewiß, daß, was den Gesang betrifft, keine der jungen Vaudeville-Schauspielerinnen sich auch nur im allerentferntesten mit ihr messen kann. Madame Dejazet singt kein einziges Couplet, ohne den rauschendsten Beifall zu erwecken.
Das übrige weibliche Personal am Théâtre des Variétés glänzt mehr durch die Jugend als durch die Tugend. Madame Page ist eine solch üppige Schönheit, daß die Pariser Roués und die alten Rentiers ihre Augen bewaffnen, sobald sie auftritt, obgleich ihre Schönheit von solch niederländischem Umfang ist, daß man sie auch mit unbewaffnetem Auge sehr deutlich sehen kann und sie auch nichts zu verbergen trachtet, was einem männlichen Auge angenehm ist.
Das männliche Personal des Théâtre des Variétés hat mehrere treffliche Kräfte, und unter diesen verdiente besonders Hoffmann hervorgehoben zu werden. Hoffmann ist, wenn ich nicht irre, ein Elsässer, und man merkt seiner Komik den deutschen Ursprung an. Sie ist derb, aber auch kerngesund. In Bauernrollen ist Hoffmann unvergleichlich. Niemand spielt die Dummheit in Holzschuhen so trefflich wie er.
77 Unter den Stücken, die sie diesen Winter im Théâtre des Variétés aufgeführt, hat besonders das fünfaktige Vaudeville von Barrière und Murger, »La vie de Bohême«, mehrere Monate hindurch die Aufmerksamkeit der Pariser gefesselt.
»La vie de Bohême« heißt auf deutsch »Zigeunerleben«, und unter dieser Benennung versteht man in Paris das wilde Eheleben oder das Leben der wilden Ehe, welches Studenten und Künstler mit ihren Grisetten führen. Die Intrige des Stückes ist sehr mager. Einem jungen Menschen, der das Glück hat, der Neffe und Erbe eines sehr reichen Onkels zu sein, gefällt das Zigeunerleben seiner Freunde so sehr, daß er ein Verhältnis mit einer Grisette anknüpft. Phémie, so heißt die Grisette, weiß den jungen Mann durch ihre Reize, durch ihre Gutmütigkeit und durch ihre Tugend (Phémie ist eben eine Ausnahme von der Regel) so sehr zu fesseln, daß er sie wahrhaft, daß er sie innig liebt. Aber Phémie liebt auch, nicht weil, sondern obgleich sein Oheim Millionär ist. Dieser Oheim aber, der wohl an Grisetten, nicht aber an die Tugend derselben glaubt, hat ein Heiratsprojekt für seinen Neffen, ein Heiratsprojekt, das sich trefflich zu rentieren verspricht. Als nun sein Neffe, wegen seines Verhältnisses zu Phémie, sich dem Heiratsplane des Oheims entschieden abhold zeigt, beschließt dieser, durch die ihm zu Gebote stehenden Mitteln den jungen Mann zur Tugend, das heißt zu den Millionärgefühlen zurückzuführen. Der Oheim gibt dem Neffen kein Geld mehr. Der Neffe gerät in Not, und die arme, treue Phémie wird krank, sehr krank, todeskrank. Ihre Freunde und Freundinnen verkaufen alles, um das liebe Mädchen unterstützen zu können; denn ihre Freundinnen, obgleich Grisetten der 78 tollsten Art, sind doch gutmütig und weichherzig, gutmütiger und weichherziger als manche Frauen, die mit der strengen Tugend Parade machen. Nichts aber will verschlagen. Der Neffe des Millionärs, der Geliebte Phémies, leidet unaussprechlich, aber seine Treue ist unwandelbar, und koste es auch sein Leben, er mag die Gefühle seines Herzens nicht verkaufen. Der Oheim, der da sieht, daß er auf dem eingeschlagenen Wege nicht zu seinem Ziele gelangen kann, beschließt, ein anderes Mittel zu versuchen, das er für unfehlbar hält. Er will nämlich von der Grisette selbst die Freiheit seines Neffen erkämpfen. Er ergreift demnach die Waffen, denen in dieser verkäuflichen Welt selten etwas widersteht, nämlich ein paar Dutzend Banknoten, steckt sie ins Portefeuille und begibt sich zu Phémie. Das kranke Mädchen weist aber sein Anerbieten mit dem ganzen Unwillen eines gekränkten Ehrgefühls, eines beleidigten Herzens zurück. Der Neffe, der seinen Oheim bei dessen Unterredung mit Phémie überrascht, gerät in Zorn und wirft ihm die niedrige Gesinnung vor, die jede Tugend für wertlos hält, weil sie auf der Börse keinen Kurs hat. Er umarmt die bleiche, zitternde Geliebte inniger, heißer als je, und sie stirbt an seiner Brust im Beisein des Oheims, der jetzt Gelegenheit hat, sich zu überzeugen, daß selbst in Paris und unter Grisetten die Allmacht des Geldes zuweilen noch Widerstand findet.
Das Stück, so unbedeutend es auch dem gesunden Geschmacke, dem richtigen Kunsturteile erscheinen muß, hat doch, wie bereits erwähnt, sehr viel Aufsehen erregt, so daß sogar der Präsident der Republik es nicht unter seiner Würde gehalten, dasselbe mit seiner angenehmen Gegenwart zu beehren. Der Erfolg dieses 79 Stückes aber ist seiner sozialen Färbung zuzuschreiben und der naturwirklichen Treue, mit der in einzelnen Szenen das Grisettenleben kopiert ist.
Wahrscheinlich werden deutsche Fabrikanten sich beeilen, dasselbe für unsere Bühnen zu übersetzen. Man kann aber nicht genug vor solchen dramatischen Handarbeiten warnen. Es wird in Paris kein einziges Stück aufgeführt, das nicht irgendeinen Wert, wenn auch nur einen Lokalwert, hätte, selten aber ein Stück, das nicht fast allen Wert verlöre, sobald es auf die deutschen Bühnenbretter verpflanzt wird. Das unbedeutendste Vaudeville erregt hier immer noch einiges Interesse, sei es durch die pikanten Couplets, sei es durch die prickelnden, stechenden politischen Anspielungen oder durch die immer lebendige, oft meisterhafte Darstellung. Nun kommt ein literarischer Handwerker oder Handlanger, der kaum die Elemente der französischen und kaum mehr als die Elemente der deutschen Sprache kennt, und verarbeitet ein Vaudeville, dessen Reize meistens in dem pikanten Dialog und den geistreichen Couplets bestehen, der Art, daß er das attische Salz im Dialog verschüttet, die Couplets wegläßt und aus den feinen Equivoques grobe Kneipenzoten macht. Schon das Weglassen der Couplets aber beraubt das Vaudeville seiner schönsten Eigentümlichkeit; denn die Couplets sind die eleganten Rahmen, die jede Szene wie ein niedliches Genrebild einschließen. Und wo sind in Deutschland die Künstler, die ein Vaudeville aufzuführen imstande sind? Von dem Publikum, dem derartige französische Produktionen immer etwas Widerstrebendes haben müssen, will ich gar nicht reden. Nur ein geistreicher deutscher Schriftsteller, dem die Anforderungen und Eigentümlichkeiten unserer Bühne nicht 80 fremd sind und der des Französischen vollkommen mächtig ist, fände hier eine reiche Ausbeute, wenn er die hiesigen Bühnen zum Gegenstande seines genauesten Studiums machte und aus dem Wuste der dramatischen Erzeugnisse das Bessere wählte und mit Geschmack bearbeitete. Natürlich müßte er hier nur den Stoff, die Fabel benutzen, dieser aber eine durchaus deutsche Form geben.