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Als ich im Bahnhofe den um elf Uhr abgehenden Zug erwartete, der mich nach Calais bringen sollte, war es mir, als müßte ich mich von einer Geliebten trennen. Ich war in einer sehr gedrückten Stimmung. Dazu kam noch, daß meine Freunde, die mich an den Bahnhof begleitet hatten, nicht aufhörten, Paris zu loben. Jeder zählte eine Reihe vortrefflicher Eigenschaften der Hauptstadt Frankreichs auf und fühlte sich überaus glücklich, zurückbleiben zu können.
Während wir indessen über Paris sprachen, füllte sich der Wartesaal immer mehr mit Reisenden aus den verschiedensten Nationen. Auch viele Deutsche waren darunter, meistens Flüchtlinge, die von London aus nach der Neuen Welt gehen wollten, um dort die Freiheit zu finden, für welche sie in ihrem Vaterlande umsonst alles geopfert. Da gab es ein Küssen, ein Umarmen, ein Händedrücken und ein heimliches Tränenvergießen. Die Männer hielten sich ziemlich standhaft; die Frauen und Mädchen aber schluchzten laut und weinten sich die Augen rot. Der Himmel weiß, welche zarte, welche innige Bande durch dieses Scheiden auf immer getrennt wurden!
Endlich ging die Bahnhoftüre auf, und alles stürzte auf die Wagen zu, um sich einen guten Platz zu erobern. Ich erkeuchte mir einen Eckplatz und richtete mich so 188 bequem wie möglich für die Nacht ein. Meine Bequemlichkeit sollte aber nicht lange dauern. Als nämlich der Zug abgehen wollte, stürzte eine Dame in den Wagen und brachte unsere Bänke in Unordnung. Sie hatte in der Mitte des Wagens Platz genommen; kaum war aber der Zug in Bewegung, als sie über Unwohlsein klagte. Sie war, in der Angst sich zu verspäten, so sehr dem Bahnhofe zugeeilt, daß sie jetzt die Folgen spürte und über Mangel an Luft klagte. Mein Visavis räumte ihr sogleich den Platz ein, und so saß sie nun mir gegenüber. Ich suchte ihr soviel wie möglich behilflich zu sein. Ich öffnete die Wagenfenster; ich fächelte ihr Kühlung zu und goß ihr Kölnisches Wasser aufs Schnupftuch. Nichts aber half. Nach einigen Minuten fiel sie mir ohnmächtig ins Gesicht. Meine Verlegenheit war unbeschreiblich. Die Ohnmächtige war eine sehr junge, sehr schöne Dame, und die Ohnmacht vermehrte ihre Reize so sehr, daß ich sie, trotz der Unbequemlichkeit, recht gerne eine Viertelstunde in meinen Armen gehalten hätte; zugleich ging mir aber der Zustand des armen Weibes sehr zu Herzen.
In diesem Kampfe zwischen meinem Egoismus und meinem bessern Ich gewann dieses schnell den Sieg, und ich brachte die Ohnmächtige mit Hilfe meiner Nachbarn nach einigen Minuten wieder zur Besinnung. Sie drückte mir dankbar die Hand und sah mich dabei mit solchen warmen Augen an, daß mein armes Herz fast zerschmolz.
An der nächsten Station stieg sie aus und wurde von ihrem Gatten, der ihrer wartete, in Empfang genommen. Ich sah der Scheidenden einen Augenblick nach und suchte mein verblüfftes Herz wieder in Fassung zu bringen.
189 In meinem Wagen waren nun außer mir nur noch zwei Passagiere zurückgeblieben. Von dem einen, der mir zur Rechten saß, konnte ich nichts sehen als einen ungeheuern Schnurrbart; denn er hatte die Kapuze seines Abdelkaders über den Kopf geschlagen; von dem andern, der mir gegenüber saß, konnte ich nicht viel mehr sehen. Mein Gegenüber war ein kleines Männchen, dem die baumwollene Zipfelmütze bis an die Zähne ging.
Mein Nachbar zur Rechten drückte den Kopf in die Wagenecke, legte seine langen Beine auf die Bank und ließ zwischen meinen Rippen und den Sohlen seiner Stiefeln kaum einen Fuß breit Raum übrig. Er schnarchte bald so heftig, daß er mir fast die Ohren taub schlief. Mein kleines Gegenüber in der baumwollenen Schlafmütze schlummerte zwar nicht so hörbar, aber er hatte einen sehr beweglichen Schlummer. Morpheus warf ihn nach kurzen Pausen immer aus seinen Armen in die meinigen. Sooft ich an der Hand des Schlafes ins Reich der Träume gehen wollte, fiel er mir an den Hals, und ich mußte ihn wieder zurückwerfen. Bei diesen Bewegungen machte die Quaste seiner Schlafmütze die phantastischsten Sprünge. Sie richtete sich bald stolz in die Höhe, bald flog sie wie ein mutwilliger Schmetterling nach rechts und links, und bald senkte sie sich wie eine welke Lilie in unnennbarer Wehmut tief hernieder, um nach einigen Sekunden mir schelmisch ins Gesicht zu fliegen oder sich mit meiner Nase einen dummen Spaß zu erlauben.
So ging es die ganze Nacht hindurch. Ich verfluchte das kleine Männchen und alle Schlafmützen und war froh, als der Morgen zu dämmern begann. Mein ausgestreckter Nachbar zur Rechten erwachte und bemerkte, daß man nirgends so gut schlafe als in einem 190 weichen Bette. Während er diese Bemerkung machte, schraubte er sich die Gelenke wieder in Ordnung.
Mein kleines Visavis schlug endlich auch die Augen auf, wünschte meinem Nachbar einen guten Morgen und wollte wieder einschlafen; da ich aber jetzt an der Grenze angelangt war, wo sich die Geduld von der blöden Gutmütigkeit zu trennen pflegt, und ihn also, wenn er mir an die Brust fallen wollte, nicht mehr menschenfreundlich in die Ecke zurückwarf, so fiel er einige Male so hart auf meine Knie, daß er es für gut fand, auf die Fortsetzung seines Schlummers zu verzichten.
Er zog sich nun die Schlafmütze vom Kopfe, rieb sich die Augen, gähnte wie ein Abgrund, reckte sich, gähnte wieder und knüpfte endlich ein Gespräch mit meinem Seitennachbar an, dessen Freund er zu sein schien. Ich wurde bald mit in das Gespräch gezogen, und meine physiognomische Kenntnis erlitt einen nicht geringen Stoß, als ich den Namen meines Visavis erfuhr. Ich hatte das kleine Männchen für ein Krämerchen gehalten, für ein Heringsseelchen, das nicht über die Grenze seines Kramladens hinausreicht; aber wie hatte ich mich getäuscht! Das kleine Männchen war der große Himmelstürmer, der vielbesprochene, vielbewunderte Poitevin, der vor einigen Tagen erst auf einem Schimmel in die Wolken geritten war.
So wenig kann man dem Äußern trauen!
Ich hörte nun von ihm, daß er nach London gehe, um dort einen Luftritt zu versuchen. Der Mann mit dem großen Schnurrbart war ein Stallmeister und Eigentümer des Pferdes, das schon viel höher gestiegen war als der Pegasus irgendeines modernen Poeten.
191 Als ich Herrn Poitevin ein Kompliment über seine Courage machte, lächelte er bescheiden und sagte, daß die Sache viel gefährlicher aussähe, als sie in der Tat sei. Man dürfe nur keinen Schwindel haben. Er sitze, wenn er in und über den Wolken sei, nicht immer auf dem Pferde, sondern steige die Leiter auf und ab, die von der Öffnung des Ballons zu dem obern Ende desselben führe, um zu sehen, ob alles in gehöriger Ordnung sei.
Schon die bloße Erzählung dieses Auf- und Absteigens erregte mir Schwindel, und in der Angst, aus dem Wagen zu fallen, bat ich ihn, einzuhalten. Er lachte und sagte, es sei eben alles nur Gewohnheit. Wer immer ans Fallen denke, der würde niemals hochsteigen; und der Mensch könne ja doch nicht mehr als einmal den Hals brechen.
Gegen diese letzte Behauptung hatte ich nicht das geringste einzuwenden, fühlte aber, als er sie machte, unwillkürlich an meine Krawatte und empfand mit innerem Wohlbehagen, daß mein Hals noch nicht aus den Fugen gegangen.
Es war ein wüster, unerquicklicher Morgen. Die Sonne schmollte hinter dem weinenden Gewölke, das von einem launischen Südwest gejagt ward. Die Reise war also nicht sehr angenehm; dazu kam noch, daß sie sich sehr in die Länge zog. Wir glaubten nämlich um acht Uhr morgens in Calais anzulangen und hörten nun zu unserm Verdrusse, daß wir Calais vor der Mittagsstunde nicht erreichen würden. Ergeben in den Willen der eisernen Notwendigkeit, schlossen wir die Wagenfenster, setzten uns so dicht wie möglich zusammen und suchten uns durch Geplauder die Zeit so gut wie möglich zu vertreiben.
192 Gegen Mittag langten wir endlich in Calais an, und hier erfuhren wir, daß vor vier Uhr kein Schiff nach Dover ginge, daß wir aber, wenn wir nicht durch ungünstigen Wind auf der See aufgehalten würden, gleich nach unserer Ankunft in Dover mit dem von dort abgehenden Zuge nach London kommen könnten.
Das Wetter hatte sich unterdessen aufgeklärt, und wir machten daher vor Tische einen Spaziergang durch das kleine, aber höchst freundliche und gewerbtätige Städtchen, dem man das hohe Alter wohl ansieht. Die Engländer können es heute noch nicht verschmerzen, daß ihnen Calais unter der Regierung der ebenso bigotten als grausamen Marie durch einen Handstreich des Herzogs von Guise entrissen worden.
An der Table d'hôte kam ich zwischen Poitevin und einen alten Engländer zu sitzen. Als man diesem eine halbe Bouteille Wein vorsetzte, wies er das Getränk mit stolzer Verachtung zurück und forderte Kognak. Der Wirt, dem die Herzensneigung dieses Engländers genau bekannt zu sein schien, machte dem Kellner Vorwürfe, daß er seine Gäste nicht besser kenne, und setzte dem Engländer eine ziemlich ausgewachsene Karaffe Kognak vor, mit welcher dieser noch vor der Suppe eine vertraute Unterhaltung begann. Der alte Mann trank den Branntwein, wie man in der Gräfenberger Heilanstalt das Wasser trinkt. Da er kein Wort Französisch verstand, knüpfte ich ein englisches Gespräch mit ihm an. Der Alte freute sich, daß mir die englischen Poeten so genau bekannt; und um mir zu zeigen, daß auch er sie gelesen, zitierte er nicht nur einzelne Strophen, sondern ganze Gedichte aus den englischen Klassikern, von Shakespeare bis Byron. Byron besonders war sein Liebling, und er wußte dessen Werke im 193 strengsten Sinne des Wortes auswendig. Während er mich aber auf diese Weise mit einer Blumenlese der englischen Poesie regalierte, vergaß er durchaus nicht, süßen Trost aus der Kognakflasche zu schöpfen und mit einer ungeheuern Bravour in das Rindfleisch einzuhauen. Er aß, trank und deklamierte durcheinander, und ich wußte nicht, ob er mit der Deklamation seine Tafelfreuden würzen oder ob er durch die Tafelfreuden sich für die Deklamation kräftigen wollte.
Als ich ihn um sein Alter fragte, erwiderte er, daß er bereits das sechsundsiebzigste Jahr zurückgelegt. Sechsundsiebzig Jahre und ein solches Gedächtnis. Sechsundsiebzig Jahre und ein solch himmelschreiender Appetit! Und dabei war er noch ein poetisch fühlender Mensch. Ich konnte gar nicht begreifen, wie solch ein ästhetisches Herz in der Nähe eines so weltbezwingenden Magens nicht aufgerieben würde.
Er hatte gerade eine schöne Stelle aus Byrons »Giaour« beendigt, als er wahrnahm, daß er auch die Karaffe Kognak beendigt hatte; er bestellte daher eine zweite und suchte ihr in aller Gemütsruhe das Leben zu verkürzen. Ein anderer, mit gewöhnlichen Nerven begabter Mensch, wäre nach so reichlichem Genusse des gebrannten Trankes seiner Zunge nicht mehr mächtig gewesen oder hätte vielleicht gar schon unter dem Tische die Sünden gebüßt, die er am Tische begangen; der Alte aber blieb sich vor wie nach ganz gleich. Der Kognak spürte ihn viel mehr, als er den Kognak spürte. Eine solche gußeiserne Konstitution ist mir noch gar nicht vorgekommen. Ach, ich muß zu meiner Schande gestehen, daß der ehrwürdige Greis einen kaum zu unterdrückenden Neid in mir erweckte.
Als das Dessert gebracht wurde, kam das Gespräch 194 auf Poitevin und seinen himmelstürmenden Ritt. Der unbekannte, bescheidene Poitevin wurde kirschrot, als er sich nennen hörte und sein Mut allgemein gerühmt wurde. Ein junger Mensch, der mir gegenüber saß, ergriff nun das Wort. Der unschüchterne Jüngling, ein Weinreisender von Bildung und Gesinnung, hielt eine Vorlesung über Aeronautik und entfaltete dabei einen solch reichen Mangel an Kenntnissen, als ihm nur immer möglich war; und es war ihm alles möglich! Als ihn jemand fragte, ob er Poitevin habe aufsteigen sehen, sagte er: »Gewiß! Herr Poitevin ist einer meiner intimsten Freunde. Ein prächtiger Mensch dieser Poitevin! Ein Kerl wie ein Riese und verwegen wie der Teufel. Wir haben mancher Flasche den Garaus gemacht, und ich könnte sehr interessante Geschichten von ihm erzählen, wenn ich wollte.«
Die Tischgesellschaft wurde neugierig, und man bat ihn von vielen Seiten, einige dieser interessanten Geschichten zum besten zu geben. Er war schon im Begriff, der Aufforderung zu genügen, als ich Poitevin, der nicht recht wußte, wie er dem Renommisten am besten ins Zeug fahren könnte, laut beim Namen rief.
Aller Augen richteten sich nun auf den Aeronauten, und die Frage: »C'est Monsieur Poitevin?« wurde allgemein.
In welche Verlegenheit der arme Weinreisende durch die unvermutete Anwesenheit des Luftreiters geriet, kann man sich leicht denken. Die Gesellschaft, die diese Verlegenheit und die Ursache derselben sogleich merkte, lachte laut und forderte ihn auf, seinen alten Freund zu begrüßen. Der artige Poitevin, der mit dem vorlauten Schwätzer Mitleid hatte, sagte, daß er sich wohl erinnere, einst mit ihm in Gesellschaft 195 gewesen zu sein. »Aber ›der Kerl wie ein Riese‹, wo steckt denn der?« fragte man lachend von allen Seiten, indem man den kleinen Poitevin betrachtete.
»Es ist schon lange her, daß ich den Herrn gesehen«, antwortete Poitevin, »seit jener Zeit bin ich vielleicht gewachsen.«
Ein schallendes Gelächter folgte auf diese satirische Antwort. Der Weinreisende fand es jedoch für gut, sich so unbemerkt wie möglich zu entfernen.
Indessen war die Zeit zur Abreise herangenaht; die »Königin von Belgien« erwartete uns an der Hafenbrücke. Sie, die »Königin« nämlich, schien sehr ungeduldig; sie wiegte sich von einer Seite zur andern, als würde ihr die Zeit zu lange. Der Himmel war klar, und die Sonne blickte lächelnd auf das Meer, mit dessen Wellen eine muntere Brise schäkerte. Die Hafenbrücke war ungewöhnlich belebt. Reisende, die aus Angst, sich zu verspäten, herbeieilten, Hausknechte, mit buntem Gepäcke beladen, und müßige Zuschauer drängten, drückten und schoben sich nach rechts und links. Um diese Szene noch malerischer zu machen, kamen Gruppen hochaufgeschürzter Fischerinnen vom Meeresstrande, Netze auf den Schultern und Körbe auf den Köpfen tragend. Es waren meistens schöne weibliche Gestalten mit sonnverbrannten Gesichtern und schwarzen, lebhaften Augen.
Ich weidete mich an diesem lebhaften Treiben und atmete mit unbeschreiblichem Behagen die Seeluft ein.
Aber eine Viertelstunde nach der andern verging; vier Uhr war längst vorüber, und noch machte die »Königin« keine Anstalt zur Abreise. Ich hatte mir immer die Seeleute so pünktlich gedacht und konnte diese Saumseligkeit nicht begreifen. Ich erkundigte 196 mich nun nach der Ursache derselben und hörte, daß man noch auf einen höchst vornehmen Passagier, auf einen deutschen Prinzen, warte. Sämtliche Reisende gaben ihren Unwillen über diese Verzögerung laut zu erkennen; ich aber, der ich ein deutsches Herz habe, aus welchem die natürlichen Untertanengefühle noch nicht verschwunden, faßte mich in Geduld und sagte meinen Reisegefährten, daß Prinzen im allgemeinen und deutsche Prinzen im besondern nicht gerne für das Fortkommen anderer sorgten; das läge in ihrer Natur.
Nach einiger Zeit kam die prinzliche Bagage, nämlich die Effekten und ein halb Dutzend Domestiken, an Bord. Die Domestiken trugen an ihrer Livree große gekrönte Knöpfe und blickten mit souveräner Verachtung auf unsere ungekrönten. Nun gab es ein Rutschen, ein Schieben, ein Karren auf dem Verdecke, und alles wurde von den vielen Koffern, Schachteln, Kisten und Kasten hin- und hergestoßen. Der Prinz schien sein ganzes irdisches Gut aufs Schiff geschickt zu haben. Ich zählte nicht weniger als dreiundzwanzig durchlauchtigste Nachtsäcke. Endlich kam der Prinz mit seiner Gemahlin; er, ein schmächtiger, aristokratisch zugeknöpfter Vierziger mit einem unumschränkten Gesichte, sie, ein junges, schönes, schlankes Weib mit feinen, vornehmen Zügen. Der Prinz hatte am rechten Arme seine Gemahlin, und unter dem linken trug er ein elegantes Etui; er hielt dieses Etui so fest ans Herz gedrückt, daß ich überzeugt bin, es hat sein Zepter und seine Krone darin gelegen.
Nach der Ankunft des Prinzen stellte sich der Kapitän auf den Radkasten. Die »Königin von Belgien« wurde nun vom Brückenpfeiler losgebunden, und nach einigen Minuten befanden wir uns in der See. Die 197 Gesellschaft war durch das heitere Wetter sehr heiter gestimmt. Die Männer rauchten behaglich ihre Zigarren, und die Damen scherzten mit den Herren und waren guter Dinge. Mein Herz pochte vor Freude, als ich das Brausen der dunkeln Meereswogen vernahm, die sich wie junge ungezügelte Rappen bäumten. Lange Zeit stand ich am Gitter des Verdeckes und sah hinaus ins Weite, mit tausend verschiedenen Gedanken beschäftigt, von tausend lebhaften Gefühlen bewegt.
Aber das Meer wurde immer unruhiger und warf die »Königin von Belgien« so heftig hin und her, daß es mir schwer ward, aufrecht stehen zu bleiben. Als ich mich umwendete, fand ich die Gesellschaft sehr verändert. Die Herren hatten die Zigarren weggeworfen und ließen die Köpfe hangen, und die meisten Damen hatten die Kajüte aufgesucht. Die Prinzessin lag auf dem Verdecke hingestreckt, gehüllt in einen veilchenblauen seidenen Mantel. Ihr schönes Gesicht war auffallend bleich. Vor ihr stand eine Porzellanvase, auf welcher Apollo und die neun Musen gemalt waren. In unsäglicher Wehmut richtete die Prinzessin das matte Auge auf die griechischen Gottheiten. Einige Schritte von ihr entfernt saß auf einem ungeheuern, schwarzledernen und mit unzähligen blanken messingenen Nägeln geschmückten Koffer ihr Gemahl, der Prinz von dreiundzwanzig Nachtsäcken, und schien um seine Gattin ängstlich besorgt. Was halfen ihr in diesem Augenblicke, wo sich ihr ganzes Innerste gegen sie empörte, Ihre Durchlaucht? Sie hätte in ihrem bittern Weh gewiß das halbe Dutzend Domestiken für ihre Genesung hingegeben.
Ich gemeiner Demokrat befand mich wohl und munter und freute mich der aufgeregten Wellen, deren dumpfes Brausen mir wie heilige Orgeltöne klang. 198 Indessen dauerte mich doch der unästhetische Zustand, in welchem die Prinzessin sich befand. Ihr unästhetischer Zustand wurde immer unästhetischer, und Apollo und die neun Musen auf der Porzellanvase erhielten durch die durchlauchtige Übligkeit ein ganz miserables Ansehen. Noch niemals sind die schönen Künste von einer fürstlichen Person so schlimm behandelt worden.
Der Prinz, der im Augenblicke nicht wußte, wie er seinem Schmerz über den Zustand seiner Gattin Luft machen sollte, zankte mit den Bedienten. Sein Zorn schien indes nicht sehr geistreich zu sein. Er nannte jeden seiner Domestiken »Esel«, ohne Abwechslung, ohne verzierendes Epitheton. Höchst komisch war es, daß sich jeder Domestik tief verneigte, sobald er mit seinem grauen Titel entlassen wurde. Die Prinzessin wurde indessen durch die Grobheit ihres Gemahls den Bedienten gegenüber von ihrem Übel nicht geheilt.
Meine Aufmerksamkeit wurde jedoch bald von einer andern Seite in Anspruch genommen. Eine junge Französin legte sich nämlich mit gebrochenem Herzen zu meinen Füßen hin und wartete mit halbgeschlossenen Augen auf die abscheuliche Krisis. Den schwarzen Lockenkopf auf die rechte Hand und den Ellenbogen auf den Boden gestützt, lag sie vor mir hingestreckt wie die büßende Magdalena von Correggio, höchst malerisch für den Zuschauer, aber höchst unangenehm für sie selbst. Sie schien indessen eine stärkere Konstitution zu haben als die deutsche Prinzessin; denn die gefürchtete Krisis trat nicht ein, und sobald wir die englische Küste gewahrten, schlug sie die großen, dunkeln, lebhaften Augen auf und erhob sich vom Boden.
Nach einer Fahrt von dritthalb Stunden langten wir in Dover an.
199 Alles drängte nun dem Landungsplatze zu; ich aber, der ich erst mein Besitztum in Sicherheit wissen wollte, stand noch in der Nähe meiner Effekten und sah mich mit sehnsüchtigen Augen nach einem Packträger um. Meine zeitlichen Güter beschäftigten mich so sehr, daß ich erst nach einer Weile einen Menschen am Ufer bemerkte, der, höchst freundlich und, wie es schien, als ein alter Bekannter, mir zurief, zu ihm zu kommen, meine Effekten würden nach dem Custom-House gesendet werden. Ich eilte nun ans Ufer, wo mich der bekannte Unbekannte gleich am Arme faßte und mir versprach, für mich und das Meinige Sorge zu tragen. Der Mensch überhäufte mich so sehr mit Liebkosungen und Freundschaftsversicherungen, daß ich in die angenehmste Verwunderung geriet. Als ich ihn fragte, wann der nächste Zug nach London ginge, erwiderte er, daß wir davon später sprechen würden, ich sollte ihm nur in das Hotel folgen, wo alles zu meiner Erholung und Erfrischung bereit wäre. Er sprach ein sehr schlechtes Englisch, und als ich ihm sagte, daß ich ein Deutscher sei, fing er an, seine Freundschaftsversicherungen gegen mich in ein noch schlechteres Deutsch zu übersetzen.
Kaum hatte ich fünfzig Schritte an seinem rechten Arme zurückgelegt, als ein anderer Mensch mit sprudelnden Freundschaftsbeteuerungen auf mich zustürzte, mich am andern Arme faßte und feierlich schwur, aufs beste für mich sorgen zu wollen. Als ich ihm sagte, daß mein hochachtbarer Freund am rechten Arme die menschenfreundlichste Sorge um mich bereits übernommen, erwiderte er, daß ich keiner falschen Freundschaft leichtgläubig trauen sollte, zog mich näher an sich und drückte sich an mein Herz. Das konnte mein Freund 200 am rechten Arme nicht stillschweigend hingehen lassen. Er beschwor mich bei allem, was allen heilig ist, nicht auf einen Heuchler zu hören, dessen überzuckerte Redensarten nur dazu dienten, den harmlosen Wanderer in verderbliche Netze zu locken, und zog mich heftig an sich; worauf aber der Freund an meinem linken Arme mich noch heftiger an sich zog.
Dieses Hin- und Herziehen wurde immer lebhafter, und bald wurde ich von dem Freundschaftsfieber der beiden Menschen so gewaltig geschüttelt, daß es mir um meine Gelenke bange ward. Meine Schmerzen zu vermehren, kam nach einigen Minuten ein Dritter hinzu, der die beiden ersten an Heftigkeit der Zuneigung gegen mich weit übertraf. Da ich keine Arme mehr zur Verfügung hatte, faßte er mich an der Brust, machte mir die bittersten Vorwürfe, daß ich mich mit den zwei Menschen eingelassen, die mich auf Abwege führen wollten, und beschwor mich, die Augen zu öffnen, ehe es zu spät sei, und ihm, dem wahren, dem aufrichtigen Freunde zu folgen. Er gebärdete sich dabei sehr heftig gegen die beiden anderen, welche mich jetzt noch fester an den Armen hielten. Es entstand nun ein lebhaftes Dreigespräch zwischen ihnen, und während ich sie umsonst bat, mir ihre schätzbare Freundschaft zu entziehen und mich der Freiheit wiederzugeben, kam ein Vierter, faßte mich von hinten an den Rockschößen und versicherte, indem er seinen Kopf auf meine Schultern legte und mir mit seinem borstigen Backenbarte das Gesicht aufkratzte, daß ich unfehlbar meinem Verderben entgegengehen würde, wenn ich mich nicht sogleich von den drei Verführern losrisse; sie trügen Honig auf der Zunge und Galle im Herzen; er hingegen sei ein Feind von süßen Worten und schönen Redensarten, 201 und ich sollte ihm vertrauen und ihm in ein Gasthaus folgen, wo ich wie im Schoße meiner eigenen Familie sein werde.
Die drei Freunde warnten mich nun ihrerseits vor dem Vierten, den ich nicht sehen konnte, da er mir seine Freundschaft sozusagen meuchlings aufdrang. Er befand sich hinter meinem Rücken und ließ, trotz der Anstrengung der übrigen, ihn zu verdrängen, meine unglückseligen Rockschöße nicht los. Ich wurde nun von diesen Menschen nach allen vier Himmelsgegenden gezogen. Kaum hatte mich ein Freund nach Osten gezerrt, so schob mich der andere nach Westen; und während mich der Dritte nach Norden riß, suchte der Vierte mich rücklings nach Süden zu schleppen. Ich fürchtete ernstlich, von dieser fanatischen Freundschaft gevierteilt zu werden, und kam auf den Gedanken, es müßte mir eine Zauberin bei meiner Landung in England eine unwiderstehliche Grazie verliehen haben, die jedermann unwillkürlich in meine Nähe ziehe, um mir sklavisch zu dienen.
Die Zudringlichkeit wurde mir indessen doch zu arg, und ich fing einen Kampf auf Tod und Leben mit den vier Quälern an. Bald sah ich auch, daß es keineswegs meine zauberische Anmut war, welche mir die vier zudringlichen Freunde an den Hals gezogen; ich gewahrte nämlich, als ich mich von ihnen losriß, einige Schritte von mir meine zwei Reisegefährten, den Herrn Poitevin und den Stallmeister, von einem ganzen Haufen solcher dienstfertigen Menschenfreunde umgeben und vergebens bemüht, sich aus dem Knäul herauszuarbeiten. Bald flossen meine Freunde mit denen meiner Reisegefährten wie zwei Tintenkleckse in einen zusammen, und nun war gar keine Hilfe mehr zu hoffen. 202 Wenigstens zwei Dutzend Hände hatten uns nun gefaßt und zerrten uns nach den verschiedensten Gasthäusern. Da kam ich endlich auf den glücklichen Gedanken, die Asche der Zwietracht, die in dem Busen unserer Nebenbuhler bereits tückisch glimmte, zur lichten Lohe anzufachen. Ich hetzte durch gleißnerische Worte einen gegen den andern und sah bald meinen Zweck vollkommen erreicht. Nachdem sie sich einige Minuten die heftigsten Grobheiten ins Gesicht geworfen, warfen sie sich die Fäuste ins Gesicht, und es entstand ein Monstreboxen, währenddessen meine beiden Reisegefährten und ich das Weite suchten.
Wir flohen ins Custom-House und dankten dem Schicksale für unsere Rettung. Poitevin bemerkte, er wolle eher auf einem Besenstiele in die Wolken reiten, als noch einmal in die Hände solcher zudringlichen Menschen geraten; der Stallmeister aber bemerkte gar nichts, sondern brummte in den Bart und ordnete seinen Anzug, der im Kampfe gegen die Menschenfreunde aus den Fugen gegangen war.
Die enge Flur des Custom-House war von Reisenden gefüllt, die auf die Untersuchung ihrer Effekten harrten. Die Türe des Saales, in welchem die Untersuchung vorgenommen wird, war von innen verschlossen und wurde nur immer geöffnet, wenn eine gewisse Anzahl Reisender abgefertigt war. An der innern Seite dieser Türe war ein hölzerner Schieber, der von einem im Saale sich befindenden Wärter aufgeschoben wurde, sobald er eine neue Anzahl Harrender einzuladen hatte. Ich wollte gerne mit dem nächsten Zuge nach London abreisen und drängte mich mit vielen anderen, die ebenso klug waren wie ich, an die verhängnisvolle Türe, um schneller abgefertigt zu werden; ich hörte 203 aber bald zu meinem Schrecken, daß von den Zollbeamten die reisende Menschheit in zwei Klassen geteilt würde, in eine Klasse, die nur ein einziges Stück Bagage, und in eine andere, die deren mehrere besitzt. Die erste Klasse werde zuerst abgefertigt. Da ich nun leider zwei Koffer und ebensoviel Nachtsäcke und noch obendrein eine lederne Hutschachtel alten Stils besaß, so gehörte ich zur zweiten Klasse und mußte warten. In meiner Ungeduld verfluchte ich meinen ledernen Reichtum und ward von giftigem Neid erfüllt gegen das lumpige einpackige Geschlecht, das mir nun den Rang abgewinnen sollte. »Ach, was wir Besitzenden nicht alles zu leiden haben!« dachte ich und biß die Zähne grimmig zusammen.
Über eine Stunde harrte ich vor dem hölzernen Schieber. Einer nach dem andern wurde abgefertigt und konnte seiner Bestimmung nachgehen; nur ich hatte noch keine Aussicht auf Erlösung. Ich knirschte mit den Zähnen und verzweifelte schier in dem drückenden Bewußtsein meiner Koffer und Nachtsäcke. Endlich, nach zwei Stunden entsetzlichen Harrens, wurde ich in den Saal eingelassen. Ich war der letzte, dessen Effekten untersucht wurden. Hastig öffnete ich nun die Kerker, in denen meine Schätze schmachteten; als ich aber die Nachtsäcke entriegeln wollte, sah ich zu meinem Schrecken, daß sich nur einer davon vorfand. Der schönere, der bessere fehlte. Ich geriet in heftigen Zorn; ich stampfte mit den Füßen und ballte die Fäuste. So verzweiflungsvoll lief Ceres nicht nach der geraubten Tochter herum, als ich im Saale des Custom-House nach meinem entführten Nachtsacke lief. Aber er war nicht zu finden. Endlich kam einer der Wärter auf den Gedanken, er, mein Nachtsack nämlich, müßte 204 irrtümlicherweise unter die Nachtsäcke des Prinzen geraten sein. Zu gleicher Zeit erfuhr ich, daß der Prinz, trotz seines unzähligen Gepäckes, dennoch zuerst abgefertigt worden. Ach, vor Prinzen beugt sich das Gesetz in jedem Lande, und die Justiz ist immer blind, wenn eine Durchlaucht haben will, daß sie nicht sehen soll. Aber ich muß gestehen, daß dieser Umstand gerade keinen sonderlich günstigen Eindruck in bezug auf die Beamten des freien Albions auf mich hervorbrachte.
Es wurde nun ein Eilbote an Seine Durchlaucht gesendet, während ich in banger Erwartung dasaß und mit außerordentlicher Gewissenhaftigkeit die Scheiben zählte. Endlich kam der Bote mit meinem vermißten Gute zurück. Mein demokratischer Nachtsack hatte sich wirklich unter den legitimen Nachtsäcken des Prinzen befunden. Er wird dort durch seine plebejische Gegenwart einen schönen Schrecken verursacht haben!
Fast drei Stunden waren nun seit meiner Ankunft in Dover unter Sorgen und Mühen, unter Verdruß und Aufregung verstrichen. Der letzte Zug nach London war längst abgegangen, und ich war nun genötigt, in Dover zu übernachten.
Müde durch die zwanzigstündige Reise und durch die ausgestandenen Plackereien, ging ich so früh wie möglich zu Bette und fiel bald dem Schlaf in die Arme. Kaum aber hatte mich derselbe in die romantische Welt der Träume geführt, als ich durch einen Dialog im Nebenzimmer zur Linken geweckt wurde. Dieser Dialog war höchst lebhaft, und ich überzeugte mich bald, daß in dem Nebenzimmer ein Drama aufgeführt wurde, das sich weniger durch die Neuheit des Stoffes als durch die Auffassung und Behandlung desselben auszeichnete. Die handelnden Personen waren ein Gatte und seine 205 Gattin. Die Gattin – so erfuhr ich aus dem Dialoge – hatte ihren Gatten verlassen, um in Dover den Mann zu finden, dem sie in Paris ihr Herz geschenkt. Dieser Mann hieß Eduard und war einfältig, schlecht, niederträchtig. So wenigstens hörte ich den Gatten behaupten, dessen Urteil aber in diesem Falle wahrscheinlich nicht kalt genug war, um unbedingten Glauben zu verdienen.
Die Vorbereitungen zur Flucht seiner Gattin blieben ihm nicht verborgen. Er hatte einen Brief aufgefangen, den Eduard an sie gerichtet und in welchem die Zeit zu ihrer Flucht genau bestimmt war. In Dover sollten sich die Liebenden begegnen und dann auf den Fittichen der Liebe, oder ins Unpoetische übersetzt: auf der Eisenbahn, nach London fliegen. Der Gatte (wie zum Hohne hieß er Félix) siegelte den geöffneten Brief so geschickt wieder zu, als wäre er im Schwarzen Kabinett in Wien ein halbes Jahrhundert lang angestellt gewesen; und als er merkte, daß seine Frau nichts merkte, daß er etwas gemerkt habe, sagte er ihr, daß er in Geschäftsangelegenheiten nach Dijon reisen müsse, küßte und umarmte sie, ging nach Dover und wartete dort ihre Ankunft ab, in der grausamen Absicht, einen Liebesbund zu trennen, den er in seiner schlichten Einfalt nicht für berechtigt hielt.
Kaum war Monsieur Félix abgereist, als Madame Félix, keine Arglist wähnend und nicht ahnend, daß auch sie einmal von ihrem Gatten hintergangen werden könnte, Kisten und Kasten mit dem Wertvollsten im Hause füllte und nach Dover ging. In Dover suchte sie den vergebens, den sie zu finden so sicher war, nämlich Eduard, den Geliebten ihres Herzens, sah aber, als sie einige Zeit im Zimmer ihres Hotels war, den, 206 welchen zu sehen sie nicht gehofft oder vielmehr nicht gefürchtet hatte, nämlich Monsieur Félix.
Dies ist die Exposition des Dramas; den Augenblick des Wiedersehens der beiden Ehehälften hatte ich leider verschlafen. Monsieur Félix sagte, daß ihre Untreue ihn gar nicht so schmerzen würde, wenn der Gegenstand ihrer Liebe geistreich oder schön wäre, der Gegenstand ihrer Liebe sei aber keins von beiden, und dies mache ihrem Verstande und ihrem Herzen wenig Ehre und tue ihm wehe, sehr wehe. Madame Félix, an deren Stimme ich meine Reisegefährtin zu erkennen glaubte, die bei der Überfahrt von Calais Correggios büßende Magdalena darstellte, Madame Félix schluchzte, seufzte, weinte und begleitete diese Ausbrüche des Schmerzes häufig mit den dramatischen Worten: Barbare! monstre! traître und Judas! (Der letzte Titel bezog sich wahrscheinlich auf die Küsse, die ihr Gemahl ihr gegeben, als er die verräterische Reise antrat.)
Monsieur Félix hätte den dramatischen Effekt bedeutend verstärken können, wenn er die Ankunft des Geliebten seiner Gattin abgewartet hätte und dann wie ein Donnerwetter zwischen die Szene des Wiedersehens gefahren wäre. Aber erstens schien Monsieur Félix kein dramatisches Talent zu besitzen; zweitens ließ Monsieur Eduard, wahrscheinlich durch einen Vorfall aufgehalten, auf sich warten, statt in banger Sehnsucht am Hafen zu Dover die Ankunft seiner Geliebten erwartet zu haben, und endlich drittens liebte Monsieur Félix die Madame Félix zu sehr, um mit ihr zu brechen. Ach, wieviel Weiber gibt's doch unter uns Männern!
Madame Félix schluchzte, seufzte und weinte solange und rief sooft barbare, monstre, traître und Judas, bis 207 Monsieur Félix die Madame Félix förmlich um Verzeihung bat. Diese ließ sich aber nicht so leicht erweichen, und erst nach seinen wiederholten Bitten und nach heißem Flehen und nach den feierlichsten Versicherungen, das Briefgeheimnis künftig mehr zu achten, nahm sie ihn wieder in Gnaden auf und versprach, am folgenden Morgen mit ihm nach Paris zurückzukehren.
Mich ließen meine gemischten Empfindungen nach dem friedlichen Schlusse des Dramas im Nebenzimmer nicht schlafen. Ich schäumte vor Wut über das Hornvieh Félix, und erst nachdem ich meinen Zorn an den unschuldigen Kopfkissen ausgelassen und mir dabei an der Kopflehne des Bettes fast das linke Auge ausgestoßen, gab ich mich sanfteren Regungen hin und fühlte einen überaus süßen Trost in meinem ehelosen Dasein. Nicht um die Welt hätte ich in diesem Augenblicke verheiratet sein mögen.
Nach einer langen konfusen Gedankenkritik über das von meiner Wandnachbarschaft aufgeführte bürgerliche Schauspiel und über die Ehe im allgemeinen schlief ich endlich ein. Am andern Morgen hatte ich zum ersten Mal den Vollgenuß einer englischen Gasthofrechnung. Die Augen gingen mir über, als ich die spitzbübischen Zahlen auf dem Papiere sah. Jede Ziffer war ein Todesschreck für meine nervenschwache Börse. Mit blutendem Herzen zahlte ich die Rechnung und hatte in meiner Zerknirschung nur die schöne Beruhigung, daß ich nicht das einzige Opfer dieser Beutelschneiderei war. Meinen Reisegefährten war es nicht besser, ja einigen von ihnen war es noch viel schlimmer ergangen.
Wir überzeugten uns bald, daß die Gastwirte in Dover mit den dortigen Zollbeamten in einem geheimen 208 Einverständnis stünden und daß von diesen die Reisenden absichtlich aufgehalten würden, damit sie in Dover übernachten müssen.
Und doch mußte jeder von uns, dem nur ein bißchen Frömmigkeit im Herzen schlummerte, dem Schöpfer danken für die Rettung aus einer großen Gefahr, die uns bevorstand. Wären wir nämlich eine Stunde später in Dover angekommen, so würde man uns an demselben Tage nicht mehr untersucht haben, und da der folgende Tag ein Sonntag war, so hätten wir vielleicht bis Montag in Dover warten müssen und wären samt und sonders eine Beute der dortigen Gastwirte geworden.
Um sieben Uhr morgens verließ ich Dover und langte um die Mittagsstunde in London an.