Ludwig Kalisch
Paris und London
Ludwig Kalisch

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Ein Besuch in Bethlem

»Das ist Bedlam!« rief mein Freund, ein junger Arzt, als wir vor einem palastähnlichen, in der Mitte eines Gartens liegenden Gebäude standen. Mein 274 Freund zog die Schelle, und bald trat ein junger Pförtner aus dem nahe am Gartengitter stehenden Häuschen und öffnete die schwere eiserne Türe. Wir schritten nun durch den höchst freundlichen Garten, dessen Rasenplätze, trotzdem daß wir tief im Winter lebten, so frisch, so smaragden waren, als ob sie von den Strahlen der Maisonne erwärmt gewesen.

Je mehr wir uns dem Gebäude näherten, desto imposanter schien es uns. Es besteht aus einem mit einer Kuppel versehenen Mittelbau und zwei langen Seitenflügeln. Den Eingang bildet ein von sechs ionischen Säulen getragener Portikus, der in die geräumige Vorhalle führt. Man kann sich nichts Freundlicheres denken als diese Vorhalle, und wenn man in derselben nicht die zwei plastischen, den Wahnsinn und die Melancholie vorstellenden Figuren sähe, so würde man gewiß nicht glauben, sich in einer Anstalt zu befinden, wo die Opfer des fürchterlichsten Siechtums nachtumhüllte Tage verbringen.

Wir traten in den Wartesaal, und während der Diener dem Arzte der Anstalt die Karte meines Freundes brachte, blätterten wir in dem Fremdenbuche. Auf dem ersten Blatte, das uns in die Augen fiel, lasen wir die Namen des Feldzeugmeisters Haynau, des Professors Mittermaier und des nepalesischen Prinzen Dschang Bahadur. Die Unterschrift dieses Prinzen, der in London und Paris weniger durch seinen interessanten Kopf als durch seine unschätzbare Kopfbedeckung außerordentliches Aufsehen erregte, konnten wir nicht lesen, da sie in indischen Charakteren geschrieben war; aber man hatte nicht vergessen, sie mit einer Übersetzung und einem kleinen Kommentar zu begleiten. Neben diesem Buche lag ein anderes, das für Bemerkungen 275 über die Anstalt bestimmt ist. Englische und auswärtige Ärzte, Gelehrte und Künstler hatten es nicht an lobenden Bemerkungen fehlen lassen. Manche derselben waren geistreich, und viele wollten es sein. Während wir Bemerkungen über die Bemerkungen machten, kam der Arzt, ein junger, freundlicher Mann mit einer offenen, ansprechenden Physiognomie, und nach einer kurzen Unterhaltung übergab er uns einem Diener, dem wir nun folgten.

Wir erfuhren bald, daß das Gebäude, das jetzt eine Länge von fast sechshundert Fuß hat, erst im Laufe der Zeit allmählich herangewachsen, bis es diese Ausdehnung gewonnen, durch welche es imstande ist, vierhundert Individuen aufzunehmen. Der eine Flügel ist für weibliche, der andere für männliche Patienten bestimmt. Die Leidenden sind in drei Klassen eingeteilt. Die erste Klasse, die Wütenden und Bösartigen, wird in den Erdgeschossen gehalten; die zweite Klasse, aus Neuangekommenen, aus gewöhnlichen Patienten und aus solchen bestehend, deren gebesserter Zustand eine Entfernung aus dem Erdgeschosse möglich gemacht, befindet sich im zweiten Stocke, und im dritten Stocke sind diejenigen, welche die meiste Hoffnung auf völlige Genesung darbieten. Der dritte Stock im Mittelbau ist für jene Unglücklichen bestimmt, deren Zustand unheilbar ist.

Wir besuchten zuerst den für männliche Patienten bestimmten Flügel. Er besteht aus drei übereinanderliegenden Korridors, an deren einen Seite sich eine Reihe von Zellen hinzieht, und zwar so, daß die Türen derselben sich den Fenstern der Korridors gegenüber befinden. Die Zellen sind mit einem nahe an der Decke angebrachten kleinen Rundfenster versehen, das nur 276 ein sehr spärliches Licht einläßt. Sie machen einen sehr düstern Eindruck. Desto freundlicher sind die Korridors. Sie haben eine Länge von mehr als zweihundert Fuß und bilden den gemeinschaftlichen Aufenthalt der Kranken, die in gleichem Stadium des Seelenleidens sich befinden. Die Fenster der Korridors sind an der Südseite und, wie bereits erwähnt, den Zellentüren gegenüber angebracht, so daß die langen Gänge ein heiteres Licht erhalten.

Nachdem wir einige Korridors zurückgelegt und mit den trübsten Empfindungen jene Unglücklichen betrachtet hatten, die einsam und schweigend sich ergingen, näherte sich uns, als wir die Treppe hinabgehen wollten, ein Mann von mittleren Jahren mit den Worten: »Vous êtes Français, Messieurs?« und fügte dann schnell hinzu: »Oder sind Sie etwa Deutsche? Ich bin ein Deutscher. Ich spreche alle Sprachen, Französisch, Englisch, Spanisch, Italienisch, Polnisch, Russisch, Türkisch und alle übrigen. Ich habe lateinische und griechische Wörterbücher herausgegeben; aber der Prinz Albert hat mich in diese Anstalt geschickt. Verwenden Sie sich doch für mich beim Professor B. . . .Er ist mein Freund und kennt mich gut. Die ganze Welt kennt mich. Ich bin der Doktor P. . . ., rühmlichst bekannt als Verfasser lateinischer und griechischer Wörterbücher.«

Der Unglückliche, dessen Namen ich aus Pietät nicht nennen mag, ist, wie wir bald erfuhren, wirklich ein Gelehrter. Er hat mehrere Werke dem Prinzen Albert zugeschickt; dieser aber hat keine Notiz davon genommen. Ob jene Werke schon Produkte eines verbrannten Gehirnes waren, weiß ich nicht; genug, der bemitleidenswerte Doktor spricht stets von dem Prinzen Albert und hofft, daß sich dieser endlich für ihn 277 interessieren würde. Er ist der einzige Deutsche in der Anstalt. Ich kann nicht sagen, welche schmerzlichen Gefühle mich bewegten, als ich in diesem Hause des Jammers in unserer Sprache von einem Landsmanne angeredet wurde, dessen Zustand der Art ist, daß er nur in der Stunde des Todes die Stunde der Genesung erleben wird.

Gewaltsam rissen wir uns von ihm los; aber noch auf der untersten Stufe der Treppe hörten wir seine nachrufende Stimme.

Bald gelangten wir an eine andere eiserne Gittertüre. Unser Begleiter zog die Schelle und übergab uns dem öffnenden Aufseher, der uns durch den Gang führte. Auf diesem Gange war ein eigentümliches Leben rege. An dem langen Tische, der in der Mitte desselben stand, waren mehrere mit verschiedenen Handarbeiten, mit Nähen, Häkeln und Flechten von Bändelschuhen beschäftigt. Ich sprach mit einigen von ihnen, und sie gaben mir sehr artige und vernünftige Antworten. Ein etwas ältlicher Mann klöpfelte Spitzen, und zwar mit einer bewundernswürdigen Gewandtheit. Ich fragte ihn, ob ihn diese Beschäftigung nicht ermüde, worauf er mir in freundlichen Worten versicherte, daß im Gegenteile diese Arbeit ihm zur Erholung gereiche. Während diese am Tische arbeiteten, ergingen sich andere auf der andern Hälfte des Korridors. Unter ihnen war mir gleich beim Eintreten ein junger, bleicher Mann mit einer hohen Stirne, einem feingeschlitzten Munde und einer gewissen stolzen Haltung aufgefallen. Er ging mit raschen Schritten auf und ab und stach durch ein gewisses Etwas sehr vorteilhaft von seinen Leidensgefährten ab. Ich fragte den Aufseher um Auskunft über diesen Unglücklichen.

278 »O das ist ein Gentleman, Sir«, antwortete der Wärter, »ganz und gar ein Gentleman; er ist Maler und liefert sehr hübsche Werke.«

Und mit diesen Worten holte er aus einer Fensternische ein auf einen Rahmen gespanntes Stück Leinwand herbei und sagte uns, daß die darauf gezeichnete Skizze für ein neues Bild bestimmt sei, das der unglückliche Künstler bald ausführen wollte. Die Skizze war mit einem sehr feinen Bleistifte angelegt, so daß mir die Komposition als Ganzes nicht klar werden konnte. Ich sah nur einen hohen, zackigen, von tiefen Schluchten zerrissenen Berg, auf dessen Gipfel ein alter König stand. Die Krone auf dem Kopfe, das wilde Gelocke dem Zorn der Stürme preisgebend, schaute der greise König hinab ins Tal. Sein Inneres schien ebenso zerklüftet wie der Felsengipfel, auf dem er stand. Auf einigen Stufen des Berges befanden sich Gruppen, die aber so dünn angelegt waren, daß ich ihre Bedeutung in der Komposition nicht zu erkennen vermochte. Die Hauptfigur aber, der König nämlich, war ganz vortrefflich gezeichnet.

Der Wärter sagte uns, als wir mit gesteigertem Interesse uns nach den näheren Schicksalen des Künstlers erkundigten, daß dieser, ein sanfter, in jeder Beziehung gebildeter junger Mann, in einem Anfalle wilden Wahnsinns seinen Vater ermordet. Ich schauderte, als ich dies hörte. Welch ein gräßliches, welch ein entsetzliches Los! Welche furchtbare Laune des Geschicks, die den harmlosesten Menschen zum unschuldigen Werkzeuge des schwärzesten Verbrechens wählt, das reinste und edelste Herz mit Furien bevölkert und mit unbarmherziger Faust die herrlichsten Geistesblüten zerpflückt!

279 Der Aufseher, der doch durch seinen Beruf ziemlich abgestumpft für die Leiden der ihm anvertrauten Patienten sein mußte, sprach von ihm mit einer auffallend lebhaften Teilnahme. Der Künstler hat oft lichte Augenblicke, in denen er sich mit aller Wärme seiner Kunst hingibt. Was aber mag er in solchen Augenblicken denken und empfinden?

Als wir unsern Rückweg durch den Korridor antraten, blieb ich eine Weile an der Ausgangstüre stehen und betrachtete den auf und ab gehenden Künstler. Ich war so sehr mit ihm beschäftigt, daß ich den alten Mann nicht merkte, der in dem durch die offene Türe gebildeten Winkel auf den Knien herumrutschte und mit ihnen etwas auszumessen schien.

»Wer ist der alte Mann?« fragte ich den Wärter.

»Er ist bereits fünfundzwanzig Jahre in der Anstalt«, antwortete dieser; »er hat seinen Bruder umgebracht«, flüsterte er mir dann ins Ohr.

Der Bejammernswerte ist im Irrenhause ergraut. Stundenlang rutscht er auf den Knien herum, das Grab ausmessend, in welches seine mörderische Faust den Bruder gebracht.

Wiederum rasselten die Schlüssel, und dröhnend schloß sich die eiserne Türe. Wir gingen die Treppe hinab, und bald befanden wir uns in dem untersten, für die gefährlichsten Individuen bestimmten Geschosse. Ein hochstämmiger, breitschulteriger Wärter empfing uns hier und führte uns durch den düstern, nur spärlich beleuchteten Gang, der ziemlich belebt war. In diesem Geschosse sind nicht nur die gefährlichsten Geisteskranken, sondern alle, die des Versuchs des Königsmordes sich schuldig gemacht. Von diesen befanden sich einige auf dem Gange; der Wärter 280 wollte sie uns aber nicht zeigen. Es herrscht nämlich in der Anstalt die schöne Pietät, daß dem Besuchenden kein Name irgendeines Individuums in der Anstalt genannt wird. Der Wärter sagte uns übrigens leise ins Ohr, daß die anwesenden Hochverräter nichts weniger als geisteskrank wären. Welche furchtbare Tage müssen diese Menschen hier verbringen! Wie langsam müssen ihnen die Stunden hinschleichen in dieser Behausung, wo Kopf und Herz in schrillenden Dissonanzen sprechen, wo das Lachen herzzerreißender als die Seufzer und das Leben nur atmender Tod ist!

Ich weiß nicht, ob diese Verurteilten nicht endlich auch eine Beute des Wahnsinns werden; gewiß aber gehört viel Verstand dazu, um ihn nach langem Aufenthalte unter Geisteszerrütteten nicht zu verlieren.

Als wir den Gang verließen, folgten uns die Blicke einiger Männer, denen ich ein vollkommenes Bewußtsein anzusehen glaubte. Ich richtete einen fragenden Blick auf den Wärter, und dieser nickte bejahend mit dem Kopfe.

Wir hatten jetzt den für Leidende männlichen Geschlechts bestimmten Flügel mit der Küche, den Bädern, den Gesellschaftszimmern und der Kirche gesehen. Die Kirche, ein niedlicher Saal, ist durch eine Wand in zwei Abteilungen getrennt, von welchem die eine für die Frauen, die andere für die Männer bestimmt ist. Beide Geschlechter dürfen sich nirgendwo in der Anstalt sehen.

Wir wurden nun durch einen schönen, weiten Hofraum geführt, der den Patienten als Erholungsplatz dient. In der Mitte dieses Hofes sind Bänke angebracht mit einer breiten Überdachung, die hinlänglichen Schutz gegen einbrechenden Regen gewährt. Unter den 281 Kranken, die in diesem Hofe sich befanden, fiel mir ein junger Mann mit sehr feinen Zügen auf. Er lächelte beständig und bewegte leise die Lippen. Er hatte Philosophie studiert, und zwar mit einem Eifer, dem sein Geist früher als sein Körper unterlag. Der Unglückliche! Er hatte sich vermessen, den Schlüssel zu den Geheimnissen des Weltgenius zu finden; er hat den Urgeist in seiner Werkstätte belauschen und das ewig Unerfaßliche erfassen wollen! Und nun stand er in einem engen Winkel von Bedlam, eine Satire auf sich selber. Es lag etwas Ironisches in seinem Lächeln, das zu sagen schien: »Ihr blickt in hochmütigem Mitleiden auf mich, wie Millionäre auf einen an eine Straßenecke geduckten Bettler blicken. Seid nicht so hochmütig! Es ist niemand, der in philosophische Spekulationen sich einläßt, vor einem geistigen Bankrotte sicher. Und bin ich auch der einzige Philosoph in Bedlam, so sind doch gar viele außerhalb Bedlams, die meine Gefährten hier zu sein verdienten.«

Nachdem wir den Hof durchschritten, befanden wir uns in einer Halle, die zu verschiedenen Korridors für die weiblichen Patienten führt. Der Wärter übergab uns hier der Führung einer Aufseherin, einer bejahrten, hagern Matrone. Sie zeigte uns zuerst mehrere Arbeitszimmer, wo wir verschiedene Gruppen jüngerer und älterer Frauen mit Nähen, Sticken und Stricken beschäftigt fanden. Wir grüßten höflich, fanden aber unsern Gruß nicht erwidert. Keine der Anwesenden würdigte uns eines Blickes. Hierauf sahen wir das Gesellschaftszimmer, in dessen Mitte ein großer runder Tisch stand, auf welchem verschiedene Bücher lagen; unter diesen bildeten Walter Scotts Romane die größere Hälfte.

282 Als wir sodann in einem der Korridors die Zellen betrachteten, bemerkten wir in einer derselben eine große, stattlich gekleidete Puppe auf dem Bette liegen. Wir wollten eben unsere Führerin nach der Bedeutung dieser Puppe fragen, als die Bewohnerin der Zelle, eine Fünfzigerin, aus dem anderen Ende des Korridors herbeieilte und, uns vom Bette und aus der Zelle drängend, hastig rief: »Was geht mein Kind euch an? Laßt mein gutes, mein liebes Kind in Ruh! Niemand soll mein Kind anrühren, niemand!«

Nachdem wir die Zelle geräumt, ging sie ans Bett, küßte und umarmte die Puppe und deckte sie sorgfältig zu; dann begleitete sie uns, in einem Zustande heftiger Aufregung unverständlich vor sich hinmurmelnd, durch den langen Gang. Sie ging an meiner Seite, und ich muß gestehen, daß es mir in ihrer Gesellschaft höchst unheimlich ward. Die Bejammernswerte! Der Verlust ihres einzigen Kindes hat ihren Geist in ewige Nacht gehüllt. In der Puppe sieht sie ihr teueres Kind, dem sie die unermüdlichste Sorgfalt widmet, dem sie die zarteste Pflege angedeihen läßt. Wilder Wahnsinn tobt in ihrem Kopfe; aber er konnte aus ihrem Herzen nicht die Mutterliebe reißen, jene heilige, nie erkaltende Liebe, die an der Wiege uns anlächelt und deren wir am Rande des Grabes, nach einem Leben voll bitterer Täuschungen und trügerischer Hoffnungen, in kindlicher Rührung, mit feuchter Wimper gedenken. Heilige Mutterliebe! In diesem Leben voll Schein und Trug bist du die einzige Wahrheit, die keinen Zweifel zuläßt, die einzige Leidenschaft, deren reine Flamme nur mit dem Leben selbst erlischt.

Erst am entgegengesetzten Ende des Ganges verließ 283 uns die Unglückselige. Hier sahen wir in einer offenstehenden Zelle eine bejahrte, äußerst sorgfältig gekleidete Frau. Sie erwiderte unsern Gruß mit einer Verbeugung und drückte die Hand der Wärterin aufs herzlichste. Diese knüpfte ein Gespräch mit ihr an, und jene äußerte sich so besonnen, so vernünftig, daß niemand in ihr eine unter Aufsicht stehende Bewohnerin Bedlams entdeckt hätte. Ihre Sprache hatte etwas Gutmütiges, Überzeugendes; so wie denn in ihrem Gesichte sich die ungetrübteste Herzlichkeit und Sanftmut kundgaben. Und diese Frau hatte einen Mord begangen! Vor mehr als zwanzig Jahren hatte sie in einem Anfalle schrecklichen Wahnsinns ihren Gatten erdrosselt. Seit jener Zeit lebt sie in der Anstalt. Sie hat ein harmloses, liebenswürdiges Naturell; aber von Zeit zu Zeit wird sie wie von finsteren Dämonen gefaßt, und dann muß sie sorgfältig bewacht werden. Ihr Zustand ist der Art, daß sie nur auf der Bahre die Schwelle Bethlems verlassen wird.

Wir fragten unsere Führerin, ob sie, die sie doch so schmächtig und schwächlich aussähe, genug körperliche Kraft für ihr schweres Amt habe. Sie antwortete uns, daß Energie, fester Wille und besonders Geistesgegenwart die körperliche Kraft vollständig zu ersetzen imstande wären; sie sei übrigens nicht so schwach, wie sie aussähe. Wir hatten bald Gelegenheit, uns von der Wahrheit dieser letzten Behauptung vollkommen zu überzeugen. Als wir uns nämlich einige Minuten später vor der zu den Zellen des Erdgeschosses führenden Gittertüre befanden, sahen wir ein junges, etwa achtzehnjähriges Mädchen, das uns unbemerkt gefolgt war und nun zu der bereits geöffneten Türe sich einschmuggeln wollte. Die Aufseherin verwies es ihr und gebot 284 ihr, wieder in den Hof zurückzukehren. Sie weigerte sich und klemmte sich hartnäckig in unsere Mitte. Da wurde sie von unserer Führerin an den Armen gefaßt, schnell hinweggedrängt, und als sie sich wieder der Türe nähern wollte, hatte sich diese wieder geschlossen. Das Mädchen, ein hübsches Kind, dessen dunkelblauem Auge der stille Wahnsinn einen eigentümlich reizenden Ausdruck verlieh, lehnte das Köpfchen an die Stäbe der Gittertüre und sah uns weinend nach. Ich hatte Mitleid mit dem armen Kinde und bemerkte es der Aufseherin. Diese aber äußerte, daß man in bezug auf Disziplin in solchen Anstalten kalt und eisern sein müsse. Sie sagte dies mit einem tiefen Seufzer. Die arme Frau, die vor kurzem ein teueres Familienglied verloren zu haben schien, erregte mein lebhaftestes Mitgefühl; denn nicht nur ihre Kleider, sondern auch ihre Züge verrieten die tiefste Trauer. Wir folgten ihr schweigend durch den düstern Gang, wo die Unglücklichsten der Unglücklichen weilen, jene Leidenden nämlich, in denen der Wahnsinn sich am ungestümsten äußert.

Neue Jammergestalten. Neue Szenen furchtbaren Menschenelends! Soll ich den Leser mit Schilderungen derselben peinigen?

Nachdem wir diesen Gang durchschritten und den weiten, für die Leidenden weiblichen Geschlechts bestimmten Hofraum gesehen, übergab uns die Aufseherin dem Diener, der uns an den Wartesaal zurückbegleitete.

Die jetzige Organisation der Anstalt datiert vom Jahre 1816. Bis zu jener Zeit soll sie mehr einem Zuchthause für die grausamsten und verworfensten Verbrecher als einem Asyle für die Heilung unglücklicher 285 Wesen, welche die menschenfreundlichste Rücksicht am meisten verdienen, ähnlich gesehen haben. Die Mißbräuche, die im Laufe der Zeit in Bethlem (das ist der richtige Name der Anstalt) sich eingeschlichen, waren so empörender Art, daß sie endlich die Aufmerksamkeit des Parlaments erregten und dieses eine Kommission zur Untersuchung der Übelstände wählte. Die Mitglieder jener Kommission wurden bei ihrem Besuche in Bethlem von den furchtbarsten, von den abscheulichsten Szenen erschreckt. Sie fanden halbnackte, durch schwere Eisenfesseln zusammengekettete Menschen, die, scheußlichen Gerippen ähnlich, dergestalt an die feuchte Mauer gekettet waren, daß sie kaum von der schmutzigen Pritsche sich erheben konnten und in Wutanfällen sich gegenseitig zerfleischten. Sie sahen Frauen, deren ganze Kleidung aus einem zerrissenen Bettlaken bestand, in fensterlosen Zellen auf faulem Stroh gebettet, die zarten Glieder von Eisenbanden wundgerieben. Sie erfuhren zu ihrem Entsetzen, daß oft mehrere Monate vergangen waren, ohne daß die Anstalt von irgendeinem Arzte besucht worden und daß der Arzt selbst häufig in einem Zustande unbestreitbaren Wahnsinnes sich befand. Die Kunde von diesen Greueln erregte allgemeine Entrüstung, und die Anstalt wurde bald Gegenstand der umsichtigsten Sorgfalt. Seit jener Zeit erfuhr sie die mannigfachsten Verbesserungen, wie die Humanität und der Fortschritt der Wissenschaft sie gebieterisch forderten.

Auffallend war mir's bei meiner Wanderung durch die Anstalt, die Leidenden fast ohne Ausnahme so still und ruhig zu finden. Ich sah keinen einzigen Rasenden unter den Hunderten; ja, bei weitem der größte Teil sprach kaum ein Wort, so daß ich nicht umhinkonnte, 286 meinen Freund, der, wie bereits erwähnt, selbst Arzt ist, um Aufschluß darüber zu bitten. Mein Freund schrieb es, wenn ich mich so ausdrücken darf, dem Nationalcharakter zu. Er sagte, daß er dieselbe Bemerkung gemacht und nach genauen Beobachtungen in englischen Irrenhäusern erfahren, daß der englische Wahnsinn gleichsam besonnener sei als der deutsche oder französische. Der Arzt der Anstalt, der uns am Wartesaal begegnete, nahm keinen Anstand, die Ansicht meines Freundes zu bestätigen. Er sagte, daß ihm jeder Ausländer, der die Anstalt besuchte, die Verwunderung über die Ruhe selbst der aufgeregtesten Patienten ausdrückte. Der Grund dieser Erscheinung sei wohl zum Teil in der sorgfältigen Pflege zu suchen, deren sich die Leidenden in dieser Anstalt erfreuen, besonders aber in dem phlegmatischen Temperamente der Engländer.

Wir empfahlen uns dem freundlichen liebenswürdigen Arzte und verließen das Haus. Das Wetter war ungewöhnlich schön. Die Sonne, eine seltene Erscheinung in London, blickte so klar und heiter auf die Erde, als ob auf derselben kein Jammer wäre, kein Elend, das in tausenderlei Gestalten tausendfach das Herz des armen Sterblichen zerfleischte. Erschüttert von den düstern Eindrücken, die ich im Laufe einer Stunde empfunden, duckte ich mich in den Winkel eines Omnibus und richtete eine Frage an das Schicksal, jene alte Frage, warum dem armen Menschen soviel unnennbares, soviel unverdientes Leid zugemessen ward.

Unnütze Frage! Die Erde dreht sich vor wie nach um die Sonne; es wechseln die Tage und die Jahreszeiten und die Menschengeschlechter, und nach vielen Jahrtausenden wird der Kreislauf der Dinge nicht aufhören. Der Mensch wird immer noch das Schicksal um 287 Aufschlüsse über das große Rätsel seines Daseins und seiner Bestimmung fragen; aber das Schicksal wird das furchtbare Schweigen nicht brechen.

 


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