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Das Gymnase ist zwar kein klassisches Theater, das heißt, es hat nicht wie das Théâtre-Français und das Théâtre de l'Odéon das Recht, klassische Stücke aufzuführen; es ist aber viel besser als das Odéon und, die Klassik abgerechnet, fast ebensogut wie das Théâtre-Français. Das Gymnase besitzt ein vortreffliches Personal, und die Vorstellungen in diesem Theater sind daher von einer nicht genug zu rühmenden Abrundung.
Die Perle des Gymnase ist Madame Rose Chéri. Madame Rose Chéri hat einen sehr poetischen Namen, der schon manchen, von ihrem Spiel begeisterten, rechtschaffenen Mann zu den himmelschreiendsten Gedichten verleitet hat. Aber sie verdient ihren Namen vollkommen; denn sie ist ein großes, ein vielseitiges Talent. Bei ihr ist nichts Angeborgtes, nichts Affektiertes, nichts äußerlich Angeeignetes. Sie spielt keine Rolle, sie lebt in ihr, und wollte man zwischen ihr und der Mademoiselle Rachel Vergleiche anstellen, so würden diese gewiß nicht sehr zu ihrem Nachteil ausfallen. Ich hatte das Glück, gleich bei meiner Ankunft in Paris Madame Rose Chéri in einer neuen und zugleich in einer ihrer besten Rollen zu sehen, in der Titelrolle der »Graziella«.
»Graziella« ist ein einaktiges, von Barbier und Carré nach einer Episode in den »Confidences« Lamartines bearbeitetes Vaudeville. Graziella ist die Tochter eines Fischers auf der Insel Procida. Sie lebt im Schoße ihrer Familie, von der sie fast angebetet wird, denn sie ist schön, gut, unschuldig und harmlos wie eine Taube. Da kehrt ein fremder Jüngling, ein Franzose, in das 87 Haus ihres Vaters ein. Der Franzose ist schön, lebhaft, geistreich, und sein schwärmerisches Auge entzündet das Herz Graziellas. Sie liebt ihn mit allem Feuer der ersten Liebe, mit allem Feuer, das unter jenem heißen Himmel in dem Herzen der Frauen glüht. Stephan aber – so heißt der Held des Stückes – spielt mit dem Feuer, ohne es zu wissen, und die arme Graziella wird fast verzehrt von dem süßen Kummer, den sie niemandem mitzuteilen wagt. Nun bewirbt sich ein junger, reicher Fischer, Cecco, um ihre Hand. Cecco ist so wacker und bieder, daß selbst die ewige Verleumdung nichts an ihm auszusetzen fände. Graziellas Vater, dem ein Sturm den ganzen Reichtum, seine Fischerbarke, geraubt, fühlt sich daher glücklich, seine geliebte Tochter von einem solchen Manne heimgeführt zu sehen. Die arme Graziella gerät aber dadurch in einen entsetzlichen Kampf. Gehorcht sie ihrem Vater, so muß sie die süßeste Neigung ihres Herzens ertöten; und gibt sie ihrer Neigung nach, so muß sie den Gehorsam gegen ihren Vater verletzen. In diesem Kampf siegt endlich der kindliche Gehorsam. Sie gibt Cecco den Ring, und schon an demselben Abend soll die Hochzeit gefeiert werden. Kaum aber ist sie Ceccos Braut, als sie bei Stephan eine Neigung für sie wahrnimmt. Welches Glück und welche Qual zugleich! In dem Übermaß der Wonne aber, die sie empfindet, als sie an Stephans Liebe für sie nicht mehr zu zweifeln braucht, vergißt sie die Fesseln, durch welche sie an Cecco gekettet ist, und schwelgt einige Augenblicke in den süßesten Träumen. Da naht ein Landsmann Stephans mit Briefen von dessen Mutter, die in Frankreich um den entfernten Sohn in Sorgen lebt und die Einsamkeit nicht mehr ertragen kann. Der Freund Stephans fordert diesen 88 dringend auf, mit ihm die Reise nach dem Vaterlande sogleich anzutreten. Stephan wankt und gesteht, daß ihn die Neigung zu Graziella zurückhalte. Sein Landsmann, ein leichtfertiger Franzose, lacht ihn deshalb aus und sagt, daß Graziella wohl für eine Maitresse, aber nicht für ein Eheweib gut genug sei. Graziella, die dieses Gespräch belauscht, sagt dem Freunde ihres Geliebten, als sie mit ihm allein ist, daß sie fest entschlossen, Ceccos Weib zu werden, und bittet ihn, diesen ihren Entschluß als Geheimnis vor Stephan zu bewahren. Die Hochzeitsglocken läuten, und Graziella geht totenbleich an dem Arme Ceccos in die Kirche. Aber bald stürzt Graziellas Freundin mit der Nachricht herbei, daß die Braut gleich nach der Beendigung der Zeremonie, den Namen Stephans rufend, bewußtlos am Altare niedergestürzt sei. Stephan, der von der Trauung Graziellas nichts gewußt, gerät bei dieser Nachricht außer sich. Nun wird Graziella für tot auf die Bühne getragen. Sie erholt sich zwar, doch nur um einen ergreifenden Abschied zu nehmen von allen, besonders aber von dem, den sie so heiß, so innig geliebt, daß der Gedanke, ohne ihn leben zu müssen, ihr furchtbarer gewesen als der Tod, dessen Schauer ihr Herz durchweht. Sie nimmt nun ein geweihtes Kreuz von ihrer Brust, und mit der Bitte, es zu bewahren und sie nicht ganz vergessen zu wollen, drückt sie ihm noch einmal die Hand und stirbt.
Das kleine Stück ist an sich unbedeutend; aber Madame Rose Chéri macht es bedeutend durch ihr schönes, schöpferisches Talent. Besonders an ihr zu rühmen ist das Maß, das sie in sentimentalen und tragischen Rollen stets zu halten weiß. Ihr widerstrebt jedes falsche Pathos, jede hohle Deklamation. Sie spielt mit 89 Gefühl, aber sie spielt nicht mit den Gefühlen, und sie weiß zu rühren, zu ergreifen, zu erschüttern, weil sie ihre Rolle nicht nur im Kopf, sondern auch im Herzen trägt.
Ist sie nun in tragischen und sentimentalen Rollen vorzüglich, so ist sie im heitern Vaudeville unübertrefflich; und wer sie in der Titelrolle der »Buckligen« von Bayard und Dumanoir gesehen, der wird in ihr sogleich eine denkende Künstlerin ersten Ranges finden.
Außer ihr verdient Madame Melcy genannt zu werden, obgleich sie, was das Talent betrifft, unter ihr steht; man kann aber ziemlich tief unter der Madame Rose Chéri stehen und dennoch gerechte Ansprüche auf lobende Anerkennung haben. Madame Melcy ist ein sehr schönes Weib, und sie besitzt vielleicht die schönsten Augen, die in Paris sehen, und das will wahrlich viel sagen. Man kann sich leicht denken, daß Madame Melcy dies so gut wissen wird als irgend jemand, der sie einmal gesehen. In der Tat ist sie überzeugt, daß das Publikum ganz Auge ist, wenn sie das ihrige auf dasselbe richtet, und sie tut dies daher soviel wie möglich und mehr als mancher Frau lieb ist, die an der Seite ihres Mannes in der Loge sitzt.
Unter dem männlichen Personal sind besonders Tisserant, Ferville und Lesueur zu erwähnen.
Das Gymnase wetteifert mit dem Vaudeville-Theater in der Aufführung reaktionärer Stücke. Die Maske Thalias grinst auch hier beständig die Republik an, wenn auch mit weniger Frechheit. Sie haben diesen Winter hier sehr häufig »Les partageux«, »Les représentants en vacances« und »Un coup d'état« gegeben, lauter Stücke, in denen die Demokratie heftige Rippenstöße kriegt, was aber der Demokratie durchaus nichts 90 schadet. Weder das Vaudeville-Theater noch das Gymnase werden den an der Julisäule verbrannten Thron wieder aus der Asche erwecken.
Im Gymnase wurde zu Anfang des Frühlings, als die ersten Lerchen schwirrten, ein neues Stück aufgeführt, das nicht wenig Aufsehen erregte und eine heftige Polemik in vielen Blättern hervorrief. Das Stück heißt »Héloise et Abélard, ou à quelque chose malheur est bon«. Der Inhalt dieses zweiaktigen Vaudevilles ist folgender:
Mortadella, ein alter, häßlicher, widerwärtiger, geiziger Zahnarzt in Mailand, hat eine junge, schöne, liebenswürdige Haushälterin, die sich Loisa nennt. Als er erfährt, daß Loisa eine reiche Erbin sei, weiß er nichts Besseres zu tun, als ihr seine Liebe zu erklären, und um dieser Liebe den Schein von Aufrichtigkeit zu geben, sich eifersüchtig wie ein Othello zu stellen. In dieser erheuchelten Eifersucht schwört er, de tuer au moins celui qu'elle lui préférait. Aber die junge, schöne, liebenswürdige Loisa hat ein warmes Herz, und es ist daher ganz natürlich, daß sie einem jungen französischen Sänger, Astyanax Robichon, der ihr gegenüber wohnt und ihr telegraphische Liebeserklärungen macht, ihre Neigung schenkt. Astyanax wird das ewige Telegraphieren müde und entschließt sich, die Aufträge seines Herzens seinem reizenden Visavis selbst zu überbringen. Er klettert daher durch ein Fenster in das Haus des Zahnarztes und will sich dort für dessen Pate ausgeben, der von seinem Vater zum Zahnarzte geschickt wurde, damit ihm dieser zwei schlechte Zähne ausreiße.
Loisa, die an den Schwur Mortadellas denkt, gerät in Angst, als sie den kühnen, ungestümen Geliebten in 91 ihrem Zimmer sieht, und sagt ihm, daß ihr Herr in seiner fürchterlichen Eifersucht geschworen, de tuer au moins denjenigen, den sie ihm vorziehen würde. Was bedeutet das mysteriöse au moins? Das gebildete Publikum, das die Geschichte Abälards und Heloisens kennt und genau weiß, was Abälard durch den unglücklichen Ausgang dieser welthistorischen Liebe verloren, ist freilich im klaren und lächelt, je nach dem Grade der Schamhaftigkeit mehr oder minder. Da aber nicht jeder im Publikum Bildung genug hat, um die Details der traurigen Geschichte Abälards genau zu kennen, so bemerkt der junge Sänger in dem Zimmer, in welchem er auf den Zahnarzt wartet, ein altes Buch. Er schlägt es auf und findet darin jene famose Liebesgeschichte. Er liest laut: »Chapitre I. Comme quoi Abélard entre chez le Chanoine Fulbert.« Das Publikum lächelt. Er fährt fort: »Chapitre II. Comme quoi il devient amoureux de son élève.« Das Publikum kichert. Der Sänger liest weiter: »Chapitre III. Comme quoi il est surpris aux genoux d'Héloise.« Das Publikum lacht heftig, und als der junge Sänger an den vierten, wichtigsten und leider so blutigen Abschnitt kommt, liest er nicht, sondern ruft entsetzt: »Non! pour cela non!« und wirft, an jedem Gliede zitternd, das Buch zur Erde, wobei das Publikum in ein olympisches Gelächter ausbricht.
In der Angst seines Herzens wirft er sich seiner Geliebten zu Füßen, und in dieser Stellung wird er von dem rachsüchtigen Zahnarzt überrascht. Die Türen sind verschlossen. Der Zahnarzt ist wütend und geht in sein Zimmer zurück, um, wie er sagt, sich bitter zu rächen. Der arme Sänger, der Abälards trauriges Schicksal fürchtet, schreibt in der größten Angst einige Zeilen, 92 in welchen er die entsetzliche Gefahr schildert, die ihm im Hause des Zahnarztes bevorsteht, und wirft das Briefchen zum Fenster hinaus. Das Briefchen wird von einem Vorübergehenden aufgefangen; aber der Vorübergehende steckt es, ohne es zu lesen, in die Tasche. Was ist jetzt zu beginnen? Zum Glücke findet Loisa einen Doppelschlüssel. Sie öffnet die Türe, Astyanax Robichon stürzt gerettet aus dem Zimmer, und der Vorhang fällt.
Während des Zwischenaktes aber haben jene Zeilen, die Robichon in der Angst seines Herzens geschrieben, den Weg zur Polizei zurückgelegt. Die Polizei weiß natürlich nichts Besseres zu tun, als sich des furchtbaren Zahnarztes zu bemächtigen und sein Verbrechen sowohl als den Namen desjenigen, an welchem es begangen sein soll, bekannt zu machen. Astyanax Robichon, der nicht mehr an Ort und Stelle ist, um der Polizei Aufklärung geben zu können, schwimmt als Zeitungsente, oder vielmehr als Kapaun, von einem Journal ins andere!
Im Anfange des zweiten Aktes sehen wir Loisa in einem Kloster, wohin sie ein intriganter Advokat, der ihre Eigenschaft als reiche Erbin kennt, getan hat. Ihr geliebter Robichon, dem nichts fehlt, weder der Humor noch sonst etwas, erfährt den Aufenthalt seiner Geliebten, klettert über die Klostermauer und befindet sich nach einigen Minuten bei seiner Loisa und deren Kusine, der Frau des Advokaten. Kaum nennt er seinen Namen, als die Kusine einen Schrei des Entsetzens ausstößt. Der Sänger fragt erstaunt, was er denn Schreckliches, Entsetzenerregendes an sich habe. Statt der Antwort überreicht sie ihm ein Zeitungsblatt. Robichon liest und ruft heftig: »Ce n'est pas vrai!« Und 93 um die Wahrheit seiner Behauptung zu beweisen, bedeckt er abwechselnd beide Damen mit heißen Küssen. Während er aber gerade die Frau des Advokaten sehr feurig küßt, tritt deren Gatte mit der Äbtissin herein. Der eifersüchtige Gatte will dem Sänger den musikalischen Hals herumdrehen; als aber der Sänger seinen Namen nennt, ändert sich die Szene. Der Advokat entschuldigt sich und bittet ihn, seiner Gattin Unterricht im Gesang zu erteilen. Die Äbtissin ist nicht minder artig gegen ihn und bittet ihn, daß er Loisa ebenfalls im Gesang unterrichte, ja, die fromme Äbtissin verspricht ihm sogar, sämtliche Nonnen von ihm unterrichten zu lassen, unter der Bedingung jedoch, daß er mit seiner Sopranstimme ein Kirchenlied singe zu Ehren der Prinzessin, die, um Kirchenmusik zu hören, das Kloster mit ihrer durchlauchtigen Gegenwart beehrt hat. Für seinen Gesang wird ihm ein Honorar von viertausend Gulden versprochen.
Der Sänger befindet sich in der Klemme. Er weiß ja, daß er keine Sopranstimme hat, sondern im Gegenteil einen tiefen, kräftigen Baß. Was nun tun? In dieser Verlegenheit bittet er seine Loisa, statt seiner hinter einem Vorhange verborgen zu singen. Dies geschieht, und das Auditorium ist entzückt, begeistert, berauscht von den zarten, süßen, sanften, schmelzenden Tönen. Das ganze Kloster stürzt auf den Sänger los. Man steckt ihm Zuckerkandel, Gerstenzucker und Bonbons in den Mund. Alle Nonnen hängen sich an seinen Hals und küssen ihn. Nur die Frau des Advokaten sagt leise und ärgerlich zu ihm: »Malheureux, c'est donc vrai?« Loisa aber ist still und innerlich froh, daß nicht alles wahr ist, was die Zeitungen berichten. Während nun der dramatische Knoten auf diese Weise eng und 94 geschickt genug geschürzt ist, kommt der Deus ex machina und schneidet ihn durch. Dieser Deus ex machina ist ein Brief des Prinzen, aus welchem sich die Unschuld des Zahnarztes ergibt und der die Verbindung Loisas mit dem Sänger befiehlt, dessen unfragmentarischer Zustand sämtliche Nonnen mit sichtbarem Staunen erfüllt.
Aus diesem, nur in den dürftigsten Umrissen geschilderten Inhalt, wird man sich leicht überzeugen, daß man nichts Zweideutigeres und Obszöneres erfinden kann. Es ist wahr, daß der Dichter in diesem Stücke nichts sagt, was das Sittlichkeitsgefühl verletzen könnte; aber er deutet es an; ja, er fordert den Scharfsinn des Publikums auf, das Obszöne zu erraten. Er bringt besonders die Zuschauerinnen in ein sonderbares Dilemma. Die Damen, die die zweideutigen Witze dieses Stückes nicht verstehen wollen, müssen sich unwissend in bezug auf die welthistorische Liebesgeschichte Abälards und Heloisens stellen und sich's gefallen lassen, daß man sie für ungebildet halte; und diejenigen, die sich nicht unwissend zeigen wollen, müssen einen halben Abend hindurch ihrem Schamgefühl entsagen. Eine Dame, die in diesem Stücke zu lachen wagt, hat nicht mehr viel zu wagen.
Und dennoch ist der Verfasser dieses allerdings sehr geschickt gearbeiteten Vaudevilles kein anderer als Herr Eugène Scribe, der strenge Puritaner, der erst vor kurzem in der zur Entwerfung neuer Theatergesetze beauftragten Kommission eine donnernde Kapuzinerpredigt gegen die Sittenlosigkeit der gegenwärtigen Pariser Bühnen hielt und ein strenges Gericht gegen jede dramatische Produktion begehrte, die wider die Moral verstößt.
95 Man versichert, Herr Scribe habe zweimal hunderttausend Franken jährlicher Einkünfte. Herr Scribe ist ein Feind der Republik und gehört zu denjenigen, die die Gesellschaft vor den Eingriffen des Sozialismus bewahren wollen. Und durch solche Stücke, wie das obenerwähnte, glaubt er die Gesellschaft zu erhalten! O es ist schwer zu glauben an die Tugend und Aufrichtigkeit der Schriftsteller, die zweimal hunderttausend Franken jährlich Einkünfte haben.