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Auf der ganzen Strecke von Köln nach Paris wünschte ich mir nichts so sehr als Harthörigkeit. Es hatte sich nämlich ein Narr eigener Art, ein Gagern-Enthusiast, an meine Seite gepflanzt und wollte nicht von mir weichen, trotz aller Mühe, die ich mir gab, ihm den Aufenthalt an meiner Seite so unangenehm als möglich zu machen. Er sprach von nichts anderm als von dem großen Heinrich, von dem Atlas, der auf den breiten Schultern die Gothaer Seifenblase trägt. Anfangs widersprach ich ihm sehr heftig, in der Hoffnung, daß er sich mit mir verfeinde; als ich aber fand, daß ich mit meinem Widerspruch nur Öl in das Feuer seiner Begeisterung goß, erheuchelte ich die vollste Bekehrung. Aber nun wollte er, daß ich mit ihm gemeinschaftlich das Weihrauchfaß schwänge, daß ich von nichts anderm spräche als von dem alleinseligmachenden Heinrich. Da schwur ich wieder meinen Glauben ab. Was half aber dies gegen seine Manie? Sein Mund hörte nicht auf, Psalmen auf den Edeln zu sprudeln, und meine Ohren machten meiner Geduld die gerechtesten Vorwürfe. Ich zog daher die Mütze über die Nase, tauchte meinen Kopf in die Wellen meines Mantelkragens, und als ich auf diese Weise meine künstliche Taubheit vollständig fertig glaubte, gab ich mich der Hoffnung auf Erlösung hin. Trügerische Hoffnung! Mein 8 fanatischerNachbar ließ sich durch die wollene Verschanzung meines Gehörs nicht im mindesten abschrecken; im Gegenteil, meine Verteidigung diente nur, seine Angriffe zu verstärken. Er fing jetzt an, die Biographie des großen Landmanns von Monsheim ausführlich zu erzählen, und da er solche gesunde Lungen hatte, daß er das Wutgeschrei der Lokomotive übertäubte, so hatte ich das Unglück, keines seiner Worte zu überhören. Der Mensch schrie mir fast Löcher in den Mantel und versicherte mir dabei, daß er mich sehr achte, sonst würde er sich gar nicht die Mühe geben, von dem Edelsten der Deutschen so viel mit mir zu sprechen.
Ich wußte nicht, was ich verschuldet, um die Achtung dieses Fanatikers zu verdienen; ich suchte indessen jedes Mittel der Grobheit auf, um sie zu verscherzen. Nichts aber half. Seine Zunge lief beständig Sturm auf meine wohlverschanzte Ungeduld.
In Brüssel angelangt, suchte ich ihm zu entfliehen und fühlte mich schon glücklich, als ich wieder in den Wagen einstieg, ohne eine Spur von ihm zu entdecken. Aber in dem Augenblicke, als der Zug abgehen sollte, kam er, ein Esel zwischen zwei Nachtsäcken, an den Wagen gekeucht und beteuerte mir, indem er einstieg und mir die Nachtsäcke vor die Füße warf, daß er einen viel bessern Platz hätte haben können, daß er aber, sogar mit Gefahr, zurückbleiben zu müssen, jeden Wagen untersucht, um mich ausfindig zu machen. Ich verfluchte im stillen dieses für mich so schmeichelhafte Unglück, und kaum war der Zug in Bewegung, so fing er, nämlich der Enthusiast, im Schweiße seines Angesichts wieder an, die alten Loblieder zu singen. So wenig kannte dieser Mensch den Zorn meiner Ohren, daß er mir vorschlug, in Paris, wo er schon häufig gewesen, 9 mit ihm in einem und demselben Hotel zu wohnen. Er nannte mir das Hotel. Mehr wollte ich nicht wissen. Als wir daher in Paris anlangten, suchte ich, nachdem im Bahnhof die Zöllner Herz und Nieren meiner Koffer geprüft, dem Enthusiasten zu entwischen, nahm eine Droschke und fuhr einem Hotel zu, das wenigstens eine Viertelmeile von dem entfernt ist, das mir der furchtbare Gagern-Enthusiast genannt hatte.
Ich feierte meine Erlösung; ich war in Paris.
Die meisten Menschen sehen und hören sich einen Rausch, wenn sie zum ersten Male diese Weltstadt besuchen; und ich muß gestehen, daß auch ich, trotz meiner Anstrengung, nicht ganz nüchtern blieb. Der Eindruck, den Paris auf mich hervorbrachte, war ein überaus gewaltiger, ein unbeschreiblicher. Es sind nicht jene herrlichen Bauten, in denen die großartigen Szenen der Weltgeschichte gespielt wurden, es sind nicht die kolossalen Monumente von Erz und Stein, die diesen gewaltigen Eindruck auf mich hervorbrachten: es ist das bewegte Leben und Treiben, es sind tausend Einzelheiten, die mich bewältigten.
Man glaubt in Deutschland Paris zu kennen; allein man kennt es nur aus tausend verzerrten Schilderungen, aus den Zeitungen, in welchen so mancher politische Pinsel mit dick aufgetragener Parteifarbe uns verkleckste Bilder gibt, die mit dem Original nicht die mindeste Ähnlichkeit haben. Freilich ist es auch unendlich schwer, Paris richtig zu schildern, da es schon außerordentlich schwer ist, es richtig zu sehen. Wer nicht mit gesundem, frischem, klarem Auge diese Stadt betrachtet, wer mit Vorurteilen oder, was dasselbe ist, mit einem vorgefaßten Urteile dahinkommt, der wird Paris in Paris ebenso falsch sehen, wie er es außer 10 Paris gesehen. Er wird dann die mitgebrachte Schablone über die Pariser Zustände schieben und nur die allgemeinen Phrasen wiederholen, die schon Hunderte vor ihm hundertmal wiederholt.
Als ich am ersten Morgen nach meiner Ankunft in Paris mein Hotel verließ, fiel ich gleich einem Landsmanne in die Arme, der nach einem kaum zweimonatlichen Aufenthalte in dieser Riesenstadt mir versicherte, daß niemand Paris so gut kenne wie er, was er in seinen nächst erscheinenden »Pariser Briefen« auch sage. Ihm war Paris ein Babel, eine Hölle, ein Vulkan, ein Sumpf, ein Ninive, ein Abgrund; und kaum hatten wir zwei Straßen zurückgelegt, als er mir dies alles auch schon logisch bewiesen hatte. Zugleich versicherte er mir, daß er dies alles bereits gewußt, eh er nach Paris gekommen; er sei aber nur nach Paris gekommen, um sich in seiner Überzeugung zu stärken. Dabei geriet er so sehr in Eifer, daß ihm durch die Lebhaftigkeit seiner Bewegungen die Brille von der Nase aufs Pflaster fiel. Wir waren auf dem Place de la Concorde, und gewiß hätte er mir auch logisch bewiesen, daß der Obelisk von Luxor eigentlich nur ein ägyptischer Zahnstocher sei, wenn ich ihm nicht, während er die zerbrochenen Waffen seiner Augen zusammenlas, glücklich entschlüpft wäre.
Man muß, wenn man nach Paris kommt, lernen wollen, aber nicht gelehrt zu sein glauben; vor allem muß man sich hüten, nach einzelnen Erscheinungen Urteile zu bilden. Paris ist eine Welt im kleinen, wo man mit jedem Schritte auf die merkwürdigsten Widersprüche stößt. Man sieht hier das Größte neben dem Kleinsten, das Schönste neben dem Häßlichsten, das Erhabenste neben dem Niedrigsten; und es gehört nicht 11 nur ein Talent der Beobachtung, sondern auch Zeit dazu, wenn man durch diese Widersprüche nicht verwirrt werden, wenn man das Allgemeine mit dem Besondern, die Ausnahme mit der Regel nicht verwechseln soll.
Ich hatte mir Paris ganz anders vorgestellt. Ich hatte geglaubt, im Äußern der Stadt die Spuren der jüngsten Kämpfe zu finden. Ich bildete mir ein halbzerstörtes, trauriges, niedergeschlagenes Paris ein, dem die Republik den weltberühmten Glanz, den Luxus, die Lebensfreude geraubt. Ich dachte mir jeden Pariser mit gebeugtem Haupte durch die düstern Gassen wandelnd. Aber wie hatte ich mich getäuscht! Ich fand Paris lachend und scherzend, die Theater überfüllt, die Spaziergänge dicht gedrängt und überall rauschende Lebenslust. Selbst in den Stadtteilen, wo der entsetzliche Junikampf gewütet, jener rätselhafte Kampf, in dessen Blut sich die europäische Reaktion berauscht: selbst da war kaum eine Spur der Verwüstung mehr zu entdecken. Paris duldet keine Ruinen, und die Wunden, die hier den Häusern geschlagen werden, heilen so schnell, daß kaum eine Narbe übrigbleibt.
Paris läßt sich mit keiner andern Stadt der Welt vergleichen. Man kann von Paris nicht sagen, daß es eine schöne Stadt sei, obgleich es die schönsten Plätze, die herrlichsten Gebäude der Welt besitzt; man kann aber auch nicht sagen, daß Paris nicht schön sei, obgleich es zum Teil aus den schmutzigsten, engsten und winkligsten Gassen besteht, die sich durch die schönsten Stadtteile winden. Paris hat neben den Boulevards, wo der Türke dem Portugiesen, der Ägypter dem Brasilianer, der Perser dem Hindu begegnet, zugleich Straßen, in die nur selten der Fuß eines Fremden sich 12 verirrt und deren Bewohner kaum zwei Male des Jahres das Quartier verlassen. Aber in Paris sieht man die Häuser vor lauter Straßen, die Straßen vor lauter Stadt nicht. Das rege Leben nimmt so sehr die Aufmerksamkeit in Anspruch, daß man gar nicht an die Gebäude denkt, so wie man bei einem interessanten Drama die Kulissen nicht beobachtet. In anderen Städten ist es gewöhnlich umgekehrt.
Man streiche Paris aus der Reihe der europäischen Städte, und Europa gewinnt eine andere Gestalt. Dies ist nicht schwer zu beweisen. Der russische Absolutismus und sein gekrönter Anhang beweisen dies hinlänglich durch die Furcht, die sie vor Paris haben, durch den Haß, mit dem sie diese Furcht zu verdecken glauben. Paris läßt sie nicht ruhig schlafen. Der Hauch der Freiheit, der von hier aus die Welt durchweht, droht beständig, ihnen die Kronen von den Häuptern zu wehen. Der Verjüngungsprozeß der europäischen Gesellschaft, der hier im Jahre 1789 begonnen, er ist 1815 verloren worden, und die Völker haben die Kosten bezahlen müssen. Aber nicht die Vernunft, sondern die Gewalt saß zu Gericht. Im Juli 1830 wurde in Paris wieder appelliert, und der Prozeß wurde in zweiter Instanz verloren, weil die Nationen die Solidarität ihrer Interessen nicht einsahen. Die Februarrevolution aber war die dritte Instanz dieses Prozesses. Er ist nicht verloren; die Entscheidung wird nur durch Schikane und Intrigen hingehalten. Paris aber ist der Oberste Gerichtshof; hier und nirgendwo sonst wird in dieser letzten Instanz entschieden werden. Diese Behauptung ist so wahr, daß Fürsten und Völker instinktmäßig auf Paris horchen und je nach dem dortigen Stande der Dinge Furcht oder Hoffnung für die Zukunft schöpfen.
13 Man braucht nicht lange in Paris zu sein, um zu sehen, daß hier der große Kampfplatz der Ideen ist, die jetzt die zivilisierte Welt bewegen. Man sieht es an tausend Dingen; man hört es an tausend Gesprächen. Die Politik beschäftigt hier jeden, in den Palästen und in den Arbeiterwerkstätten; und nichts ist so irrig, als wenn man glaubt, das Volk in Paris habe kein Interesse mehr für die großen Tagesfragen. Der Kommissionär liest an der Straßenecke und der Fiakerkutscher auf dem Bocke seine Zeitung so eifrig, daß ihn das Straßengetümmel nicht im mindesten daran stört. Ich habe dies gleich bei meiner Ankunft in Paris gesehen, und es hat mich nicht wenig in Erstaunen gesetzt. Später hatte ich Gelegenheit genug, mich zu überzeugen, daß der ärmste Ouvrier sich nicht nur täglich seine Zeitung kauft, sondern seinen letzten Sou für Broschüren hingibt, in denen seine Angelegenheiten besprochen werden.
Ich habe oben gesagt, daß Paris sich mit keiner andern Stadt vergleichen lasse. Als ich in der ersten Zeit meiner Anwesenheit in Paris mich eines Abends in einer zahlreichen Gesellschaft befand und das Gespräch auf diese Weltstadt gelenkt wurde, hatte jeder einen Vergleich bei der Hand. Der eine sagte: »Paris ist das Herz Europas, ein Herz voll jugendlicher Leidenschaft, feurig im Hasse wie in der Liebe, und es gibt keine Stadt auf dem europäischen Festlande, deren Lebenspuls nicht von den Gefühlen dieses Herzens bestimmt würde.« Ein anderer meinte, Paris sei ein Weltmeer, herrlich, wenn es ruhig, furchtbar, wenn es bewegt ist, und reich an Perlen und Ungeheuern. Ein dritter äußerte: »Paris ist die große Weltbörse, wo die Ideen der Menschheit umgesetzt werden.« Ein vierter behauptete, 14 Paris sei die Riesenuhr, nach welcher Europa sich richtet. Ein fünfter, der Sohn eines Geldwechslers, versicherte, Paris sei die Universalmünzstätte, wo die Gold- und Silbergedankenbarren der Kunst, der Wissenschaft und der Politik zu barem Gelde geprägt werden. Und so erschöpfte man sich in Vergleichen, bis ein alter pensionierter Marineoffizier, der sich in allen Weltteilen umgetan und den die Vergleiche langweilten, mit der Behauptung herausfuhr: »Paris ist Paris. Punktum!«
Man hat mir, bevor ich nach Paris ging, von vielen Seiten versichert, ich würde mich dort wenigstens in der ersten Zeit sehr isoliert fühlen. Ich habe nichts davon empfunden. Man darf, wenn man nach Paris kommt, nichts sein wollen; man muß ein Vergnügen daran finden, sich unter der Menge zu verlieren. Man muß sich nur als ein Tropfen in diesem Ozean denken, nicht als ein buntbewimpeltes Frachtschiff, das auf diesem Ozean schwimmt. Es kommen viele deutsche Schriftsteller und Gelehrte nach Paris, die, ihre vaterländischen Lorbeerkränzchen in der Hand, sich sehr enttäuscht fühlen, wenn man den Glanz ihres Ruhmes nicht gleich bemerkt. Du lieber Gott! In Paris laufen die Unsterblichkeiten zu Dutzenden auf der Straße herum, und niemand kennt sie. Das digito monstrari ist in Paris ein Ding der Unmöglichkeit, in diesem Paris, wo die Steine berühmter als die Menschen sind. Die persönliche Eitelkeit muß hier bald Hungers sterben, da ihr hier keine blinde Bewunderung Nahrung gibt. Wer nach Paris mit seiner kleinstädtischen Glorie kommt und seine winzige Persönlichkeit nicht gleich vergißt, der wird hier bittere Täuschungen erleben. So hat mir ein bekannter deutscher Lyriker mit fast tränendem Auge gesagt, daß, als er Lamartine besucht, 15 dieser ihn nicht einmal dem Namen nach gekannt habe, ihn, dessen Werke doch in so vielen Blättern ausführlich besprochen wurden. In diesen Kritiken glaubte der lyrische Kauz unabweisbare Wechsel auf den Universalruhm zu besitzen!
Viele Leute wollen Paris während einer kurzen Ferienzeit kennenlernen. Sie speisen Paris, wie man auf einer Poststation speist, eine halbe Portion Pantheon, einen Blick voll Gobelins, einen Bissen Louvre-Galerie, und eilen dann wieder nach Hause. Diese Hast, Paris gleichsam als Gabelfrühstück mit den Augen zu verschlucken, ist höchst komisch. Ich habe in Paris einen deutschen Gelehrten gesehen, der sich dort nicht länger als zwölf Tage aufgehalten, und dieser Herkules verrichtete in diesen zwölf Tagen ein Dutzend Herkulesarbeiten. Jeden Morgen fing er sein laufendes Geschäft an und schwamm abends im Schweiße nach seinem Hotel; und als er abreiste, fiel ihm zu seinem unsäglichen Schrecken ein, daß er das Allerwichtigste, die große Bibliothek, zu sehen vergessen. Solche Leute behaupten dann, Paris kennengelernt zu haben!
Paris ist eine Stadt, die nicht ausstudiert werden kann. Jeder Spaziergang ist hier für den Beobachter eine Entdeckungsreise. Man kann in Paris keinen Schritt tun, ohne neue Eindrücke zu empfangen, so produktiv ist hier das öffentliche Leben. Aber man kann, wie gesagt, von Paris kein allgemeines Bild geben. Welcher Rahmen wäre auch groß genug für ein solches Bild? Ich habe es daher versucht, einzelne Bilder von dem Pariser Leben zu entwerfen, kleine Genrebilder, die kein anderes Verdienst haben als die Anspruchslosigkeit, mit der sie sich darbieten. Findet das Publikum aber noch andere Verdienste daran, desto besser! 16