Ludwig Kalisch
Paris und London
Ludwig Kalisch

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Smithfield

Smithfield ist einer der schmutzigsten, aber auch einer der merkwürdigsten und eigentümlichsten Plätze in London. Smithfield hat wenigstens soviel erlebt wie der Tower; jedenfalls sind seine Erlebnisse mannigfacher; und während der Tower nur eine düstere Vergangenheit hat, ist Smithfield noch jetzt der für die Stadt London wichtigste Platz.

Smithfield war im Mittelalter der Ort, wo Freud und Leid sich gegenseitig verdrängten; hier fanden die tollsten, die lustigsten, aber auch die furchtbarsten, die 239 entsetzlichsten Feste statt. Smithfield war der Platz für die Turniere und zugleich für die Hinrichtungen. Heute zeigten unter dem Jubel schmetternder Fanfaren die Ritter auf stolzen Rossen und mit flatternden Helmbüschen die Kraft ihrer Lanzen, von tausend holden Frauenaugen betrachtet, und am folgenden Tage schon hauchte ein edler Denker, ein aufopferungsvoller Patriot in den Flammen, am Galgen oder unter dem blitzenden Henkerbeile seinen letzten Seufzer aus. Smithfields Boden ist mit dem Blute der Tapfersten getränkt, mit der Asche der Edelsten bedeckt.

Wenn aus den Gebeinen der in Smithfield Hingewürgten sich Rächer erhüben, es würde eine furchtbar große Schar werden; so sehr hat hier rohe Gewalt und blindes Vorurteil dem Henker in die Hand gearbeitet. Hier war es, wo der heldenmütige Schotte William Wallace, der sein Vaterland von dem Joche Englands befreien wollte, am Galgen geendet und wo Wat Tyler unter den Streichen William Walworth', des Mayors von London, gefallen.

Die Geschichte dieses Wat Tyler ist eine unter absoluten Regierungen so häufig sich wiederholende. Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie ewig neu. Das Drama Wat Tyler spielt unter Richard dem Zweiten. Richard der Zweite, Sohn des Schwarzen Prinzen, war als elfjähriger Knabe auf den Thron Englands gelangt. Die vielen Kriege, die sein Großvater, Edward der Dritte, führte, hatten das Land erschöpft. Das Volk war ausgesaugt und murrte; und der Adel war hochmütig, widerspenstig, unbändig. Die Herzoge von Lancaster, York und Gloucester, Richards drei Oheime, hatten während der Minderjährigkeit ihres Neffen die Zügel der Regierung ergriffen und lenkten den 240 Staatswagen nach ihrem Gutdünken. Die Kriege, die Edward der Dritte begonnen, sollten fortgesetzt werden; aber es fehlte an Geld. Durch die schlechte Verwaltung war der Schatz erschöpft, und es mußten wieder neue Geldquellen gefunden werden. Da besannen sich die Staatslenker nicht lange. Es wurde eine Steuer von drei Groats ausgeschrieben für jeden Untertan, der das fünfzehnte Jahr überschritten; und diese unvernünftige Steuer, die dem Armen dasselbe Gewicht wie dem Reichen auflegte und daher jenen drückte, während sie diesem kaum fühlbar war, diese Steuer wurde mit aller Strenge eingetrieben.

Da begann das Volk, das längst schon unter der Last der Abgaben seufzte, laut zu murren, und es bedurfte nur einer Veranlassung, um die schlummernden Funken zu einer wilden Flamme der Empörung anzufachen.

Diese Veranlassung ließ nicht lange auf sich warten. Die Beamten, welche in den verschiedenen Provinzen die Steuern eintrieben, waren roh und ungeschlacht und kannten keine Rücksicht, keine Schonung, keine Milde. In Essex besonders gebärdeten sie sich auf die empörendste Weise. Einer derselben kam in das Haus des Schmiedes Wat Tyler. Tyler hatte eine Tochter, und der Steuerbote verlangte die für dieselbe zu entrichtende Steuer. Wat Tyler, der an seinem Amboß stand, bedeutete, daß seine Tochter das in dem Steuergesetze vorgeschriebene Alter von fünfzehn Jahren noch nicht erreicht, und weigerte sich, zu zahlen. Der rohe Beamte aber behauptete, daß das Mädchen dieses kindliche Alter bereits überschritten, und um dies zu beweisen, erlaubte er sich gegen das Kind das unsittlichste Benehmen. Da konnte der Vater, der das Schamgefühl seiner Tochter aufs schnödeste verletzt sah, nicht mehr 241 an sich halten. Den schweren Hammer mit kräftigem Arme schwingend, versetzte er dem Steuerboten einen solch gewaltigen Hieb, daß er tot zu Boden stürzte.

Diese Tat war nicht ohne Zeugen geschehen. Mehrere Nachbarn und Freunde Tylers hatten der ganzen Szene beigewohnt. Unter demselben Drucke seufzend, unter derselben Willkürherrschaft duldend wie er, freuten sie sich seiner Tat, beschlossen, das schwere Joch abzuschütteln, und wählten ihn zu ihrem Führer.

Die kleine Schar schwoll bald zu einem Heere an; und nicht nur in Essex, sondern auch in Kent, Suffolk, Norfolk, Cambridge und in anderen Provinzen entbrannte die Flamme der Empörung und fraß so wild um sich, daß nach kurzer Zeit über hunderttausend Mann gerüstet waren, ihr gutes Recht gegen die unerträgliche Tyrannengewalt zu behaupten.

Wat Tyler rückte mit seiner Schar in London ein und stellte sich kampfbereit in Smithfield auf. Der kaum sechzehnjährige König, dem es um seine Krone bange war, kam nach Smithfield und lud Tyler zu einer Unterredung mit ihm ein, um aus dessen Munde die Beschwerden zu hören und zu erwägen. Tyler war bereit, dieser Einladung zu folgen. Er befahl seinen Leuten, sich zurückzuziehen und wenn er ihnen ein Signal gäbe, wieder vorzurücken. Unerschrocken näherte er sich nun dem Könige, der mit seinem Gefolge des furchtbaren Rebellenhäuptlings wartete.

Wat Tyler verlangte, daß alle Sklaven freigegeben, daß alle Gemeindetriften den Armen ebensogut wie den Reichen zur Nutznießung gegeben werden sollten und daß eine allgemeine Amnestie ausgesprochen würde. Während er diese vernünftigen und billigen Forderungen stellte, griff er mehrere Male an sein Schwert, 242 um anzudeuten, daß, wenn diese Forderungen nicht beachtet würden, er Mut und Entschlossenheit genug besäße, dieselben durch Gewalt der Waffen geltend zu machen. Diese drohende Andeutung von seiten des Rebellen brachte den in der Nähe des Königs stehenden Mayor von London, William Walworth, in solche Wut, daß er mit seinem Stabe dem Schmied einen Streich versetzte, der ihn betäubte, worauf ein Ritter aus dem Gefolge des Königs herbeieilte und den unglücklichen Parteiführer mit dem Schwerte tötete.

Tylers Schar, die ihren Liebling so schnöde hingemordet sah, wurde wütend und war im Begriff, die grimmigste Rache zu nehmen. Schon waren ihre Schwerter entblößt, ihre Bogen gespannt – als der König ihnen zurief: »Willst du, mein gutes Volk, deinem König ans Leben? Ihr habt euren Führer verloren, wohlan! ich selbst will jetzt euer Führer sein. Folgt mir ins offene Feld! Dort teilt mir eure Wünsche, eure Forderungen mit, und sie sollen erfüllt werden.«

Tylers Scharen, verblüfft durch die Geistesgegenwart des sechzehnjährigen Königs, folgten ihm ins Gefilde. Hier wurden ihnen viele Freiheiten versprochen, viele Gerechtsame verheißen und die schönste Zukunft in Aussicht gestellt. Das Volk war zufrieden und legte in kindischer Leichtgläubigkeit die Waffen nieder, um nach kurzer Zeit die Erfahrung zu machen, daß Könige kein Wort halten und keine Versprechungen erfüllen, am wenigsten aber dann, wenn ihnen die Versprechungen durch ein bewaffnetes Volk abgezwungen werden.

Auf Smithfield wurden gewöhnlich die Ketzer verbrannt; und als man voriges Jahr in der Nähe des auf diesem Platze stehenden Bartholomäus-Hospitals den Boden aufschürfte, fand man angerauchte steinerne 243 Einfassungen von Scheiterhaufen und eine Menge verbrannter Gebeine. Auch an Galgen fehlte es diesem Platze nicht. Das hochnotpeinliche Halsgericht gab hier dem Henkertume die verschiedenartigste Beschäftigung. Es wurde hier verbrannt, gehängt, geköpft, gerädert und gevierteilt zur Ehre der himmlischen und zum Ruhme der irdischen Majestät. Dies hat sich jetzt geändert. Die Todesurteile werden nicht mehr auf Smithfield vollzogen; aber Todesopfer anderer Art und in viel größerer Menge werden diesem Platze allwöchentlich zugeführt. Smithfield ist nämlich der Viehmarkt Londons, und zwar der einzige, der ausschließliche; und man bekommt ungefähr einen Begriff von der ungeheuern Gefräßigkeit Londons, wenn man montags diesen Markt besucht, wo an fünftausend Ochsen und zwanzigtausend Schafe feilgeboten werden. An anderen Tagen wird anderes Vieh hier verkauft; und so gewaltig ist der Umsatz, daß er im Durchschnitt mehr als fünf Millionen Pfund Sterling oder sechzig Millionen Gulden jährlich beträgt. So unersättlich ist das fleischfressende London.

Seit mehreren Jahrhunderten ist Smithfield auch ein Pferdemarkt, ein Markt, wo derjenige am glücklichsten fährt, der am meisten betrügt oder am wenigsten betrogen wird. Ein in Smithfield gekauftes Pferd ist oft reicher an verborgenen Lastern als an Zähnen, und man muß, wie bei einem charakterschwachen Journalisten, jeden Augenblick fürchten, daß es die Farbe wechselt. Wie mancher schon hat in Smithfield einen Rappen gekauft, den der erste beste Regen in einen schmutzigen Schimmel verwandelt hat.

Smithfields Pferdemarkt war schon zu Zeiten Shakespeares berüchtigt, wie man sich aus dessen 244 »Heinrich IV.« überzeugen kann, und Dryden behauptet, daß es in London zwei Dinge gäbe, die keinen Heller taugten, nämlich: ein Weib von Covent Garden und ein Pferd von Smithfield.

Smithfield ist ein unregelmäßiges Vieleck, das von unzähligen hölzernen, für das Vieh bestimmten Pferchen bedeckt ist, was ihm ein ganz eigentümliches Ansehen verleiht. Der Platz ist von vielen kleinen Häusern, Bier- und Branntweinkneipen begrenzt, und nur an der östlichen Seite steht ein großes, ansehnliches Gebäude, die jetzt in ein Spital umgewandelte Bartholomäuskirche, vor welcher im Mittelalter die Ketzer verbrannt wurden. Das Gesicht der armen Opfer mußte immer den Pforten dieser Kirche zugewendet sein.

Smithfield scheint vom Schicksal als ein Schauplatz der sonderbarsten Widersprüche auserkoren zu sein. Wie nämlich im Mittelalter hier die lustigsten Feste und die scheußlichsten Hinrichtungen stattfanden und das Ohr heute von den Jubeltönen der Schalmeien entzückt, am andern Morgen von dem Wehgeheul der armen Sünder oder dem letzten Röcheln der Märtyrer zerfleischt wurde, so bietet auch noch heutzutage Smithfield die sonderbarsten Gegensätze dar. An Wochentagen das Geschrei der Viehtreiber, Viehhändler und Metzger, das Brüllen der Ochsen, das Blöken der Schafe, das Wiehern der Pferde und das Iahn der Esel; an Sonn und Feiertagen aber ein frommes Gebaren, Beten, Predigen, Prügeln, Stehlen und ein eifriges Proselytenmachen unter freiem Himmel.

Wer nach London kommt und an dem Volksleben dieser ungeheuern Stadt, oder richtiger: dieses Ungeheuers unter den Städten, einiges Interesse nimmt, darf nicht unterlassen, an einem Sonntage zwischen elf Uhr 245 morgens und drei Uhr nachmittags Smithfield zu besuchen. Er wird dann, wenn auch nicht von dem gottesfürchtigen Treiben erbaut, doch gewiß überrascht werden. Nur knöpfe sich jeder, der hier am Sonntage unter den frommen Predigern und Zuhörern Studien machen will, sorgfältig den Rock zu, stecke seine Hände vorsichtig in die Taschen und vergesse keinen Augenblick die Aufmerksamkeit auf sein Eigentum; denn Smithfield liegt in einem verdächtigen Stadtteile, und die Straßen, die in diesen Platz einmünden oder in der Nähe desselben sich befinden, beherbergen zum Teil solche Christen, deren Begriffe von mein und dein sehr verworren sind und deren Finger in den Taschen anderer fast ebensoviel Bescheid wissen als in den eigenen.

Es war an einem heitern Juli-Sonntage, als ich am Arme eines Freundes zum ersten Male Smithfield besuchte. Wir bemerkten mehrere Gruppen und näherten uns einer derselben. In der Mitte dieser, aus etwa fünfzig Personen bestehenden Gruppe, stand ein Irländer mit entblößtem Haupte und suchte den Umstehenden den Unterschied zwischen »spirit« und »soul« begreiflich zu machen. Es gelang ihm aber nicht sonderlich; denn erstens hatte er selbst so viel spirit zu sich genommen, daß er wie ein dünnes, vom Winde bewegtes Rohr hin und her schwankte, zweitens wurde er jeden Augenblick von seinen Zuhörern unterbrochen. Diese Zuhörer waren zum größten Teile nur in Lumpen gehüllte Lumpen. Dem einen fehlten die Ärmel am Rocke, dem andern fehlte der Rock an den Ärmeln, und während dem dritten Gottes liebe Sonne in den deckellosen Hut hereinschien, griff der vierte in seinen Busen, nicht um sein Gewissen zu untersuchen, sondern blutige Rache an seinen Peinigern zu nehmen.

246 Nachdem verschiedene Individuen den Prediger unterbrochen hatten, kam ein junger, dicker Bursche, ein Metzgergeselle, wie ich später erfahren, und erlaubte sich allerlei dumme Späße mit ihm. Er zupfte den Irländer, der noch immer im Seelen- und Geisteslabyrinthe herumtaumelte, am Ärmel; er schrie ihm ins Ohr und drehte ihm Nasen. Der Irländer ertrug dies einige Zeit mit christlicher Geduld; als aber der Metzger ihm mit der Hand ins Gesicht fuhr, brach der Irländer, der just mit der kritischen Anatomie der Seele beschäftigt war, plötzlich ab, setzte seinen Hut auf und versetzte dem Metzger eine solche Ohrfeige, daß dieser sich unwillkürlich im Kreise drehte.

Der Schmerz und das Bewußtsein der erlittenen Schmach brachten den Metzger bald in solche Wut, daß er mit geballten Fäusten auf den irländischen Prediger losfuhr; der Irländer war aber darauf vorbereitet und setzte den Metzgerfäusten seine eigenen entgegen. Bald fuhren die zwei Gegner mit den Fäusten nach allen Regeln der Boxkunst so geschickt aneinander, daß die fromme Gemeinde ehrfurchtsvoll Platz machte, dem interessanten Kampfe mit sichtbarem Vergnügen zusah und ihn zum Teil durch laute Beifallsbezeugungen belebte. Der schmächtige Irländer entfaltete bei diesem Kampfe eine solche Gewandtheit, eine solche Behendigkeit in der Bewegung seiner Arme, daß die Umstehenden jetzt von der Gewalt seiner Schläge viel mehr erbaut und hingerissen wurden als früher von der Gewalt seiner theologischen Erörterungen. Nach einigen Minuten hatte er, unter dem lauten Jubel der Versammlung, den Metzger in die Flucht geboxt.

Er ordnete nun seinen von Natur mit schwächlicher Gesundheit begabten Anzug, befestigte die am letzten 247 Lebensfaden hängenden Knöpfe, schob die Fetzen seines Hemdes wieder vor die entblößte Brust, knüpfte sich die vogelfreien Enden seines Halstuches in einen möglichst kunstgerechten Knoten, leckte sich die blutigen Flecken von den Fingern und begann dann wieder, durch den Kampf etwas ermattet, seinen oratorischen Seelenwandel.

Wir näherten uns jetzt einer benachbarten Gruppe. In der Mitte derselben stand ein junger, untersetzter, langhaariger, blondbärtiger Unitarier. Er suchte den Zuhörern zu beweisen, daß Christus zwar ein göttlicher Mensch, aber kein Gottmensch gewesen sei und fand natürlich den heftigsten Widerspruch. Ein lang aufgeschossener, junger Mensch mit hohlen Wangen und schwärmerisch blauen Augen suchte den Unitarier zu widerlegen und wurde dabei sehr aufgeregt; der Unitarier aber blieb ruhig und gelassen, beantwortete jede an ihn gestellte Frage mit soviel Logik, als ihm zu Gebote stand, und suchte seine Behauptungen durch Bibelstellen zu begründen. Ich folgte diesem Dispute mit einer solchen Aufmerksamkeit, daß ich meine Umgebung gar nicht merkte; bald aber fühlte ich eine unruhig bewegte Hand an meiner linken Seite, und zwar in der Gegend, wo der Puls meines Herzens und meiner Uhr klopft. Da ich mir nicht denken konnte, daß eine fremde Hand ein besonderes Interesse an meinen Herzensangelegenheiten habe, so mußte ich natürlich schließen, daß jene neugierigen Finger nur untersuchen wollten, auf welche Weise meine kostbare Zeit aus meiner Tasche zu holen sei, und da ich fürchtete, daß diese Neugierde viel schneller, als ich wünschte, befriedigt werden möchte, drehte ich mich hastig um und erkannte sogleich den Eigentümer der Hand, welche 248 eine solche Vorliebe für gewagte Entdeckungsreisen in unbekannte Taschengegenden hatte. Es war ein breitschulteriger, rothaariger, ungekämmter Geselle, in dessen verschmitztem Auge deutlich zu lesen war, daß er seinen letzten Seufzer zwischen Himmel und Erde aushauchen würde.

Ich fand es für gut, mich aus dem Gedränge zu winden und mich einer andern, minder dichten Gruppe zu nähern. Während ich mir aber durch Hilfe meiner Ellenbogen einen Ausgang zu verschaffen strebte, suchte ich meinen Freund, den ich im Gedränge aus den Augen verloren. Er sah mich gleich und rief, als er mich in dem allerdichtesten Menschenknäul bemerkte, mir laut zu: »Mind your watch!«

Als ich, dem Gedränge entkommen, mich ihm näherte, fragte er mich, ob ich noch meine Uhr hätte. Ich bejahte es und erzählte ihm, daß ein junger Romantiker, wahrscheinlich von ihren Reizen geblendet, sie zu entführen getrachtet. Mein Freund, der seit einer langen Reihe von Jahren in London lebt, ermahnte mich, nur ja vorsichtig zu sein und bei dergleichen Gelegenheiten weder Geld, noch Preziosen, noch sonst etwas, was den Namen »Eigentum« verdient, sehen zu lassen. Mein vorsichtiger Freund zeigte bei diesen Ermahnungen eine wahrhaft beneidenswerte Gabe der Beredsamkeit; als er aber, durch das Gedränge und seine Eloquenz warm gemacht, sich die Stirne wischen wollte, fand er zu seiner Beschämung, daß sein ostindisches Foulard, welches er friedlich schlummernd im Sicherheitshafen seiner Tasche wähnte, von einem kühnen Piraten gekapert worden. Aber nicht nur das Foulard fehlte, auch die Tasche war nicht mehr anwesend. Einer der andächtigen Zuhörer hatte sie, deren Dasein so 249 fest und innig an dem Schoße des Rockes hing, mit der Schärfe des englischen Stahls abgeschnitten, ohne daß mein Freund es merkte. Ich lachte ihn tüchtig aus und ermahnte ihn, von seinen eigenen Ermahnungen künftig einen bessern Gebrauch zu machen.

Verdrießlich und unausgesetzt mit seiner wunden Tasche beschäftigt, wollte mein Freund sogleich Smithfield verlassen, und nur auf meine dringenden Bitten entschloß er sich endlich, mir ferner Gesellschaft zu leisten.

Wir näherten uns jetzt einer andern Gruppe, die einem lebhaften Dispute aufmerksam zuhörte. Ein Katholik suchte hier für seinen alleinseligmachenden Glauben neue Anhänger zu gewinnen, fand aber unter den Zuhörern einen Widersacher, der ihm unausgesetzt widersprach und besonders das Papsttum heftig angriff.

»Ihr haltet eure Päpste für Stellvertreter Gottes auf Erden«, sagte er. »Und was sind eure Päpste? Statt Stellvertreter Gottes zu sein, sind sie Stellvertreter des Teufels!«

Der katholische Proselytenmacher verwies seinem Gegner diese Äußerung und sagte, daß er jeden Widerspruch, der ihm ruhig und anständig entgegengestellt würde, ruhig und anständig widerlegen würde; aber die Wichtigkeit und Weihe der Erörterung vertrage keine Grobheit und Gemeinheit.

»Gut!« rief der andere, »ich will ruhig sprechen. Habt ihr nicht sogar ein Weib zum Papste gehabt, die Päpstin Johanna? War dies Weib etwa eine Stellvertreterin Gottes? O for shame!« rief er höhnisch, »a woman shall teach men? That is a disgrace! that is an insult both to God and men!«

Der Katholik wollte das von seinem Gegner 250 erwähnte Faktum in Abrede stellen, konnte aber bei dem Geschrei, dem Gelächter und den Witzen, die von allen Seiten auf Kosten der armen Päpstin gemacht wurden, nicht zu Worten kommen und mußte sich endlich entfernen. Der Mann hätte aber auch wissen sollen, wie töricht es sei, wenn ein Einzelner unter lauter Gegnern eine Meinung geltend machen will.

Nicht weit von dieser Gruppe stand mit entblößtem Haupte ein Greis, aus der Bibel, die er in der zitternden Hand hielt, mit gebrochener Stimme erbauliche Stellen vorlesend. Die Stimme dieses greisen Mannes, der nicht da stand, um theologische Seiltänzersprünge zu machen, sondern Andacht in dem Herzen der Zuhörer zu erwecken, hatte etwas wahrhaft Ergreifendes. Wirklich war auch die Gruppe, die um diesen alten Mann herumstand, voll Sammlung. Ich bemerkte auch mehrere Frauen, und unter diesen fiel mir eine junge Witwe auf, die, an einer Hand ein Mädchen und an der andern einen Knaben haltend, heiße Tränen vergoß.

Man erkennt die englischen Witwen an der weißen, eigentümlich gemachten Haube (widow's cap), die sie unter dem schwarzen Hute tragen. Diese Haube vor der Wiederverheiratung abzulegen wird nicht für schicklich gehalten. Es gibt viele Damen, die zwar noch nie einen Mann durch den Tod verloren, aber gern unter die Haube kommen möchten, und die sich deshalb die Witwenhaube aufsetzen, um sich interessanter zu machen und die Aufmerksamkeit der Heiratslustigen zu erregen. Daß die Frau indessen, die mit ihren Kindern dem silberlockigen Manne zuhörte, wirklich eine Witwe war, und zwar eine solche, die den Verlust bitter empfand, sah man ihr gleich an. Es lag ein tiefer 251 Schmerz auf ihrem äußerst schönen Gesichte, und durch die Andacht, mit der sie den tröstenden Worten der Heiligen Schrift zuhörte, erregte sie mein innigstes Mitgefühl.

In tiefe Betrachtung versenkt, stand ich eine Weile in der Nähe dieser Gruppe; bald aber weckte mich ein lauter Redner in der Nähe dieser interessanten Szene aus meinen Träumen, und ich sah etwa hundert Menschen um ein schmächtiges Männchen gedrängt, das den Strom seiner Beredsamkeit mit reißender Schnelligkeit hinfluten ließ. Das Männchen war ein etwas konfuser Sozialist und suchte seinen Zuhörern zu beweisen, daß die Armut zwar das größte, aber durchaus kein notwendiges Übel sei.

»Schufte und Schelme«, rief der Redner, »Schufte und Schelme fahren in Karossen, und ehrliche Leute haben oft kaum, ihre Blöße zu bedecken. Ist das notwendig? Muß das so sein? Schwillt der goldene Segen des Feldes, grünt die Üppigkeit der Wälder nicht für jedermann? Steht es etwa geschrieben im Evangelium, daß die Trägheit schwelgen und der Fleiß im Schweiße des Angesichtes hungern soll?«

Der Redestrom des Sozialisten wurde aber oft an der eigentlichen Quelle verstopft. Ein junger Taugenichts fuhr ihm nämlich von Zeit zu Zeit mit der ungewaschenen Hand an den Mund, um ihn zum Stillschweigen zu bringen.

»That's all humbug!« rief der Taugenichts, der mehr Löcher in der Kleidung als Kleidung für die Löcher hatte; »that's all nonsense!«

Ein Teil der Zuhörer verwies dem Wichte das rohe Benehmen; andere aber, die durch das Band der Gemeinheit innig mit ihm zusammenhingen, munterten ihn 252 durch beifälliges Gelächter zu fortgesetzter Frechheit auf, wahrscheinlich in der Absicht, Händel zu erregen und in dem dadurch entstehenden Wirrwarr ihren langen Fingern eine profitabele Beschäftigung zu geben.

Der Redner duldete aber die unverschämten Störungen des Buben mit einer wahrhaft bewundernswerten Ruhe. Er verwies ihm nicht sein gemeines Betragen; ja, er würdigte ihn nicht einmal eines Blickes. Ob er durch diesen passiven Widerstand den losen Buben ermüden oder ob er seine Verteidigung dem bessern Teile seiner Zuhörer überlassen wollte oder ob ihn sein Redeeifer so sehr beschäftigte, daß er für nichts anderes Aug und Ohr hatte, kann ich nicht sagen; genug, der Redner benahm sich wie ein weiser Dulder und nötigte selbst denjenigen, die der Entwickelung seiner Theorien nur mit ungläubigem Kopfschütteln zuhörten, Teilnahme und Hochachtung ab. Bei weitem der größte Teil der Umstehenden ermahnte den Ruhestörer, sein rohes Betragen einzustellen oder seines Weges zu gehen, und als er diese Aufforderung dadurch beantwortete, daß er den Redner mit einer Hand am Kragen faßte und mit der andern Hand ihm den Mund fest zuhielt, wurde er von mehreren starken Armen gefaßt, und es entstand nun ein bedeutendes Handgemenge.

Mein Freund, dem das Schicksal seines entführten Foulards und seiner unglückseligen Tasche noch frisch im Gedächtnis war, zog mich aus dem Gewühl, und wir sahen nur von ferne dem wüsten Schauspiele zu, das damit endigte, daß der freche Wicht mit einigen seiner Gesinnungsgenossen im strengsten Sinne des Wortes aus dem Felde geschlagen wurde.

Fluchend und jeden Augenblick sich umwendend und die Fäuste gegen ihre siegreichen Feinde ballend, 253 gingen sie von dannen und suchten in einem benachbarten Gin-Palace, zu deutsch: Branntweinkneipe, ihren Verdruß zu ersticken, während der Sozialist, nun ungestört, alle Schleusen seiner Beredsamkeit erschloß.

Der Eindruck, den Smithfield an einem Sonntagmittag auf den ruhigen, nichtenglischen Beobachter hervorbringt, ist eigentümlich genug. Einerseits wird man von vielem Widerwärtigen, das sich dem Ohr und Auge darbietet, abgestoßen, ja angeekelt. Von Bigotterie, Dummheit, Armut, Trunksucht, Rauflust und den abgefeimtesten Diebeskniffen liefert Smithfield an Sonn- und Feiertagen, und gerade während solcher heiligen Gespräche und gottesfürchtigen Vorträge, die merkwürdigsten Beispiele.

Die Smithfielder Gottesfurcht riecht stark nach Schnaps, und die Hände, die sich zu Gebeten falten sollen, ballen sich oft zu Fäusten, um das Gesicht des Nächsten bunt zu färben, oder suchen so unbemerkt wie möglich in den Taschen ihres Nebenmenschen, was sie in ihren eigenen nicht finden können. Die Spitzbuberei treibt hier sogar mit der Religion eine eigentümliche Industrie. Sie spekuliert auf die gläubigen Gemüter, die während der Andacht die Außenwelt vergessen und selten merken, daß ihnen unterdessen das Eigentum aus den verborgensten Schlupfwinkeln der Taschen geholt wird. Oft ist der fromme Redner, der so erbaulich und beschaulich spricht, nichts anders als ein verschmitzter Dieb, und während er seinen Zuhörern mit salbungsvollen Worten den Weg zur ewigen Seligkeit zeigt, finden seine Helfershelfer, die sich unter das Auditorium gemischt, den Weg zur Geldbörse oder zu den Tabaksdosen der behäbigsten Zuhörer. Sind die Zuhörer aber nicht gesammelt genug 254 für die himmlischen Güter, um die Aufmerksamkeit für die irdischen zu verlieren, so werden Händel angeregt und während des Handgemenges die heimlichen Plünderungen vorgenommen.

Diese Art Spitzbuberei zählt in London ungemein viel Anhänger und – Anhängerinnen. Diese suchen und finden ihren Wirkungskreis besonders in Kirchen, wo sie neben den frommsten Damen hinknien und, während ihre Lippen betend flüstern, mit bewundernswürdiger Fingerfertigkeit das achte Gebot nasstübern.

Es findet sich in Smithfield unter den Zuhörern jener sonntäglichen Diskussion wohl hier und dort ein anständig gekleideter Mensch; der größte Teil aber ist à la Vogelscheuche gekleidet und kennt den Gebrauch der Seife nur vom Hörensagen. Ja, ich habe in Smithfield Leute gesehen, deren Anzug schon seit Jahr und Tag reif für die Papiermühle gewesen zu sein schien. Stiefeln, die sich unmöglich mehr erinnern können, wann sie die Sohlen verloren, Beinkleider, die wie zerfetzte Fahnen im Winde flattern, und Röcke, die seit undenklicher Zeit in völliger Auflösung begriffen, sind hier am Sonntag, wo doch jeder sein Bestes anzieht, so häufig, daß das Gegenteil davon zur Ausnahme gehört. Solche phantastische Lumpen – ich spreche hier von Lumpen im eigentlichen Sinne – wie in London, sieht man sonst nirgends, es sei denn, in Amsterdam, und selbst dort verhältnismäßig nicht so häufig.

Wie sehr man nun durch dieses moralische und materielle Elend abgestoßen wird, ein Deutscher findet doch auch hier etwas sehr Beneidenswertes; es ist die ungebundene, durchaus unbeschränkte Redefreiheit. Sinn und Unsinn dürfen sich hier, wie überall in England, frei aussprechen. Man braucht hier aus Furcht vor 255 geheimer oder öffentlicher Polizei kein Blatt vors Maul zu nehmen. Jeder spricht, wie ihm der Schnabel gewachsen, und wahrlich! es sind nicht sehr delikate Schnäbel. Daß diese Freiheit ein unschätzbares Gut sei, fühlt der Deutsche am lebhaftesten, der arme Deutsche, der von tausend Beamten, für die er im Schweiße seines Angesichtes arbeiten muß, in steter Unmündigkeit gehalten wird und der für eine einzige freie Gedankenäußerung, die seinen Duodez-Tyrannen nicht gefällt, in Kerker und Banden büßen muß.

 


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