Ludwig Kalisch
Paris und London
Ludwig Kalisch

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Die Freiheitsbäume und die Julisäule

Eine reaktionäre Regierung kann keine größern Dummheiten begehen als kleinlich zu werden. Jedes Volk verträgt eher eine großartige Tyrannei, die, ihrer Macht sich bewußt, wie das unerbittliche Schicksal furcht- und schonungslos drückt, als jene Duodez-Tyrannei, die aus Angst vor ihrer eigenen Schwäche die Freiheit meuchlings mit Nadelstichen überfällt. Eine solche Regierung wird überall verachtet, am meisten aber von dem französischen Volke, dem man nur durch große Taten, durch kühne Wagnisse imponieren kann.

Die Regierung Louis Napoleons ist kleinlich, ohnmächtig, albern. Seit ihrem Bestehen begeht sie eine Dummheit nach der andern, um das Volk zu einer vorschnellen Tat zu bewegen; aber das Volk wird immer klüger, je dummer seine Regierung wird. Es ist unglaublich, wie ungeschickt die Menschen, denen jetzt 38 das Staatsschiff Frankreichs anvertraut ist, das Steuer lenken. Es ist unglaublich, wie wenig diese Leute das französische Volk kennen! Seit anderthalb Jahren gehen sie, wie die Katze um den heißen Brei, um den Coup d'état herum und können ihn doch nicht zustande bringen. Sie meinen, das Volk müßte am Ende die Geduld und die Besinnung verlieren und dann könnte man der Republik gefahrlos den Garaus machen. Aber das Volk hat diese Absicht längst entdeckt. Es verhält sich ruhig und lernt durch die Verblendung seiner Regierung die eigene Stärke kennen.

Da haben diese Menschen geglaubt, das französische Volk würde gleich auf die Barrikaden steigen, wenn man die in den glorreichen Februartagen gepflanzten Freiheitsbäume umhackte. Sie haben geglaubt, die heißblutigen Pariser würden wieder Barrikaden bauen und dann könnte man leicht die Republik über die Klinge springen lassen, damit der Absolutismus, das Pfaffentum und die Hautefinance wieder sorglos schlafen und Zar Nikolaus in Petersburg, dem seit dem 24. Februar 1848 die Falten nicht von der Stirne weggekommen, wieder ruhig lächle. Aber das Volk hat die Mißhandlung der unschuldigen Bäume ruhig zugesehen und sich nur geschämt, daß Frankreichs Regierung so maßlos albern ist.

Die armen Freiheitsbäume! Als ich sie zum ersten Male sah, es war im Oktober, machten sie auf mich den trübseligsten Eindruck. Der Herbst hatte sie bereits entlaubt, und mit den an den kahlen Ästen hängenden, durch häufige Regen verwaschenen und zerrissenen Trikoloren trieb der Wind seinen kalten Spott. Viele dieser Bäume waren durch frevelnde Hand beschädigt; an manchen sah man sogar tiefe Spuren von Äxten und 39 Messern. Dies war besonders an jenen Bäumen wahrzunehmen, die in reaktionären Quartiers standen. In der Tat, sie sahen sehr gramvoll aus, diese Bäume. Ahnten sie vielleicht den ihnen bevorstehenden Meuchelmord? Nun rückte die Zeit der Ergänzungswahlen heran. Man fürchtete die Eroberung der Februarrevolution, das Suffrage universel. Die Majorität fürchtete, die Minorität könnte wachsen. Man mußte also das Volk ärgern, necken, reizen und zu einer Emeute bewegen, um dann einen plausibeln Grund zum Belagerungsstande zu haben. Der Polizeipräfekt Carlier, der fanatische Sachwalter der roten Reaktion, schickte also Ende Januar seine Leute aus, um den Freiheitsbäumen den Garaus zu machen.

Einige Dutzend Bäume fielen; aber das Volk machte leider keine Emeute. Da kamen die klugen Leute auf den Einfall, dieses großartige Werk der Ferdinand Barrotschen Politik nicht auf einmal zu vollziehen, sondern dem Volke Zeit zum blutigen Aufstande zu lassen. Eine ganze Woche dauerte dieses Umhacken der Bäume; aber das Volk war nicht zum Aufstande zu bewegen. Man hatte die Äxte umsonst geschliffen. Am 4. Februar wurde es etwas bedenklich auf der Rue St-Martin; allein gründliche Sachkenner, die sich auf Revolutionen gut verstehen und in den Physiognomien der Pariser deutlich zu lesen wissen, sagten gleich, daß die ganze Komödie mit einer Blamage für die Regierung enden würde.

Als ich am 4. Februar meine Wohnung verließ, sah ich auf dem Place du Havre etwa hundert Menschen stehen. Dort war soeben der Freiheitsbaum umgehackt worden. Er war einer der schönsten gewesen. Auf dem umgehauenen Stamme saß der Arbeiter, der das Werk 40 vollbracht hatte. Ich werde ihn nie vergessen, diesen Menschen mit den aufgeschürzten Ärmeln und mit dem schwarzen, krauslockigen Kopfe. Die gewaltigen Ellenbogen auf die Knie, den Kopf auf die riesigen Hände gestützt, saß er schweigend und bewegungslos da und starrte finster vor sich hin. Er sah aus, als ob er einen Mord begangen hätte.

Es hatten sich mehrere Gruppen von Männern, Weibern, Greisen und Kindern gebildet. Einer war besonders heftig und schrie, indem er auf den umgehauenen Stamm zeigte: »Quelle barbarie! C'est une provocation. On enlève ce symbole de liberté pour irriter le peuple, pour le forcer à la révolte; cela est clair.«

Ein schmächtiges Männchen aber, mit einem feingeschlitzten Munde und mit halb zugekniffenen Augen, sagte: »Il y a parmi nous des agents provocateurs, c'est clair aussi«, warf einen bedeutungsvollen Blick auf den Redner, zuckte die Achseln und ging.

Die Gruppen hatten sich dichter aneinander geschlossen, als ein etwa vierzehnjähriger Knabe, ein echter Gamin, mit einem von dem Freiheitsbaum abgerissenen Span in der Hand, die Menge mit den Worten teilte: »Laissez passer, messieurs et mesdames. Voilà un morceau de liberté!« Man lachte und ging auseinander.

Als ich den Place du Havre verließ, begegnete mir einer meiner Freunde, der mir sagte, daß auf der Rue St-Martin das Volk dem Umhacken des dort stehenden Freiheitsbaumes sich widersetzte. Ich schlug den Weg dahin ein. Die Boulevards, die durch das schönste Frühlingswetter sehr belebt waren, zeigten die freundlichste Physiognomie. Auf der Rue St-Martin sah man wohl hier und dort eine kleine Gruppe; aber keine 41 einzige dieser Gruppen hatte ein revolutionäres Ansehen.

Gegen Abend zogen mehrere Bataillone nach den aufgeregten oder vielmehr nach den aufzuregenden Quartiers. Als ich gegen neun Uhr mich dorthin begeben wollte, konnte ich nur bis zur Porte St-Martin kommen. Eine außerordentliche Menschenmenge drängte sich auf dem Boulevard St-Denis und St-Martin. Vor einem der dortigen Kaffeehäuser stand ein großer Freiheitsbaum. Auf diesen Freiheitsbaum wurde unter dem Absingen der Marseillaise und des Girondistenliedes die Trikolore gepflanzt, nicht die rote Fahne, wie am andern Tage die reaktionären Blätter behaupteten. Das Volk dachte gar nicht daran, diesen Baum vor den Schergen Carliers zu verteidigen; es schmückte ihn nur, um zu zeigen, daß es die Februartage nicht so leicht vergessen wie die Regierung, die nichts lernen wollte.

Das Volk war an jenem Tage durchaus nicht bestürzt. Es fühlte sich erstarkt durch die Schwäche der Reaktion, die durch Vernichtung unschuldiger Pappelbäume die Republik zu vernichten glaubte. Was aber Ludwig Napoleon betrifft, so hat er mit diesen Bäumen die letzte Wurzel ausgerissen, mit der er in Frankreichs Boden haftete. Er hat dem Pariser Volk die Freiheitsbäume vor die Füße geworfen, und er wird einst darüber stolpern und das Genick brechen.

Nun hätte man denken sollen, daß die Regierung, durch diese mißlungene Provokation gewitzigt, künftig wenigstens etwas behutsamer, etwas vorsichtiger, wenigstens etwas geistreicher in ihren Reaktionsgelüsten sein würde. Aber es geschah gerade das Gegenteil. Der nächste dumme Streich, den sie in ihrem 42 Provokationseifer machte, war noch viel dummer als der vorhergehende.

Wahrhaft verzweifelnd, daß das Volk zu keiner Emeute zu bewegen war, entschloß sie sich, dasselbe in seinem Teuersten anzugreifen, das Allerheiligste seines Herzens durch Schergenhand entweihen zu lassen. Das Volk, welches sich am 24. Februar aller Manifestationen enthielt, konnte doch nicht umhin, die Juliussäule, unter der seine Edelsten und Besten schlafen, mit Kränzen zu schmücken. Während der Nacht aber schickte Herr Carlier einen seiner Agenten, der die Kränze wegnahm. Das Volk war über diese Schandtat, deren kein Vandale fähig gewesen wäre, mehr als empört; es war von einem unbeschreiblichen Ekel gegen eine Regierung erfüllt, die sich selbst der allerschmutzigsten Handlung nicht mehr schämte. Als Charles Lagrange am andern Tage in der Assemblée nationale den Minister des Innern wegen dieser Greueltat interpellierte, antwortete Herr Ferdinand Barrot, daß jener Agent, der sich der Entweihung der Gräber schuldig gemacht, bereits entlassen worden. Wie hieß aber dieser Agent? Und welche Behörde war es, die ihm diesen Befehl gegeben? Auf diese einfachen Fragen, die sämtliche demokratische Blätter an die Regierung richteten, erfolgte als Antwort der Austritt Ferdinand Barrots aus dem Ministerium. Weil er den Mut gehabt, den Herrn Carlier zu desavouiren, wurde er diesem geopfert.

Wie rächte aber das Volk den Schimpf, den die verblendete Regierung seinen teueren Toten angetan? Wie ein feinfühlendes Volk sich rächen soll. Kaum war nämlich die Kunde von der nächtlichen Heldentat des Herrn Carlier bekannt geworden, als Tausende aus 43 dem Volke sich an die Juliussäule begaben und das Gitter derselben mit frischen Kränzen schmückten. Ich werde niemals den Eindruck vergessen, den der Anblick dieser Säule auf mich machte. Das Gitter, welches dieses schöne Monument umgibt und mehrere hundert Fuß im Umfange hat, war von vielen tausend Kränzen verhüllt und mit unzähligen Lorbeerzweigen, Blumensträußen und wallenden Bändern geschmückt. Aber noch immer strömten neue Massen mit frischen Blumengewinden herbei. Zwischen diesen Kränzen, Blumengewinden und wallenden Bändern hingen Gedenktafeln und Gedichte an so manchen Helden, der Weib und Kind, Eltern und Geschwister verlassen, um im Kampfe für die Freiheit sein Blut zu verspritzen. Diese Gedichte waren zwar nicht immer orthographisch, aber sie waren innig, schön und rührend. Hier und dort waren große Zettel angeheftet, auf welchen unter der Überschrift: Respect à la loi! jener Artikel des Code penal stand, der von der Entweihung der Gräber handelt.

Ich sah die ärmsten Kinder das Soustück, das ihr ganzes Vermögen ausmachte und vielleicht für ein Stück Brot bestimmt war, für ein Veilchenbukett hingeben, das sie an das Gitter befestigten. Ich sah arme Ouvriers mit rußgeschwärzten Gesichtern und schwieligen Händen mehrere Franken für Lorbeerzweige und Immortellenkränze ausgeben. So wußte das Volk den Schimpf zu rächen, den man an seinen Toten begangen. Diese Blumensprache aber, in der das Volk mit seiner Regierung nach dem 24. Februar redete, ist die revolutionärste Sprache, die es hätte sprechen können.

Die Regierung hat in ihrem blinden Wahne die Gräber der Helden entweiht, und das Volk hat mit 44 Immortellenkränzen auf diese Schmach geantwortet. Die Reaktion hat bei dieser Gelegenheit wieder gezeigt, daß sie nichts gelernt; aber das Volk wird ihr einst zeigen, daß es nichts vergißt. Das Volk schweigt; aber wehe der Reaktion, wenn es einst zu sprechen anfängt!

 


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