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Ich sitze auf einem Stein und warte, bis die eben aufgegangene Sonne stark genug ist, den Tau aus meinen Kleidern zu ziehen. Sie haben sich über Nacht weidlich damit vollgesogen. Wo mein Leib lag, ist das Gras geknickt. Wie ein Schattenriß ist meine ganze Figur in der Wiese abgebildet, eine gar armselige Spur, die ich da auf dem Boden der Heimat hinterlasse, und eine schnell vergängliche. Denn es knistert bereits in den Halmen. Der Morgen kämmt das Gras, und die Sonne will jeden Halm einzeln mit ihren roten Fingern aufrichten. Bevor ich noch den Wald auf meiner Weiterfahrt werde durchschritten haben, wird dieses mein Bild ausgelöscht sein. Genau so wird es in der Stadt mit dem Gedächtnis an mich geschehen. Der Scholze-Schuster wird mich wohl schon morgen, das Mariedlein spätestens übermorgen vergessen haben, wenn es sich erst ein wenig gewöhnt haben wird an die Hiebe des Lorenz-Schreiners, der es mitsamt dem fremden Kinde als Ehefrau, mehr aber noch als Magd bei sich aufgenommen hat. Auch werden die Leute die Schima-Bude nach dem neuen Besitzer nurmehr das Klosterhäusl nennen. Der Adrian freilich wird mich vermissen bis an sein Ende. Weil sich aber morschende Knochen nicht gar lange mit der schweren Last eines dicken Bauches plagen, sondern diese Last je eher desto lieber ablegen wollen, wird mein Andenken auch an dieser Stelle nicht mehr allzu lang lebendig bleiben. Nur wenn das Kloster der Bedingung entspricht, die ich für die geschenkweise Übernahme unseres Hauses gestellt habe, und allmonatlich einen ehrwürdigen Bruder auf den Kirchhof entsendet, um das Grab zu pflegen, wird man sich noch der Frau Mutter erinnern. Aber meiner nicht. Es müßte denn sein, daß der Cäsar doch noch einmal zurückfände, sich auf mich beriefe und ein Recht begehrte, dessen er sich so leichtsinnig entäußert hatte. Aber wie ich den Geiger kenne, wird er dies niemals tun. Er wird die Klosterleute auf ferne Rückkehr genau so warten lassen, wie ich mich ein ganzes Jahr vergeblich nach einer Nachricht sehnte, bis sich endlich bestätigte, was ich ohnedies die ganze Zeit über befürchtet hatte, nämlich daß eine jede Kunde von ihm ausbleiben würde.
Der Abmachung mit dem Geiger gemäß bin ich jetzt frei, mein eigener Herr und durch nichts gebunden, wie der Vogel, der sich soeben von dem Ast über meinem Kopfe emporhebt. Wie einen goldenen Ball stoße ich ihm einen Jauchzer nach. Der Vogel fängt ihn auf und läßt sich damit auf der Spitze einer Lärche nieder, welche zwischen mir und der Sonne steht, so daß ich, geblendet, nicht sehen kann, was er mit meinem Jauchzer treibt. Oder ist es die Scham, welche mir den geraden Blick plötzlich verbietet? Denn ich höre, daß mein goldener Ball wie ein Dreck zerhackt und zerpflückt wird, wie der Vogel meinen lockeren Verstand verhöhnt und mich schließlich meiner eigenen Pflicht belehrt, indem er mir die seinige zeigt und beruhigt bald wieder sein bestes Lied anstimmt. Ich greife nach meinem Schludersack und nach den darin verborgenen Papieren, wo meine wenigen Kantaten und Giguen und die Motive eingestochen sind, die ich einmal zu meinem großen Freudenevangelium zusammenfügen will. So finde ich langsam aus meiner Beschämung wieder heraus. Ich begreife meine vergessene Pflicht. In der vergangenen schlaflosen Nacht hatte ich mir die Frage nicht zu beantworten gewußt, warum ich denn verschleuderte und verließ, was ich besessen hatte, und warum ich lieber Bettler sein wollte ohne Dach, überall und nirgend zu Hause. Jetzt weiß ich, daß das Werk mich treibt, weil sich der Kitt dafür nicht in der Enge da unten, sondern nur in der Weite finden läßt. Denn wer allen geben will, muß zuerst lernen, alles zu umspannen. Weit wie der Himmel muß die Brust werden, um die Welt wie einen Stern in sich aufzunehmen. Der Vogel singt den Morgen aus, weil er ihn in sich getrunken hat. Auch ich muß vorerst trinken gehen, denn was ich bereits wahrhaft besitze, ist noch nicht genug. Was besitze ich schon?
Diesen Stein, diese Wiese zu meinen Füßen, dort das Feld, das sich wie eine eben ergrünende Decke zwischen die beiden Hügel legt. Tiefer darunter die Ebene mit den Adern der Straßen und des Flusses (einer dieser Pfade war heute der meinige, die tausend anderen waren es gestern und ehedem). Dann diese Stadt mit dem Zeigefinger des Turmes, der auf den Plansker-Wald hinweist, die anderen Höhen rechts, das Gesenke und den Einschnitt des Flusses, und wieder die Hügel links. Das alles besitze ich, weil ich jeden Kiesel, jeden Anger zwischen den Wegen, jede Gasse hinter den Giebeln, jede Einschicht zwischen den Hügeln kenne und von ihrem Dasein weiß, obwohl ich sie von hieraus nicht sehe; weil mir alles Wirklichkeit ist, was mir sonst – träte ich als Fremder zum ersten Mal an diese Stelle –, bloß wie ein großes Bild erschiene, von einem gewaltigen Meister unter Verzicht auf alle Kleinigkeiten in großen Zügen gestaltet, in um so vollendeterer Kunst, je mehr sie das Verlangen nach dem Erlebnis eben jener Kleinigkeiten erst aufreizt, aus denen ich bereits herkomme.
Dieses Land vor meinem Blick besitze ich also. Aber wie schmerzlich fühle ich es gerade jetzt, daß es trotzdem nicht mein eigen ist. Du besitzest, worüber du wie ein Herrscher seinem Knechte gegenüber bestimmen kannst. Du besitzest jeden Winkel dieser Stadt, weil du mit der Erinnerung, daß er dir einmal zu irgendeinem Werke diente, das Gefühl verbinden darfst, er werde dir wiederum dienstbar sein, sobald du es willst. Aber zu deinem Eigentum wird erst das, was in dein Wesen überstießt und so ganz damit verschmilzt, daß du frei von allen Unwesentlichkeiten nur dein eigenes Wesen darstellen müßtest, wenn du wie jener Maler ein Bild davon malen wolltest.
Während ich, auf meinem Steine sitzend, weitersinne, will die Sonne höher gegen den Mittag steigen. Mit jedem ihrer Schritte verändert sich jedoch dieses Land in meinem Auge und damit zugleich in meinem Inneren. Und da meine ich denn, daß nur der das Wesen eines Dinges ganz erkennt, wer es nicht mehr mit leiblichem Auge sieht. Und ich erschrecke nicht vor der Tollheit des Gedankens, daß nur das wahrhaft und wesenhaft unser eigen sein kann, was wir verloren haben. Deshalb war der Tod der Frau Mutter nur ein Hineinsterben in mich, auf daß sie von nun an erst wahrhaft in mir lebe. Und auch du, liebes Land, wirst mein, indem ich von dir gehe. Ebenso wie ich das Lied der Frau Mutter erst bei ihrem Tode erfinden konnte, finde ich auch dein Lied erst, wenn ich gegangen sein werde. Du mußt erst namenlos werden, um dich aus namenloser Liebe singen zu können.
Der Schludersack liegt aus meinem Rücken, der Knotenstock steckt in dem Leibriemen und baumelt herab wie ein Schwert. Ich kann seine Stütze entbehren, denn über den Kamm führt ein leichter Weg. Außerdem müssen meine Finger frei sein, denn während ich durch den Wald gehe, wollen sie eine neue Weise auf der Geige versuchen.
Die Hossiner Kirche ist ein eigentümlicher Bau. Sie lädt nicht wie andere Gotteshäuser mit einer sanften Werbung zum Eintritt und zum Gebet, sondern sie versperrt dem, der da ahnungslos aus dem Walde tritt, wie eine weiße Dogge breitbeinig den Weg und bedroht ihn, wenn er nicht schnell ein Gebet zum heiligen Gervasius findet, dem sie geweiht ist. Bevor ich aber den geforderten Zoll erlegen will, setze ich mich auf einen gefällten Stamm, der mir gerade als Schreibtisch zupaß kommt, und will die während der Wanderschaft im Walde erfundenen Weisen schnell noch auf dem Papier festhalten, damit sie nicht wieder entflögen. Denn sie schienen mir wertvolle Bausteine zu einer künftigen Motette.
Aus dem Schornstein des Pfarrhauses kringelt himmelblauer Rauch. Sein sanftes Wallen führt meine Gedanken in die Irre. Ich sehe den Pater Adrian sich eben langsam aus dem Bette räkeln. Dieses Geschäft gelingt ihm heute doppelt schwer, weil sein Hinterer noch von den Hieben schmerzt, die ich ihm gestern bei unserem Abschiedsringkampf verabreicht hatte. Darüber steche ich anstatt einer Note lachend eine kräftige Sau auf das Papier wie die Anmerkung eines Paukenschlages. Ich bereue die Schläge nicht. Nachdem ich dem Adrian all die lange Zeit hindurch meinen eigenen Hosenboden zur Bedienung ehrlich hingehalten hatte, wollte ich schließlich auch einmal der Flegel sein. Wenn ich dabei jedoch besonders grob vorging, war der Adrian nur selber schuld daran. Hätte er mich das Abschiedsgesetzlein, das ich mir durch einige Tage mühevoll zurechtgelegt hatte, ruhig aussprechen lassen und hätte er mich nicht immer mit allerhand Zeug unterbrochen, dann wäre der Abschied für ihn weniger schmerzhaft ausgefallen. Er ist alt genug und konnte wissen, daß derjenige, welcher einem anderen den Stuhl gewaltsam verhindert, sich dann auch einen unvermuteten Kot mitten in der Stube gefallen lassen muß.
»Gerauft wird, wie immer!« schrie er mich an und hatte mich sogleich bei den Haaren. Wir schlugen wie Klötze hin und wälzten uns auf dem Boden. Es dauerte nicht lange, und ich hatte den Pater zwischen den Knien und ritt auf ihm, wie der Narr zur Fastnacht rücklings auf einem Esel reitet. In dieser Stellung war mir des Paters Hinterer gerade weidgerecht. Ich hieb los wie mit dem Schusterhammer auf den Leisten, oder wie ein Paukenist auf das Fell. Mit jedem Schlag schrie ich ein Vergeltsgott für seine Liebe und Güte. Und weil der Pater – der Herrgott ist Zeuge! – ein rechter Vater zu mir gewesen ist, hätte ich bis zum jüngsten Tage trommeln müssen, wenn ich auf diese Weise alle meine Dankschuldigkeit hatte abstatten wollen. Endlich versagte mir die Hand. Auf daß mich der Pater besser verstünde, was ich ihm nun zu sagen hätte, bückte ich mich zu ihm nieder. In der Hitze meiner Erregung merkte ich nicht einmal, daß ich dabei meine Bestimmungen mit dem verlassenen Haus und meinen Willen, es dem Kloster zu schenken, statt in das Ohr, in den Steiß des Paters brüllte. Dann legte ich den Hausschlüssel fürsorglich und sachte wie ein heilsames Pflaster auf den gemarterten Hintern des geistlichen Herrn und stieg ab.
» Deo gratias!« schrie der Pater, als ich eben die Türe seiner Zelle hinter mir schloß. »Ich habe keine Angst um dich, Spindl!«
Als er mir durch das Fenster nachwinkte, glänzte sein Gesicht durch den Schweiß wie die Sonne durch den Aprilregen.
Die Erinnerung an diesen Abschied macht mich so leicht, daß ich nicht mehr auf dem Baumstamm sitzen kann. Ich reiße die Geige aus dem Sacke und stimme zum Preise des Adrian ein richtiges Polterliedlein an. Mit diesem Lied geschieht aber etwas Seltsames. Kaum daß die Weise, der Figur des Gefeierten entsprechend, feist und fett anschwoll, schmilzt sie wiederum in sich zusammen, wird schlotterig und knatterig, als gelte sie dem Cäsar. Die Dürre des Geigers vermischt sich mit dem Fett des Adrian in einer ergötzlichen Variation, und als ich schließlich die gestrigen Hiebe noch einmal über die Geige peitsche, unterscheide ich nicht mehr, wem von beiden sie gelten, und wem ich das Vergeltsgott für eine allzu lange von mir verkannte Liebe wie das Tedeum laudamus in den Morgen singe. Wie der Schreiber einen kunstvollen Schnörkel unter ein Testament malt, ziehe ich schließlich den letzten Bogenstrich mit einem Gefühl, als wäre wieder ein Geschäft abgetan und erledigt. Punktum!
Ganz so ist es freilich nicht. Denn während ein Schreiber die getrocknete Schrift erleichtert in einen Schrein stellt und nichts mehr davon wissen will, fühle ich mich gestärkt und beglückt, weil das Überwundene mich als lebendiger Schatz bereichert, und ich es nun als neuen Teil meines Lebens unverlierbar mit mir tragen kann. Und wenn ich ein Erlebnis nicht heulend wie ein altes Weib abschließe, sondern eben eine Geste tue, die der eines Schreibers ähnelt, dann geschieht dies nicht etwa aus Gleichgiltigkeit, sondern vielmehr aus dem Übermut der Überzeugung, daß es für mich keinen Abschied gibt. Ich kann niemals verlassen sein. Mit hundert Menschen, mit all meinen Vorfahren und mit allen, denen ich einst begegnete, gehe ich alle meine Schritte gleichsam Arm in Arm. Schon vor undenklichen Zeiten war ich ein König, sammelte ein Heer, band es an mich und ziehe jetzt mit einem stattlichen Heerbann aus zur Eroberung der Welt. Es gibt keine Schlacht und keinen Sturm in diesem lachenden Krieg: dem Bummler neigt sich willig das ganze Land. Ich bin der einzige, der noch das Gebot der Lebens versteht. Mir, dem letzten freien Menschen, der seine Knechte lenkt, wohin der Marschallstab seiner Nase weist, unterwirft sich die Erde.
Und ich ziehe über Stock und Stein, Wiesen oder Straßen, durch Acker und Wald, über Fluß und Berg, und die Namen von Auen, Mooren, Fluren, Dorf und Stadt sind nur ein leerer Schall, nicht wert, daß man nach ihnen frage. Schade auch um die Zeit, welche von den Namen erfüllt wird. Sie übertönen nur den feinen Atem der Erde. Du aber bist maßlos und willst nicht, daß die Unendlichkeit durch solche Pausen zerteilt werde. Das Licht deiner Sonnen reicht bis an das Ende der Nächte, und die Tage sind heller, weil die Sterne von der Nacht her nicht erloschen sind. Im Traum wanderst du, nimmersatt, die Straßen des Tages und, erwacht, gehst du auf den Wegen deines Traumes. Die Erde dreht sich unter deinen Füßen hinfort, und du weißt nicht, wann und wo du bist. Für den Hunger gibt es Beeren im Walde, oder Früchte auf den Bäumen, oder Milch und Brot als Lohn für ein Lied. Mit der Sorge um den Leib fällt er von dir ab. Du bist nicht mehr der Tänzer, sondern des Tänzers Tanz. Die Jahreszeiten sind bloß vier Sätze deiner Symphonie, und jeden Menschen, der dir begegnet, zwingst du in deinen Takt.
So bummle oder springe ich durch das Land. Auf irgendeinem Berge, wo der Blick weit ringsum geht, schlage ich für mein Gefolge ein Lager auf, lasse mich von einem Felsblock über alle erheben und halte eine Bergpredigt:
»Liebe Obristen, Hauptleute, Feldweibeln, Gemeine im Trosse, insgesamt und allgemein! Keiner von uns weiß zwar mehr, ob wir erst gestern miteinander ausgezogen sind, oder wie viel Jahre seitdem bereits vergangen sind, als wir das letzte Mal auf dem Hossiner Berg standen und in die Heimat hinuntersahen. Denn mit König Alexander lebt sich das Leben wie ein einziger Tag, und wo der König den Fuß anhält, dort ist Heimat. Die Zeit läßt sich vielleicht an den Dornenkratzern der Waden und an den Beulen messen, die wir auf den Kirchweihen erlitten, wenn mit dem letzten Gast irrtümlich auch der Musikant aus dem Wirtshaus geprügelt ward. Aber ein rechter Krieger zählt nicht die Schrammen, sondern nur die heilen Flecke seiner Haut und freut sich darüber, daß die Rüstung noch für viele Schlachten taugt. Weil sich uns die Welt aber noch nie so weit und breit wie ein geschmücktes Jüngferlein dem Bräutigam angeboten hat, so dürfen wir wohl ein wenig Rast bei einer Jubelfeier halten. Sehet um euch! Alles ist neu, und doch ist gleichzeitig alles schon längst irgend einmal geschaut. In allem eroberten Fremden grüßt uns etwas Bekanntes und Vertrautes. Es ist doch so, als kämen wir wie nach einer langen Reise überallhin wieder zurück. (Halt das Maul, Zenzin! Ein blödes Marketenderweib hat zu kuschen und nicht das Maul zum Spott zu verzerren, selbst wenn der Feldherr den größten Unsinn quatscht. Und du, Großvater, brauchst die Augen vor dieser meiner Weisheit nicht zu sehr aufzureißen. Als Feldobrist lernt man eben mehr, als ein bloßer Essenkehrer verstehen kann.) Ebenso wie die Welt sich als ein geschlossenes bemaltes Bilderband durch mich hindurchdreht, geht auch ihr alle durch mich hindurch und mit mir kehrt ihr alle wieder in einem großmächtigen Kreise. Das Leben ist ein Kreis, im Kreise geht der Tanz. Immer wieder und überall tanzen wir auf den Hossiner Bergen. Der Spindl lehrt euch tanzen.