Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Meine Schusterkugel ist trüb geworden und zeigt keine Bilder mehr. Wenn das Mariedlein die Stube betritt, zuckt mein Herz nicht auf, sondern es bleibt ruhig, als ob nie etwas zwischen uns gewesen wäre. Es berührt mich auch nicht, daß das Bett des Gesellen nun jede Nacht leer bleibt. Es ist mir vielmehr recht so, denn in dem engen Kammerloch atmet einer allein leichter als zwei, besonders wenn die Fensterluke verschlossen sein muß. Denn der Winter will bereits einfallen.
Ich halte die Arbeit wie einen Stier bei den Hörnern und schufte für drei. Die Gunst der Meisterin wächst von Tag zu Tag, und deshalb wachsen auch die Klöße, die sie mir vorsetzt. Der Geselle lacht sich hinter meinem Rücken in die Faust und stellt seiner Schürze noch früher nach. Über meinem Fleiß verlernt der Meister das Schmunzeln nicht mehr, weil er deshalb die eigenen Hände weniger auf dem Leisten zu halten braucht.
Würde und Stand bleiben unveränderlich verteilt. Aber es verlagert sich immer mehr die Arbeit und die Last: alsbald mache ich des Meisters Werk, während er des Buben Amt übernimmt und mit den Stiefeln und Schuhen zu den Kunden rennt. Es fehlt nur noch, daß ich dem Meister die Löffel balbiere, wenn er sich von der Straße allzulange nicht heimfinden will. Aber wenngleich auch ich ihm die Schellen nicht verabreichen darf, bleiben sie ihm trotzdem nicht erspart. Dieses Geschäft läßt sich die Meisterin nicht nehmen und besorgt es gut und zehnfach. Wenn es in der Kammer trommelt, als schlügen zwanzig Paukenisten gleichzeitig einen Wirbel, dann fliegt des Meisters Schädel zwischen den liebkosenden Händen seiner zarten Gesponsin so schnell hin und her, daß er zwischen den flatternden Schlägern nurmehr als ein magischer Strich zu sehen ist. Hernach heißt es dann, der Meister werde von der Galle ans Bett gefesselt, und die Leute müssen dann acht Tage auf ihr Schuhwerk warten, wenn sie es inzwischen nicht lieber selbst holen kommen.
Auf diese Weise bin ich augenscheinlich auf dem besten Weg, ein braver Bürgersmann zu werden, wie es die Satzung der Gemeinschaft verlangt: ein ergebener Knecht des eigenen Handwerkszeuges, ein Sklave der Materie, dessen Seele sich schon längst beschieden und das Sehnsüchten verlernt hat. Nur manchmal seufze ich noch auf, wenn ich mich erinnere, daß einmal – es mag schon endlos lang her sein –, alle meine Wege und Stege wie mit Klang und Tönen bestreut waren, daß ein jedes Ding irgendein Lied für mich bereit hatte, ja, daß mir die ganze Welt als ein Spielwerk erschienen war. Jetzt aber ist alles stumm, als sei mit dem Lied, womit ich die Frau Mutter in den Tod geigte, aller Klang verfangen und verklungen. Dann bin ich die kommenden Nächte wie eines Landwirts Knecht und ackere das Hirn nach jenem Liede um wie nach einem Schatz. Aber mein Boden ist nur dürrer Sand, und was ich ausgrabe, ist nur Quecke.
Ich bin zu lange stillgesessen, und meinem Boden fehlt die Luft. Deshalb lege ich eines Nachmittags die Arbeit vorzeitig aus der Hand und mache mich davon. Darüber klafft der Meisterin das Maul, und ihr Kiefer klemmt sich vor Staunen fest. Das Wort verspießt sich ihr in einer Zahnlücke und bleibt wie ein Fisch in der Reuse hangen. Ich glaube, die Meisterin würde sich mit ihrem Maulwerk von alleine wieder zurechtfinden; denn nur ein gedoppelter Esel setzt einen gefährlichen Rachen instand, um nachher von ihm verspeist zu werden, und ich lasse die Meisterin stehen. Ich gehe auf die Straße, schlendere kreuz und quer und blicke nur vor mich auf den Boden hin, wo die ersten Schneeflocken zerrinnen, kaum daß sie sich noch recht hinlegten.
Plötzlich stoße ich auf den Meister.
»Was suchst du hier?« schreit er mich an und fuchtelt mit den Armen vor meinem Gesicht.
Ich ergreife zunächst seine aufgeregten Hände, lege sie behutsam an seiner Hosennaht zur Ruhe und entgegne sterbensernst, daß ich ihn meinerseits just eben dasselbe hätte fragen wollen.
»Geht lieber heim und helft der Meisterin!«
»Was ist geschehen?«
Da kitzelt mich zum ersten Mal seit langem wieder der Schalk.
»Die Meisterin entbindet schwer.« Ich meine damit, daß sie den Kiefer nicht aus dem Klamm entbinden könne. Der Meister aber faßt es anders auf.
»Jesus Maria Josef! Ich habe kein Wort gewußt, daß sie gesegnet ist.«
»Sie kann nicht reden«, belehre ich ihn.
»Dann ist erst recht die höchste Zeit! Es war beim Mariedlein ebenso. Bloß wenn sie von den Wehen gepreßt wird, hält sie die Klappe.«
Der Meister rennt quer über die Straße, hält aber mitten im Laufen inne, wendet sich, stürzt zu mir zurück und stellt sich in aufgeregte Positur: »Was sagst du jetzt, Bube? Dein Meister ist eben noch wer! Hä, hä.«
Dann stolziert er gemessen zum Hause der Wehmutter Neuberin hinüber und zieht an dem Glockendraht.
Was die Meisterin zur Welt brachte, ob die Neuberin eine »saudumme Gans« auffing, oder ob sie dem Meister einen »ausgemachten Heuochsen« an die bereite Vaterbrust legen durfte, das weiß ich nicht. Jedenfalls war der Meisterin noch am gleichen Tag keine Not von der schweren Stunde und dem Meister kein Stolz auf die Nachkommenschaft seines Geschlechtes mehr anzumerken. Aber weil alle schwiegen, hütete ich mich zu fragen. Daß mir der Streich jedoch nicht vergessen ward, merkte ich, weil die Klöße wieder zusammenschrumpften, als hätten sie es mit den Nieren.
Durch den Possen, den ich dem Meister spielte, fühlte ich mich erleichtert, gerade so, wie wenn ein Eseltreiber, der einen Salzsack auf dem eigenen Nacken zu Berge getragen hat, plötzlich darauf kommt, daß er dieses Geschäft ebensogut durch das Vieh hätte besorgen lassen können, und die Last endlich ihm überschnallt. Lauf damit weiter, mein Schustereselein! Ich will frank gehen. Und die selige Frau Mutter wird es mir nicht verargen, daß ich lieber ein lustiger Treiber als ein trauriger Esel sein will.
Erhobenen Hauptes sehe ich jetzt, wie die Schneeflocken aus den Wolken gleich den Federn aus den Betten der Frau Hulda tanzen, und lasse sie gegen mein Gesicht zielen. Ich schlendere dahin, recht ein Hans-Guck-in-die-Luft, höre das Rad des Seilers surren, einen Webstuhl klappern, aus der Hufschmiede das Essenfeuer fauchen, die Mahlsteine in der Mühle ächzen, Sägen knirschen, Feilen quietschen, vor polternden Wagen die Rinder im Joch und die Pferde im Gestränge stöhnen, Peitschen knallen, Hämmer auf die Fässer fallen und Scheren durch das Blech kreischen. Wie ein großes, in Stahlfesseln gekettetes Tier erscheint mir jetzt die ganze Stadt. Von allen Seiten blafft sie mich an mit ihrem heißen Atem. Ich fühle, daß sie mich haßt, weil sie nicht Zeit hat, dorthin zu schauen, wohin ich mit aufwärts gewendetem Antlitz blicke. Sie haßt mich, wie eine Schar von Knechten den letzten Freien in ihrer Mitte haßt, den sie schon in Augenblicken innerer Trägheit und scheinbarer Zermürbung überwunden und unter dasselbe Joch gezwungen zu haben glauben, der aber dann plötzlich doch wieder in selbstverständlicher Freiheit aufsteht. Sklavin ihrer Arbeit, haßt mich die Stadt als Herren über die meinige. Während sie ihr Tagwerk hetzt, um sich auch nächtens in neue Robot zu stürzen, weil sie nicht genug Silber und Gold hinter dem Kassenschloß haben kann; während sie die Bank um des Silberlings willen hobelt, das Schloß wegen des Batzens schmiedet, mache ich meine Schuhe erstens wegen ihrer Zierlichkeit und wegen ihres Glanzes, aus Freude am Schaffen und am Geschöpf, zweitens aber deswegen, um Zeit für meinen anderen Teil zu gewinnen, der nicht vom Fressen oder Saufen satt wird, sondern der just nach eben diesen Schneeflocken verlangt, welche sich mit dem Munde haschen lassen, auf den Lippen wie eine Hostie zergehen und die Seele erquicken. Ich habe Mitleid mit dieser Stadt. Selbst die Menschen darin sind zu lauter Werkzeug verzaubert, und es muß erst einer mit starkem Atem kommen und sie mit seinem Anhauch aus der Haft befreien.
Mir ist plötzlich, als wäre ich selbst dieses erlösenden Hauches mächtig. Denn wenn mein Lied die Kraft hatte, sogar die Seele der Frau Mutter sänftiglich in das jenseitige Leben zu geleiten, dann muß es ihm wohl auch gelingen, bloß schlafende Seelen ins Diesseits aufzuwecken.
Es ist mit den Possen allein nicht genug. Die Leute bemerken nicht, wohin dein Spott zielt, sehen die Blöße nicht, die du damit aufdecken willst. Sie nehmen deine Possen nicht als Lehre, sondern nur als Böswilligkeit entgegen. Ein jeder sagt, der Spindl sei ungut und mache bloß einen Narren aus den anderen. Keiner aber sagt sich, daß er selbst in Wahrheit ein Narr sei, denn nur vollendete Narren lassen sich durch Possen wirklich verletzen. Keiner will erkennen, mit was für dummem Zeug er doch behangen und belastet ist, und keiner will sich mühen, es abzutun, um künftig dem Spott eben keine Zielscheibe mehr zu bieten.
Ich muß mir fürder also ein anderes Verfahren zurechtlegen, um die Leute innewerden zu lassen, was ihnen entgeht, wenn sie sich bloß an Geld und Geldeswert hängen. Ich muß also doch noch ein Prediger werden, aber kein solcher, wie der Pater aus mir einen hatte machen wollen. Mit Worten läßt sich meine Lehre nicht verkünden. Dazu muß die Geige her. Und die Geige soll mir die Herzen solange letzen, bis die Menschen das liebe Leben nicht mehr als Qual, sondern als herrliche Lust anschauen und darüber lachen. Erst dann werden sie die Lehre meiner Possen verstehen und das schwerere, aber schönste Lachen lernen: das Lachen über sich selbst. Wie aber soll ich diese Evangelien verkünden, wenn das wunderkräftige Lied in mir selbst entschlafen ist und nicht mehr aufstehen will? Jetzt wüßte ich meinen Quell zu nützen, aber er ist versiegt, und ich bin weder der Rute kundig, ihn wieder aufzufinden, noch des Werkzeugs, ihn zu erbohren.
Mit solchen Gedanken gelangte ich vor eine Tür und nehme jetzt ihren Drücker in die Hand, nur weil er handlich ist. Ich spiele mit ihm ohne Absicht, die Türe zu öffnen. Dann stehe ich aber doch in der weißen Stube. Vor seiner Zimmerorgel sitzt der Pater Adrian. Er sieht sich nicht nach meinem Eintritt um, sondern beginnt das Spiel, Und jetzt weiß ich, daß ich nur dieses Spieles wegen hergekommen bin.
Die Orgel erhebt eintönige Schritte. Wie sich ein Kind zum ersten Male von Tisch zu Stuhl tastet, so setzt auch sie vorsichtig einen Schritt vor den anderen. Allmählich aber wächst die Sicherheit des Spiels und es findet zu jenem Maß und Takt, der – von der Kraft der Wesenhaftigkeit bestimmt – auch in aller Zukunft das Maß seines ferneren Ganges durchs Leben sein wird, der zugleich aber auch schon alle Schicksalsfähigkeit in sich birgt. Ich erschauere vor der unbekannten Schöpferkraft, die da mit wenigen Tönen eine Kinderseele vor mich hinstellt und alle ihre wesentlichen Anlagen enthüllt. Das Zeitmaß erfaßt mich. Ich erbebe unter seiner Unerschütterlichkeit, die niemals verbogen, sondern höchstens nur gehemmt, gepeitscht, erstickt oder zerbrochen werden kann. Ich erbebe vor der Seele eines Bruders, die, aller Körperlichkeit entbunden, vor mir als Geist in ihr eigenes Leben geht, heilig-keusch enthüllt.
Und jetzt trifft mich auch die wortlose Stimme und verkündet mir Hoffnungen und Zuversichte. Es sind eigentümliche Hoffnungen, erfüllend allein das Zeitmaß dieses besonderen Wesens, anders als die meinen und fremd, und rütteln doch die meinigen wach. Und ihr Zeitmaß schüttelt jetzt auch den Taktschlag meiner eigenen Zeit, treibt ihn an, so daß ich, der ich mich sonst bloß unachtsam von ihm treiben ließ, seiner inne werde. Das Erlebnis des anderen zwingt mich zum Erlebnis meiner selbst. Ich wehre mich gegen diese Kraft, aber nur, damit ich mich um so beseligter von ihr bezwungen sähe. Und während ich mich endlich ganz ergebe, frage ich: Woher kommt diese Macht?
Da hebt der Alt an, eilt der ersten Stimme nach, erreicht sie, wird getrennt, sucht und findet wieder, geht mit ihr hin, sie fest umschlingend. Und plötzlich weiß ich, daß diese zweite Stimme meine eigene ist, und ich bete: Bruder, in allen Schicksalen laß mich Bruder sein!
Als hätte mein Gebet das Schicksal herausgefordert, auf daß die Brüderlichkeit sich erweise, empört sich gellend der Tenor und widersetzt sich unserem Bund, verfolgt und erreicht uns. Und es gibt keine Flucht mehr. Jetzt gilt es Kampf. Steh fest, Kamerad! Rücken an Rücken! Über uns trommeln die Fahnen! Wir schaffen es!
Da rollt es von tief unten heran. Ein eiserner Schritt zermalmt den Boden. Wir schwanken wie Schalen auf dem Meere. Halt fest, Kamerad! Duck dich! Es zückt der Blitz! Spring dem Donner aus dem Hieb! Wo bist du? Wo bin ich? Jesus! Zu Ende! Zu Ende!
Christ ist gerufen. Seine Hand erscheint in einem großmächtigen Glanze. Sie gebietet dem Sturm und glättet die See, streichelt dahin, langsam, von hier bis in die Unendlichkeit und breitet die Ruhe aus. Von der Lichtsäule eines Vierklangs getragen, schwebt die Seele Christi als eine Taube über unserer entschlafenen Not. – – Dem Pater fallen die Hände vom Spielbrett. Jetzt nimmt er mich unter dem Arm und führt mich in den Garten. Er schreitet langsam aber weit aus, der Kies knirscht unter seinen Sandalen, und das Gewölbe des Kreuzganges widerhallt von dem Tritt.
Es schneit nicht mehr.
In dem versinkenden Abend gluten die spätesten Georginen in einem eigenem Licht.
Arm in Arm mit dem Pater kehre ich zu mir selbst zurück. Langsam löse ich mich wieder aus dem Bann der Ruhe, in die mich das Spiel des Paters eingeführt hatte, und grundtief erzittere ich in Unrast. Es regt sich, es wird, und ich ahne ein eigenes Lied.
Beglückt und immer mehr erfiebernd, weiß ich gleichzeitig auch, daß sich dieses Lied nicht mehr unbändig verströmen dürfe, sondern ein Werk werden müsse, wie ich eben eins gehört. Aber doch anders als dieses: wohl gleichfalls aus dem Ringen um Gott geboren, aber zu einem anderen Ziel; nicht um einen Sitz auf Gottes ruhiger unendlicher Hand, sondern um einen Platz auf seinem Mund, in der Wiege seines Lächelns; nicht bloß um Befreiung und Abend, sondern durch Befreiung und Abend in jene morgendliche Kraft hindurch, vor deren Glanz die Säfte in die Knospen gehen. Wie der unbekannte Meister des verklungenen Liedes will auch ich einen Dom bauen, aber nicht bloß ein dämmriges Asyl, wo die Särge in Frieden ruhen, sondern ein helles Haus voller Licht, das jeden schlafenden und müden Wunsch zu einem neuen Keim erweckt.
Wie aber soll ich bauen, wenn ich Hammer, Meißel und Kelle nicht gebrauchen kann?
O daß ich bei einem Schuster hocken und Schuhe flicken muß, statt daß mich der Meister einer Bauhütte lehre, wie aus den wildgewachsenen Blöcken meiner Weisen die Steine geschlagen werden und wie man sie zu den Gewölben bände!
Ich falle den Pater an: »Wie baut ihr und wie stecht ihr es mit den schwarzen Köpfen in die Zeilen, damit es nicht mehr entwiche, sondern bestehen bliebe für alle Zeit?«
Der Pater faßt mich an den Schultern und schüttelt mich vor Freude. »Fragst du endlich danach? Du hast uns lange auf diese Frage warten lassen. Deine Frau Mutter hat sie nicht mehr erlebt. Wir beide haben geahnt, was in dir steckt und in dir wird. Deshalb hüteten wir auch dein Wachstum vor einem jeden Eingriff. Es sollte wie ein Tännling auf der Heide wild wachsen, in sich selbst erkraften und nicht an vorzeitiger Zucht verderben.«
Der Pater wandte sich ab und spielte mit einem Blatt. »Auch in mir hat es einmal geklungen wie in dir. Aber ich hatte noch nicht genug aufgehorcht, wie meine eigene Weise töne, hatte meine eigene Art noch nicht genug stark in mir befestigt, als daß ich ohne Gefahr für die eigene Wesenhaftigkeit hätte auf die Weise eines anderen hinhorchen dürfen, ohne von der fremden Kraft bezwungen und überwältigt zu werden. Ich selbst war noch zu unreif, als ich diese Fuge des Johann Sebastian hörte, und viel zu früh hat mich der Frater Anastasius in der Baukunst der Musik zu unterweisen versucht. Gott hab' ihn selig, und Dank sei seinem guten Willen! Amen. Aber er war der Kunst des wahren Lehramtes nicht mächtig und so geleitete er mich in die Regeln und Gesetze wie in eine Irrnis. Er machte mich glauben, der Geist diene dem Gesetz, und nicht umgekehrt das Gesetz dem Geiste. Meine innere Stimme erstickte an den Fesseln der Form. Ich war nicht so kernig wie du, Spindl. Ich begehrte nicht auf, als ich fühlte, wie mein Herrgott gebunden ward, sondern ich ergab mich und verriet dadurch den Herrgott in mir und kreuzigte ihn. Ich schlug die Nägel der Ratio in den lebendigen Leib, auf daß ich ihn hielte; aber die Seele entschwand daraus, und nur ein Leichnam blieb auf dem Holz. Ich hatte die Form bezwungen, aber sie war tot, und ich besaß nichts mehr, womit ich sie erfüllte. Wohl erwachte sie manchmal zu einem scheinbaren Leben, aber es war nicht mein eigener Anhauch, der sie belebte, sondern ein unreiner Magus, in des Johann Sebastiani erborgter Gestalt. – Jetzt erkenne du, daß das Wort aus Freiheit Fleisch geworden ist, daß der Geist sich die Form wählt, damit sich an ihrer Enge die Größe seiner Freiheit um so mehr offenbare. Der Geist zwingt die Form, aber niemals läßt er sich durch sie vergewaltigen.«
»Warum habt Ihr nicht schon früher so zu mir gesprochen? Warum habt Ihr mich mit Eurem Starrsinn erschreckt, Pater? Das Vaterunser nicht ebenso gedeutet? Ihr habt mich unrecht werden lassen nicht nur an diesem Gebet und an Euch!«
Der Pater erschrak. »Den Frater Anastas trifft keine Schuld an mir, und es gibt nichts, ihm zu verzeihen; denn selig sind, die guten Willens sind.« Und er preßte meinen Arm. »Vielleicht handelte ich falsch an dir. Es kann sein, daß ich deine Frau Mutter von ihren anderen Plänen mir dir nicht hätte abbringen sollen. Wer weiß jetzt, was richtig gewesen wäre! Ich will mich nicht damit entschuldigen, daß Menschenwitz eben leicht in die Irre gehe. Du mögst aber einmal keinen Stein nach mir werfen, Spindl, weil ich es versuchte, für dich nach meinem ganzen Glauben zu sorgen.«
»Jetzt sollt Ihr nicht mehr säumen, sondern lehren, denn ich bin reif!«
» In nomine patris et filii et spiritus sancti!«
Langsam gehen wir durch die Beete. Der Mond steht bereits im Abendhimmel, und die Georginen lassen ihre Farben ausgehen. Der Pater nimmt einen Stiel zwischen die Finger, so daß die Blüte auf seine Hand zu liegen kommt. Es ist, als sehe er ihr ins Auge.
»Das Wort ist Fleisch geworden«, murmelt er und läßt die Blüte wieder behutsam frei. Sie schaukelt auf dem langen Stiel, als schwinge sie mit in den englischen Gruß ein.
Das Glockengetöne klingt in Worten. Der Geist, der sich in dem uralten Satz erschöpft, ergreift mich, und ich bete inbrünstig und wie zum erstenmal:
»Vater unser, der du bist!«
Der Pater segnet den Beschluß.
»Amen!«
Wenn sich der Herbst nach einigen grimmigen Tagen plötzlich wieder eines Besseren besinnt und die Wolken von seiner bösen Miene fegt, so daß die Sonne noch einmal wie im Sommer niedergeht, dann gibt es leicht eine arge Verwirrung bei aller Kreatur. Diesmal wurde dem kühlen Heiligen Achatius an seinem Festtag der Pelz vom Schweiße pudelnaß, und seine ungewohnten Augen mußten es mit ansehen, wie die Spatzen auf unzüchtige Gedanken kamen, und daß selbst ein so dürrer Gockel, wie der Scholze-Schuster, zu balzen versuchte und seine Alte vor aller Augen streichelte. Wenn nun sogar der Oberamtmann Basel Vadelius aller Reputation zuwider das Stöcklein zwischen den Fingern drehte und ein zuchtloses Schenkenlied vor sich herpfiff, konnte man daraus ermessen, mit einem wie scharfen Gift diese unzeitgemäße Frühlingsluft bereits den Leib der ganzen Stadt durchsetzt hatte.
Eine solche Verfassung der Hochmögenden müsse man ausnützen, meinte der Pater. Denn zu einer rechtgängigen Zeit sei bei ihnen nichts Vernünftiges zu erreichen, weil sie da über allerhand Blödsinn zu hecken hätten und für etwas Gescheites keine Zeit übrig bleibe. Der Pater schürzte also seine Kutte und erreichte nach einigen Vorsprachen, daß ich am Sonntag des heiligen Saturninus mit besonderer Erlaubnis der Zunft vorzeitig als Geselle losgesprochen wurde. Dem Meister Scholze war meine Erhebung nicht unlieb, denn der alte Geselle war ohne Lebewohl und Urlaub in dem Augenblick entsprungen, als die Meisterin mit scheelen Augen aus die wachsende Leibesfülle des Mariedleins zu schauen begann.
Der Geselle hatte bei seinem Abschied auch alle ersparten Silberlinge aus dem Strumpfe der Meisterin mitgehen heißen. Deshalb konnte an meiner Stelle kein neuer Lehrbube eingestellt werden, sondern die Meisterin entschloß sich, selbst mit Hand anzulegen. Was sie dabei an Fülle verlor, schien sich mit den wachsenden Monden dem Mariedlein zuzulegen und den Hammer des Meisters zu belasten. Dafür wurde der meinige aber um so lebendiger, und die Nadel flitzte flink und leicht durch das Leder; denn hinter dem Tagewerk warteten die Abende beim Pater in der Klosterzelle mit ihrer Freude um so heller, je besser die Arbeit vorher gelungen war. Das gab dann ein Eifern und Begehren im Empfangen und Geben! Es glühten uns die Schädel, als stünden wir an einer Esse und hieben die Notationen mit einem Schmiedehammer auf den Ambos. Statt dessen stachen wir aber die Notenköpfe bloß mit einem Gänsekiel in die Zeilen hinein. Dort ruhten dann die Töne wie gefangene Vögel hinter den Gitterstäben und warteten, daß sie jemand mit seinem Spiel wieder befreie. Es hatte lange gebraucht, bis ich des Schusters Vögel voneinander unterscheiden lernte. Aber diese schwarzen Vögel erkannte ich gar bald an ihrer Stimme und wußte sie nach dem Gehör unfehlbar und augenblicklich zu benennen, wenn sie der Pater durch einen Griff in den Orgeltisch zum Singen brachte. Je weniger ich mich dabei durch den Wechsel eines tiefen und eines hohen Tones, oder gar durch den Austausch der Registra beirren ließ, desto zufriedener wurde der Pater mit mir. Meine wachsende Sicherheit benahm diesem Treiben jedoch bald alle Ergötzlichkeiten. Deshalb ging der Pater zu etwas Neuem über und unterwies mich, wie man zwei oder mehrere Töne zu einem Gleichklang setzt. Hierbei achteten wir gut daraus, daß die Töne wohl zueinander paßten, wie etwa ein guter Gärtner sorglich nur solche Blumen wählt, die miteinander ein artiges Sträußlein abgeben, und nicht etwa zu Pechnelken einen schreienden Klatschmohn bindet. Auch erkannte ich frühzeitig, daß sich ein Ton nicht mit seiner Sekunda vertragen will, sondern ihr widerstrebt, wie auch sie ihrerseits ihn fliehen will. Legst du ihm aber die Tertiam zu, dann hast du Goldrösel auf einen Wiesengrund gestreut und siehst es nicht ungern, wenn mitten in deinem Strauß die Quinta als Mohnstock laut wird. Setzest du dann endlich noch die Oktavam über das Ganze, ei, dann ist ein liebes Flecklein Land dein eigen, streng umgrenzt, und du fühlst, daß es dein eigen verbleibt, selbst wenn es langsam verbebt. Wie dir ja auch ein Garten nicht genommen wird, wenn er im Abend verlischt, und du ihn nicht mehr siehst.
O wie reich bin ich auf einmal! Ich kann mich an Grundbesitz mit den größten Herren messen, weil mir ja nicht bloß ein einziges Gärtlein beschieden ist. Denn zwölf halbtönige Schritte mußt du tun, ehe du den Weg von einem Ton bis zu seiner Oktave erschöpfst, und der Gärtlein zwölf kannst du auf ihnen erbauen, unterschiedlich voneinander an Boden und an Blust. Mehr blau blüht das eine, rot oder gelb das andere. Hast du aus jedem dieser Gärten ein Dreiklang-Sträußlein gebunden, erkennst du, daß sie sich allesamt auch zu einem einzigen Gebinde zusammenschließen lassen, wenngleich das eine auch dem anderen ein lieberer Nachbar ist als einem dritten.
In meiner Einfalt benannte ich die zwölf Töne nach den Jüngern des Herrn und hieß ihre Gärtlein: Apostelgärtlein.
Wenn ich dann den Generalbaß durch diese Gärten führte, erfuhr ich, daß der Matthäus sich einmal nur über den Grund des Jakobus, zum andern Mal aber über den des Philippus, manchmal gar erst mit Umwegen über des fremden Lebbäus Grund erreichen ließ. Auf dem Boden der Dominante eiferte der Paulus, auf der Subdominante beschied sich Johannis Ergebenheit. Alle aber verblühten, wenn schließlich auf dem Boden der Tonika die Astern des Petri ihre Blüten aufschlossen. Denn auf Petro soll sich endlich alles gründen und beschließen nach dem Worte des Herrn.
Bei diesen Wanderungen vergaß ich der Zeit. Die Nächte wären unbemerkt dahingegangen, wenn der Pater den Spieltisch nicht gewaltsam geschlossen hätte.
»Genug für heute. Geh heim und schlaf!«
»Pater, ich habe noch zu viel im Schädel, und das muß herausgespielt werden, sonst läßt es mir keine Ruhe.«
»Das Spiel dauert schon zu lang. Ich muß dir noch die Flöhe aus den Ohren beuteln.« Der Pater kroch aus der Kutte und befahl auch mir, den Rock abzulegen.
»Renn mich an! Schmeiß mich um! Los!« Der Pater stand auf gespreizten Beinen wie ein Baum, der sich mit den Wurzeln aus Felsgrund ausgehoben hat. Die Arme hielt er hoch wie Äste.
»Eichkatze! Komm!«
Mir aber fehlte der Mut, den hochwürdigen Herrn anzugehen, und ich verschanzte mich hinter einer Ausrede. »Ich bin nicht mehr so dumm wie früher, und ich schlage nicht mehr in einen geweihten Bauch hinein.«
Der Adrian wies jedoch lachend auf die Kutte im Winkel. »Dort liegt der Pater jetzt. Hier aber steht eines Bauern Sohn aus Außergefield und will mit einem Schuster raufen. Hast du Angst, Schusterlein?«
Der Spott traf mich wie ein Ochsenziemer, und ich sprang dem Pater mit Faust und Knien in den Ranzen, daß es dröhnte. Im gleichen Augenblick umklammerten mich seine Arme, und der Ringkampf polterte durch die Zelle.
»Schuster, du rührst mich nicht!« keuchte er.
»Bauer, du erdrückst mich nicht!« stöhnte ich.
»Schusterpech!«
»Bauernmist!«
»Zwirnschlecker!«
»Euterzuzler!«
Endlich entließen wir uns aus der Umklammerung. Dafür aber stießen wir die Schädel zusammen, hoben und senkten sie wie zwei Kampfhähne, flatterten dabei mit den Armen wie mit Flügeln und fauchten. Plötzlich aber erwischte mich der Pater von unten, hob mich empor und warf mich in einem hohen Bogen zur Zelle hinaus. Um ein weniges später flog mir der Rock nach. »Jetzt schlaf gut, Spindl!«
»Vergeltsgott, Pater!« und das Türschloß knarrte.
Einen solchen Abschied bereitete mir von nun an der Pater an einem jeglichen Tag.