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Mittag lag wie eine Bruthenne über der Stadt. Als der Türmer die zwölfte Stunde ausrief, schlüpften die Bürgersleute wie nasse Küchlein aus den Häusern und Geschäften, wischten sich den Schweiß von den Glatzen und Gesichtern und torkelten zu den Suppentöpfen, als müßten sie das Laufen erst lernen.
Ich stolzierte auf der mittelsten Straße und trug das neugewonnene Leben vor mir einher, wie der Priester zu Fronleichnam die Hostie trägt, und sah nicht rechts-, nicht linkshin. Hätte mir jemand zugerufen, daß ob meines Säumens der Scholze-Schuster einen roten Kopf bekomme, und daß neben der Meisterin bereits der Knieriemen auf eine neue Beschäftigung warte, hätte ich diese Mahnung nicht verstanden. Was ging mich der Schuster und was der Riemen der Meisterin an? Ich hatte jetzt etwas gänzlich anderes und Wichtigeres in meinen Gedanken, als an meine Bubenpflicht zu denken. Ich mußte ja meine himmlische Freude mitten durch die Stadt von einem Ende zum anderen tragen, um sie jenseits irgendwo abzustellen, weil sie für mich allein bald schon zu schwer wurde. Im Augenblick wußte ich mir freilich noch nicht zu sagen, wohin ich sie legen wollte.
»Spindl, du sollst heim! Sie suchen dich überall«, rief mir der Zobel-Kaufmann zu.
Mögen sie mich immer suchen! dachte ich dagegen. Bist du denn blind und siehst du denn nicht, was ich vor mir hertrage? Ich bin heute für keinen Prediger zu sprechen, und mein Rücken taugt heute für keine Schläge.
»Deine Frau Mutter will dich haben. Spute dich!«
»Ich weiß es schon!« log ich und lachte dem Kaufmann ins Gesicht.
»Er lacht noch!« wandte sich der Zobel mit entsetztem Gesicht an seine Alte in den Laden zurück.
Ich warf ihm eine Handvoll Lachen in seinen Griesgrambau nach. Überfriß dir den Ärger nicht daran, alter Dachs!
»Spute dich!« schrie der Kaufmann nochmals aus seinem Loch hervor.
»Ich habe mein Lebtag noch immer Zeit gehabt!«
»Daß du nur gerade heute nicht zu spät kommst!«
Ich ließ ihn unken und stelzte weiter. Aber ich konnte die seltsam erregte Stimme des Kaufmanns nicht so einfach aus den Ohren beuteln. Sie haftete darin fest wie eine Bremse. Ihr Gebrumm durchsetzte mich mit Unruhe und Besorgnis, wie sehr ich mich auch dagegen wehrte. Plötzlich wurde es mir klar, daß mein Strolchen durch die Stadt nur scheinbar ziellos sei. Wie ich es schon so oft an mir erfahren hatte, war ich auch diesmal wieder wie ein Nachtwandler einem fremden, unbekannten Willen verfallen und unbewußt von ihm gelenkt worden. Ich fürchtete mich, meine Unterwürfigkeit unter eine rätselhafte Kraft einzugestehen, und suchte zunächst nach einer Erklärung in mir selbst. Ich redete mir ein, ich selber hätte vom ersten Augenblick an, da ich die Stadt betrat, wenn auch unausgesprochen, die Absicht gehabt, mit meiner Freude zur Frau Mutter zu gehen. So hatte ich es ja als kleiner Bube mit allem getan, was mir Freude machte. Mit jedem Stückchen Holz, mit jedem Steinchen. Aber während sich früher das Glücksempfinden stets gesteigert hatte, je mehr ich mich mit solchen Funden der Frau Mutter näherte, so trübte sich jetzt meine Freude gerade in dem Augenblick, da ich mich auf dem Weg zu ihr hin erkannte. An dieser unterschiedlichen Wirkung zeigte sich, wie fadenscheinig die Vermutung einer eigenen unterbewußten Absicht als Grund meines Umherziehens war, und daß ich eben doch wieder bloß dem dunklen Rufe folgte, der von außerhalb in mich gedrungen war und mich übermächtigt hatte. Und plötzlich erkannte ich auch erschreckend, daß dieser Ruf schon lange nach mir gesucht hatte. Aber mein Herz hatte ihn aus dem Bewußtsein gedrängt.
Das Gewissen regte sich. Seit jener Stunde, da ich zum Schuster in die Lehre gebracht worden war, hatte ich die Frau Mutter nicht mehr gesehen. Während der ersten Wochen meiner Lehrzeit wurde ich vom Meister nicht aus dem Hause gelassen, da er als Vogelsteller sehr gut wußte, daß kein Vogel zum Käfig zurückkehrt, der die Freiheit aufs neue verkostet hat. Und später hatte ich über das Mariedlein alles, sogar die Frau Mutter vergessen. Es war alles so weit von mir abgedrängt worden, daß ich jetzt nicht einmal mehr die Erinnerung an alles Verdrängte zurückrufen konnte. Selbst das Gesicht der Frau Mutter konnte ich mir nur undeutlich vorstellen und sah, wie sehr ich mich auch abquälte, sogar ihre Gestalt nur wie hinter einem dichten Schleier. Der Verlust ihres Bildes schmerzte mich bitter, und ich anerkannte ihn zerknirscht als Strafe für meinen Leichtsinn, der bloß in den Tag hineinlebte, kein Gestern und kein Morgen, keine Vorsicht und keine Rücksicht kannte, stets nur an sich selbst dachte und sich einer Verpflichtung nur insoweit besann, soweit sie einen anderen band, aber nicht auf gleiche Weise auch mich. Aber dieser meiner Strafpredigt stellte sich alsbald mein Trotz wieder entgegen und meinte, es hätte sich ja auch die Frau Mutter ihrerseits ein wenig um mich bekümmern können. Auch sie hätte mich einmal aufsuchen oder wenigstens den Cäsar nach mir senden sollen. Sie hätte es doch um keinen einzigen Schritt weiter zu mir gehabt, als ich zu ihr. Aber das Gewissen wetterte gegen diese Gedankengänge: »Diese Ausrede, und daß du deinen Mund zu einem trotzigen Fischmaul verziehst, habe ich bei dir nicht anders erwartet. Aber wie das Tageswerk der Frau Mutter vor sich geht, vom ersten Hahnenschrei bis zum Umsinken ins Bett, und daß sie sich selbst nie einen Feiertag gönnen darf, daran denkst du nicht!« Ich fühlte plötzlich, daß die Frau Mutter während der ganzen Zeit zahllose Gedanken nach mir ausgesandt hatte, daß ich sie jedoch nicht vorgelassen, sondern wie Bettler vor der Schwelle hatte warten lassen. Jetzt umdrängten sie mich, erzwangen von selbst den Eintritt, quälten mich mit Sehnsucht und Reue.
Plötzlich fiel mit einem Schlage der Schleier von meiner Erinnerung ab, und ich sah die Gestalt der Frau Mutter und ihre Züge ganz. Aber ich erblickte nicht mehr die starke, aufrechte Frau, wie sie mir in meiner Kindheit erschienen war und wie ich sie auch jetzt wieder zu finden geglaubt hatte.
Jetzt sah ich ihren Rücken gekrümmt, die Brust verfallen, das Gesicht ohne Farbe und die Augen in Höhlen über den spitzen Backenknochen. Im gleichen Augenblicke wußte ich aber auch, daß ich jetzt von keinem Trugbild genarrt wurde, welches mir Besorgnis und Reue bloß vorspiegelten, sondern daß ich dieses Bild bereits früher leibhaftig mit den Augen aufgenommen hatte, nur daß ich es jetzt gleichsam erst zu Ende sah. Als wäre es früher bloß mit einer unsichtbaren Tinte aufgezeichnet worden und würde eben jetzt erst unter dem Einfluß einer chemischen Tinktur sichtbar, so stand es erschreckend plötzlich vor mir da.
Jetzt fürchtete ich zu verstehen, warum mein Lachen den Zobel-Kaufmann so entsetzt hatte. Und mich ergriff schreckliche Angst. Obendrein kam mir auch noch die Nachbarin der Quere und ermahnte zu laufen, denn es gehe ans Sterben.
»Kusch dich!« schrie ich. »Nichts ist. Ich weiß es besser!« Ich hemmte den Lauf, um mein Besserwissen damit zu beweisen. Aber meine Knie zitterten, während ich wartete, bis die Nachbarin endlich hinter der Straßenecke verschwände, damit ich weiterhetzen könnte.
Endlich stieg auf der Landstraße unser Haus vor mir auf. In einem der Fenster zeigte sich der Schädel des Cäsars wie der Schweinskopf in der Auslage des Hübner-Fleischers und drückte sich den Rüssel an der Scheibe platt. (O, daß mein elendes Hirn nicht einmal jetzt davon lassen kann, jedes Bild spottweise zu verzerren!) Als mich der Cäsar erblickte, verschwand er vom Fenster, um sich im Hausflur wie ein Schatten an mir vorbei und auf den Hof hinauszudrücken.
In der Stube lehne ich dann an dem Türpfosten und lasse die Brust sich austoben. Aber sie will sich in der dünnen Luft nur schwer beruhigen.
Das Gesicht in den Betten ist bleicher als die Linnen. Die Augen darin sind wie zwei Wagenräder.
»Kommst du endlich?«
Der armselige Ton verschnürt mir die Gurgel. Ich Erzschelm aber knacke sie wie eine Nuß gewaltsam auf und lasse meine Stimme dagegen springen:
»Ich wäre nicht so schnell gekommen, wenn mich die Sonne nicht im eigenen Schweiß fortgeschwemmt hätte. So aber pudelte ich durch die Landstraße, wie Nachbars Murli durch den Mühlgraben schwimmt«, sage ich und schlage die Luft, wie der Hund mit den Pfoten das Wasser schlägt, beutle unsichtbare Tropfen von dem Kopf ab und sprudle aus Nase und Lefzen. Ich verzerre dabei den Leib, als zwänge ich ihn durch die Wellen, und steuere mit dem Rockzipfel wie mit einem Schwanze. Dabei weiß ich jedoch genau, wie gallbitter mein Witz ist, und daß kein Possenreißer einen Kupferling nach Hause brächte, wenn er ein solches Schauspiel feilböte.
Die Frau Mutter aber kann darüber lächeln. »Du bist noch immer der gleiche lustige Bube. Sie hat dir also nichts angetan, die Schusterei.«
Sie ist mir noch dankbar für das klägliche Rüppelspiel! Ich schäme mich. Aber ich habe kein anderes Versteck, um mich zu verkriechen, als wieder nur einen Witz:
»Mir konnte das Schustern nichts antun. Wenn Ihr aber einen auf unser Handwerk fluchen hört, dann könnt Ihr Gift darauf nehmen, daß er Schuhwerk aus meinen Händen trägt.«
»Hast du gestümpert?« – Wie sie sich jetzt wiederum sorgt!
»So zierliche Kähnlein, wie ich, hat noch niemand gebaut. Die Jungfern liefen uns haufenweise zu«, schneide ich auf und schwatze von der Jungfer Süßemilch, welche die Schuhe nie schmal genug bekommen konnte, um ihre Entenfüße zu verbergen, und wie sich die Jungfer Guckmirnach trotz aller Warnung die Schuhe immer noch um ein Deutchen kürzer anmessen ließ. Und wie sich nachher alle beide mühen mußten, der Eitelkeit zuliebe die Schmerzen in den Füßen zu verbeißen. Und daß sie dann ausgesehen hätten, als hätten sie saure Gurken mit Zuckermilch geschleckt.
Die Frau Mutter freut sich ersichtlich an meinem Geschnatter, und ich lasse es deshalb unaufhörlich plätschern wie einen Wasserfall über ein Mühlrad. Das Reden fällt mir niemals schwer, und ich brauche dem Mund nur die Zügel freizugeben, und schon läuft und tollt er einher, daß es den Anschein hat, er wäre in aller Ewigkeit nicht mehr einzufangen. So lasse ich ihn auch jetzt seinen Unfug treiben, aber inwendig gluckst mir das Weinen, und der Bock rennt mit den Hörnern an mein Zwerchfell wie an einen Sack. Sobald sich mein Mund an einem Ding müdeläuft, gibt ihm die Frau Mutter mit einer Frage selber wieder einen neuen Hafer. Dabei stellen aber ihre Augen ganz andere Fragen als ihre Lippen. Und eine Angst ist in diesen Augen, als gelte es zu eilen. Dieselbe Angst erfaßt auch mich. Auch ich fühle, daß ich jetzt von anderen wichtigen Dingen sprechen müßte, daß es für mich viel zu fragen, aber mehr noch abzubitten gäbe.
Kann ich aber danach, was ich am meisten und bängsten wissen will, kann ich danach etwa viel anders fragen als ein altes Weib, das unbeholfen die Hände auf dem Bauch faltet und spricht: »Wie geht es denn? Nein, so schlimm, als Ihr glaubt, ist es noch lange nicht. Nur mit der Hoffnung nicht aufhören. Nur nicht selbst den Lebensfaden auslassen!« Oder soll ich etwa gar mit einem dummen »Danke schön«, also mit ungenügender Münze etwas zu bezahlen versuchen, was sich ja doch nicht bezahlen läßt?
Eher beiße ich mir die Zunge ab!
Vielleicht reut es mich aber später einmal, daß ich kein Wort des Dankes und nicht einmal ein Wort der Teilnahme fand, als es noch Zeit dazu war! In wenigen Augenblicken ist es vielleicht schon so weit. Aber ich tue es nicht. Himmelherrgott, schlag dein Grabscheit in meinen Brustkasten und ackere ihn um und um, du gräbst das Wort aus mir nicht heraus!
Ich kann bereits durch das Gesicht der Frau Mutter hindurchsehen wie durch ein Wasser, das sich langsam klärt. Ich ergreife einen Bettzipfel, als könnte ich sie daran zurückhalten. Ihre Hand aber lasse ich liegen. Ich kann sie nicht angreifen.
Innen reißt sich das Herz an einer Kette wund wie ein Tier, wenn der Stall brennt. Innerlich krümmt mich das Schluchzen, aber der Mund schnattert wie auf einer Kirchweih.
»Die Zeisigmännchen, die wir mit dem Schuster gefangen haben, gehen gut ans Futter und singen bereits. Das Männchen mit dem schwarzen Bärtchen unter dem Schnabel pickt das Hanfkorn sogar schon vom Finger weg. Es hat gar keine Angst vor dem großen Mann mehr.«
»Es ist wohl alles leichter, als wir es denken. Aber weil wir nicht wissen, wie es sein wird, deshalb haben wir wohl die Angst davor.«
Die Frau Mutter sagt es so leise, daß ich mich über sie beugen muß, um sie zu verstehen. Plötzlich blicken ihre Augen wie die des Klauzal-Ott, als er auf dem Markte lag und sich mit dem Tode balgte. Plötzlich höre ich auch die Straßenjungen die Sterbeglocken nachäffen. Ich habe die Sterbeglocken heute schon einmal gehört, als ich den Ast an den Baum knüpfte. Ich habe mich gefreut, wie passend sie meinen Unfug begleiteten. Hätte ich gewußt, wem sie gelten sollten, hätte ich mir die Ohren zuhalten müssen und gar nicht genug schreien können, um sie abzutöten.
Jetzt spring dieses Geläutes wegen dem Mesner an den Hals, wie du es einstens den Buben für das Bimbam tatest! Jetzt stell dich wie damals mit den Händen im Hosensack vor den Herrgott hin, du vermessenes Großmaul, und sieh zu, daß er auch jetzt von seinem Willen abstehe! Bete, wenn du kannst!
Ich sollte es nicht können? Ich will beweisen, wie ich dem Herrgott kommen kann; jetzt kremple ich mir sogar die Ärmel zum Beten auf!
Aber während ich sonst den Herrgott immer leibhaftig vor mir sehe, sooft es mit ihm etwas auszugleichen gibt, hält er sich diesmal vor mir verborgen.
»Heraus aus deinem Versteck, und stell dich!« schreie ich. Aber er hört nicht.
Wohin ich auch die Blicke nach ihm schicke, sehe ich doch nur die Stubenwinkel in dunklen Schatten und überall nur die Augen der Frau Mutter immer starrer werden und ferner. Vor diesem Spuk bin ich auf einmal wieder der ganz kleine ängstliche Bube und suche Trost von dem Mund der Frau Mutter, wo ich ihn immer in aller Not zu suchen gewohnt war. Aber das Lächeln, welches ehedem trotz Not und Groll nie von diesem Munde gewichen war, geht jetzt zum ersten Male verloren. An seiner Stelle umgibt ihn ein versteinerter Schmerz.
Ich habe noch nie einen Menschen sterben sehen. Aber jetzt weiß ich, daß hier das Ende angeht. Der weiße Schreck saugt mir schier das Blut und die Seele aus. Ich lasse den Bettzipfel los und schlage die Hände auf die Brust, um mein eigenes Leben wieder in mich zurückzuzwingen. Nur so erfange ich mich wieder. Und obgleich ich weiß, was da vor sich geht, weine ich nicht, werfe mich nicht über die Frau und nehme den Segen von ihren Lippen nicht fort, ehe sie verkalten. Nichts von all dem. Bin ich denn etwa nicht aus Fleisch und Blut geboren? Bin ich denn aus einem Weidenklotz gehauen, daß ich so aufrecht bleiben kann? Während meine Frau Mutter ans Sterben geht, stelle ich den Schmerz wie einen Besen in die Ecke, um ihn erst wieder hervorzuholen, wenn es Zeit ist.
Und jetzt ist keine Zeit dafür, denn ich muß frei sein, gänzlich frei für die unbestimmte Pflicht, die mir eben klar wird und mich erfüllen will. Was ist jetzt Pflicht? (Ich bin scheinbar so ungerührt von dem furchtbaren Geschehen, daß ich noch fragen kann!) Und ruhig gibt sich mir die Antwort: Hilf ihr!
Und da stehen in meinem Kopf, wie durch einen Zauber gerufen, Gedanken auf, die scheinbar gänzlich ohne Zusammenhang mit dem Augenblick sind und wie Samen vom Zufall hierhergetrieben werden. Plötzlich sind alle Märchen wach, die mir die Frau Mutter einst erzählte, als ich an ihrer Statt in diesem Bett lag, und sie wachend auf diesem Platze saß, wo ich jetzt sitze. Leibhaftig treten die Märchengestalten in die Stube und erfüllen sie ganz. Das Rotkäppchen führt die gerettete Großmutter an der Hand, das Dornrösel ist aus dem Todesschlaf erwacht und das Schneewittel sogar aus dem Sarg wieder hervorgestiegen. Alle überwanden sie den Tod.
Und ich frage mich, ob die dichtende Menschheit mit diesen Märchen sich wirklich bloß ein Lügengespinst ersann, ob sie sich die Überwindung des Todes bloß vorlog, weil sie sonst an dem Eingeständnis seiner Unüberwindbarkeit verzweifelt wäre. Oder kündet sich in diesen Gleichnissen nicht zugleich ein höheres Wissen, das ja auch den Herrgott erkennt, trotzdem der Außerirdische sich mit den Mittelchen irdischer Vernunft nicht beweisen läßt? Wenn wir aber des Herrgotts Dasein schon genügend erwiesen sehen, weil die Menschenseele seit undenklichen Zeiten von ihm dichtet und sagt und bis an die Wurzeln vor einem Frevel erschauert, wenn jemand Gott zu leugnen wagt, dann sind wohl die abertausend Märchen vom Erwachen ebenfalls glaubhafte Künder der Auferstehung. Tod ist Verlöschen und endgültiges Vergehen. Gibt es aber ein Auferstehen, dann gibt es auch keinen Tod. Dann ist das, was wir Sterben heißen, nur ein Einschlafen, der Tod ein Schlaf, der bloß bis zum Weckruf eines neuen Morgens dauert. Weshalb also die Angst vor dem bißchen Schlaf?
Da ruft die Frau Mutter nach mir, reckt sich jäh im Bette auf und hält die Hand vorgestreckt, als wolle sie etwas Schreckliches von sich abwehren.
Du mußt ihr also beim Einschlafen helfen, denke ich. Wenn ich selbst als Kind keine Ruhe finden konnte, setzte sich die Frau Mutter auf den Bettrand, nahm mich bei der Hand und erzählte das Dornröselmärchen. Bei der Stelle »Der Königsohn beugte sich über das Dornrösel und küßte es auf den Mund«, da hatte ich stets gefühlt, daß nun endlich alles wieder gut sei, und da hatte ich immer mit dem tiefen Atemholen auch schon den Schlaf gefunden.
»Denkt an das Dornrösel, Frau Mutter!«
»Ich finde das Märlein nicht zu Ende«, quält sie sich. Dann wird ihre Stimme unhörbar. Ihre Augen gehen von mir fort und bleiben an dem Kasten hangen, worin die Geigen liegen.
Ei, Frau Mutter, es dünkt mich auf einmal gar nicht so schwer, euer Märlein zum Schluß zu bringen.
Ich nehme die Geige aus dem Kasten, spiele und singe. Und nun lassen die Augen der Frau Mutter nicht mehr von mir.
Hühott! Frau Mutter, der Spindl ist ein Kutscher geworden, sitzt hoch zu Bock auf einem goldenen Wagen und will euch durchs Leben fahren. Hört ihr die vier Rößlein stampfen? Die Schellen klingeln, wenn ich den Bogen schwinge. Ich hole euch von der Bleichwiese ab. Ihr sollt mir nicht mehr zu Fuß nach Hause gehen. Steigt ein, denn die Pferde sind ungeduldig. Seht, wie die Weiber ihre Schädel vor Verwunderung so jäh zusammenstecken, daß sie sich Beulen an die Stirnen stoßen. Jetzt neigen sie sich vor unserer Abfahrt ehrfurchtsvoll bis zur Erde und bemerken nicht, daß ich über ihre Bürzel eine lange Nase drehe. Wir sind eben feine Leute geworden, Frau Mutter, und stehen über diesem Pack.
Hott! Nun sind wir allein. Gerade so wie vor Zeiten an den Abenden, wenn wir selbander von der Wiese gingen, Hand in Hand. Mitten durch einen solchen Abend fahre ich jetzt euch. Und die Glocken gehen mit uns wie bei einer Hochzeit. Denn am Abend war ja immer unsere hohe Zeit.
Wohin es geht?
In den Himmel hinein! Die Sonne steht wie ein Tor am Rand der Welt und ist weit offen. Die Engel haben die schmutzigen Hemdlein mit neugewaschenen vertauscht, und Petrus läßt die Schnupftabakdose in der Kutte ruhen, denn vornehme Gäste erwartet man nicht im Werkeltagskleid, noch begrüßt man sie mit einer gepfefferten Nase.
Es ist Frühling ringsum. Die Welt schießt über vor Saft und muß ihn in lauter Blüten hineinstoßen. Zu solch einer Zeit fährt es sich leicht!
Doch hat der Schlaf plötzlich die Rössel befallen, oder find aus ihnen Ochsen geworden? Es ist eine Schande, wie sie bergan in Schritt verfallen. Ich lasse den Fiedelbogen um ihre Ohren pfeifen. Hui, hui! Jetzt greifen sie aus, daß es stäubt unter den Hufen. Auf dem Berg oben geht der Wind. Seht Euch vor, Frau Mutter, daß er Euch nicht erkälte! Auch holpert der Weg. Hart schlagen die Räder in die Rinnen. Die Achsen brechen schier im Aufschlag. Klammert Euch fest, daß es Euch nicht aus dem Wagen werfe! Aber fürchtet Euch nicht, denn wie wir selbander noch einen jeden Weg bezwangen, so schaffen wir auch diesen.
Hört Ihr es rauschen, seitabwärts? Der Mäher geht erstmalig durchs Gras. Er schneidet zwar die Halme, aber er greift die Wurzeln nicht. Das Gras kommt immer wieder aufs neu hervor. Von der Mahd verdirbt das Leben nicht.
Mistviecher, elende! Wollt ihr mir die Zügel sprengen? Scheut ihr vor dem schwarzen Unding? Es ist bloß der Strunk vom Wetterbaum. Obgleich er sich auch von zwölf Männern nicht umfassen läßt, ist er doch bloß ein unschuldiges Stück Holz und kein Hexenhaus, wie die Kräuter-Ursel lügt. Ich jage euch vorbei, Tollköpfe!
Doch die närrischen Rösser beruhigen sich von selbst, obgleich sie jetzt der Wetterbaum umschließt mit einem Wald seiner Vielfältigkeit. Denn so geschah es: Einmal war der Donnerbaum allein hier auf dem kahlen Berge. Damals konnte er wachsen und sich weiten, bis er sich schließlich selbst zu eng wurde. Aus seiner Überfülle trieb er Früchte und legte in jeden Samen seine ganze unbändige Kraft und verstreute sich dann in jedem Korne selbst, ungeteilt und ganz, über den Berg hin. Er verließ seine alte Hülle, um dafür aufs neue aufzuerstehen immer wieder nur er selbst, tausendfach: Wald.
Warum scheuten die Pferde vor dem Strunk wie vor einer abgelegten Haut und warum gehen sie nun still durch die Vielheit? Hat der Wald der hellhörigen Kreatur seine Geschichte erzählt und sie damit beruhigt?
O Frau Mutter! Liebes Frau Mutterlein! Tut ebenso Euer Ohr auf! Lauschet dem Evangelio: Es gibt kein Vergehen, nur eine tausendfältige Wiederkehr!
Von solchen Weisen geleitet, geht die Fahrt leicht durch den Herbst zu Tal.
Überall sind Früchte und Blätter schon abgefallen, und alles erscheint tot. Aber seht doch den Zweig, den ich da eben ergreife! Wo just das Blatt abfiel, dort knospet es bereits hervor. Auf Wiedersehen, sagt es. Auf Wiedersehen! Im nächsten Jahr schlage ich tausend Augen mehr auf.
O Frau Mutter, wie süß schließt sich das Auge, wenn es sich morgen sogar tausendfach wieder aufschlagen darf.
Auch Ihr werdet mich wiedersehen, von außen und von mir innen her, vom Himmel und aus mir selbst; denn wir, der Himmel und ich, tragen Euch dann alle beide in uns.
Meine Geige jauchzt.
»Bei dir stirbt es sich leicht«, dankt die Frau Mutter. Aber dann schreit sie mir ihre Angst in die Geige: »Die Sonne geht unter! Das Tor fällt zu! Spindl, wir erreichen den Himmel nicht!«
Vor diesem Aufschrei brechen die Rosse aus dem Gezäum, der goldene Wagen zerstürzt mit gebrochenen Rädern. Aber ehe ich das Unglück noch ermessen kann, pfeift ein Rotkehlchen oberhalb unserer Scheitel.
»Es lebt!« lache ich hell auf. »Ich habe es ja gewußt, daß es lebt! Und es lag doch einmal tot in dem Trühlein. Es war bloß über den Winter in den Himmel gegangen und ist jetzt wiedergekommen. So brauchen wir die Rosse nicht mehr. Sie sind ohnedies zu langsam für uns. Mag auch das Himmelstor schon verschlossen sein, das Rotkehlchen trägt Euch über die Mauern hinweg. Es hüpft Euch auf die Lippen und pickt Euch die Seele hinfort wie ein Körnlein, nimmt es mit sich und legt es dem Herrgott in die aufgetane Hand, Und im nächsten Jahre holt es das Körnlein wieder und hütet es auf der Fahrt durch die große Ferne warm in seinem Wämslein. Und das Wämslein blüht ihm rot auf über diesem Schatz. Dann setzt es das Körnlein wieder in die Erde ein, und dann geht daraus Eure Seele mitsamt dem Frühling wiederum auf. Und so alle Jahre! Alle Jahre bis ans Ende der Unsterblichkeit!
Ich rieche den Frühling. Atmet Ihr ihn auch?
O Frau Mutter, atmet auf! Atmet tief! Tief auf!«
Und ich höre, wie sie atmet. Es läßt sich schier nur ahnen, und doch ist der Hauch stark genug und bläst mein Lied aus wie eine Kerze.
Mit der Geige fällt auch die Kraft von mir. Ich knie vor dem Bette, krümme mich wie ein Wurm im Elend und schlage den Kopf auf ihrer Brust umher:
»Frau Mutter! Hat es wirklich sein müssen, Frau Mutterlein?«
Und von draußen preßt der Cäsar sein Gesicht an die Scheiben und macht sie naß wie der Regen.