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Der Geiger

Über dem Grabe des Trompeter-Wenz fror die Erde zu einem Harnisch.

Das bedeute Gutes, versicherte tröstend der Totengräber. Er vertrat den Geiger im Kirchendienst und brachte auf Geheiß des Paters Adrian das Essen. Wenn sich die Erde versperre, sei sie satt. Somit wolle sie den Cäsar noch nicht schlucken, möge ich wissen.

Ich hatte dazumal an einer beinharten Zeit zu nagen, und die Zähne wollten bei diesen Bissen schier draufgehen. Der Seidel war anfänglich auch zu nichts zu gebrauchen, hockte nur stur in seinem Winkel und brütete auf den Geldsäcken wie auf Eiern. Vor dem Feuer im Herd hatte er heilige Angst und war nicht zu bewegen, ein Holzscheit auf die Glut nachzulegen. Nur das Wasser holte er ein und den Schnee, sobald ich dem Geiger die Tücher wechseln wollte. Aber auch zu diesem Dienste mußte er erst mit einem Tritt angetrieben werden. Ich hätte den Seidel also am liebsten davongejagt, wenn ich nur gewußt hätte, wohin. Später änderte er sich jedoch gänzlich, und ich war wiederum froh, daß ich ihn bei mir hatte. Denn während die Sorge um den Geiger bei Tag und Nacht, ohne ein Quäntlein Schlafes, meine Kräfte gar bald verzehrte, und während mich die Müdigkeit mit einer tiefen Ohnmacht immer häufiger überwältigte, konnte dagegen der Seidel seit dem Brande zu keinem Schlaf finden. Er brauchte ihn wohl auch nicht, da er wie ein Kamel noch viel an seinem Wanst zu zehren hatte. Er konnte daher auf die Stunden achten und mich wecken, wenn der Geiger allzutief aufstöhne, oder wenn die Zeit für eine neue Pflege um war.

Je länger und je härter ich nach des Baders, aber mehr noch nach des Adrians gutem Rat um das Leben des Cäsars mit dem Tode stritt, desto lieber wurde mir dieses Leben, und ich hätte es mit jedem Tage ungerner hergegeben. (Heute muß ich sagen, daß diese Zeit gar schön gewesen ist, als ich den Geiger zwischen meinen Händen hatte, so recht als ein hilfloses Kind.)

Sein Gesicht lag wie ein Pergament vor mir aufgerollt und ließ mich aus den Buchstaben der Runzeln und Falten eine mir bisher unbekannte Lebensgeschichte lesen.

Wie ein Initiale, dessen Minium bloß verblichen ist, stand auf der Stirn des Cäsars die Spur eines roten Zeichens wie von einem drückenden Reifen. Solche Stirnmale scheinen alle Findelkinder zu tragen, auf daß der Heiland am jüngsten Tag sogleich daran erkenne, daß gerade diese Menschen seiner Verheißung von Liebe und Erbarmen am würdigsten sind. An den tiefen Gräben der Bitterkeit rings um seinen Mund hatte sicherlich die Gemeinde mit ihrer Obsorge die ersten Spatenstiche getan. Wer schon als kleines Kind ein bitteres Brot fressen muß, behält zeitlebens ein zerknittertes Maul. Nöte und Entbehrungen der künftigen Jahre waren auch nicht gerade angetan, diese Furchen wieder zu plätten, sondern drückten obendrein nur die Wangen noch tiefer ein und erhoben dadurch die Lippen höher, so daß sie noch durstiger erschienen, als sie von Natur aus ohnehin waren. Dieser Mund hatte nicht immer bloß nach dem Weinschlauch gedürstet, sondern es hatte auch die Seele zu wenig Licht bekommen. Denn die Erinnerung an Freuden, die sich um die Augen und von den Lidern über die Schläfen hin wie die Strahlen von kleinen Sternen zu sammeln pflegen, waren armselig in diesem Gesichte. Während ich auf diese Weise die Schicksale des Geigers tiefer ergründete, als ich es aus Worten vermocht hatte, begleite ich ihn auf seinen Landfahrten durch Regen und Sonne. Von der Unruhe seines Triebes wurde ich selbst erfaßt und sehnte mich mit seiner Sehnsucht nach der Welt, teilte sein Heimweh, kehrte mit ihm in dieselbe Stunde zurück, da er bei dem Nußbaum den Stock in meinen Hintern stach, und durchdachte von da an nochmals alle Zeit, die wir miteinander in diesem Hause verlebten. Die Rechnung fiel nicht gerade zu meinen Gunsten aus, und ich hatte mir gar manches vorzuwerfen. Trotzdem aber konnte ich für die meisten Taten des Geigers eine Erklärung in der Ähnlichkeit mit meinem eigenen Wesen entdecken. Das beglückte mich, auf diese Weise rückte er mir immer näher. Mit dem Augenblicke aber, da er sich die Leiter auf die Brust setzte, da er standhielt, obgleich ihm die Stangen die Rippen eindrückten, in diesem Augenblick aber trat der Geiger gleichsam wieder aus mir heraus, wurde ein anderer, ein Fremder mit einer Eigenschaft, an welcher ich keinen Teil hatte. Sie machte ihn größer, als ich mich selbst einschätzen durfte. Diese Eigenschaft entfremdete mir ihn aber nicht, sondern sie erhob ihn bloß aus der Ebene meinesgleichen, wo ich ihn bis jetzt geglaubt hatte, in die Nähe der Bahn empor, wo einst, von meiner Ehrfurcht erhoben, die Frau Mutter gegangen war.

Je mehr der Geiger gesundete, desto seltener wurden jedoch diese Stunden der innigen Zwiesprache mit ihm. Als der Winter sich langsam neigte, hatte der Cäsar den Gebrauch seiner Sprache wiedererlangt und das erste Wort gefunden. Es war jedoch nicht mein Name gewesen. Er verlangte bloß aus meiner Kammer auf sein Streulager in die Stube zurückgebracht zu werden. Das weiche Bett stehe ihm nicht zu. Jetzt wußte ich, daß die schönen Stunden endgültig vorbei seien.

Von da an ging ich auch wieder zum Scholze schustern. Ich blieb aber nicht bei dem Meister wohnen, sondern kehrte für die Nacht immer in meine Kammer nach Hause zurück. Der Cäsar bewohnte mit dem Seidel einträchtig die Stube.

Das Jahr vergönnte damals den Menschen einen langen Fasching, weil es bei dem grimmigen Frost und dem raren Holz den Leuten erlaubt sein mußte, sich die nötige Wärme wenigstens mit Possen und Narrentreiben in die Glieder zu feuern. Das Narrenfieber verbreitete sich wie eine Seuche von Haus zu Haus. Kaum war die Vesperglocke verklungen, drehte sich die Stadt und stand Kopf. Durch die Straßen tobte der Mummenschanz, und die Häuser widerhallten von manch unflätigem Lied. Es war also kein Wunder, wenn das Fieber durch die Ritzen von Fenstern und Türen endlich auch in unser Haus eindrang und dem Cäsar sowie dem Seidel den kaum zurechtgefundenen Verstand aufs neue verwirrte. Nur so konnte es geschehen, daß die beiden Taugenichtse gerade zu einer Zeit, wo selbst fleißige Leute nicht viel Sinn für ein Geschäft aufbringen konnten, ein eigenes neues Unternehmen gründeten. Kaum daß der Geiger wieder sitzen und mit den Händen basteln konnte, ließen sich die beiden vom Barkus-Juden einen Sack ungeschliffener Federn kommen und rupften nun gegen wenig Geld aus Leibeskräften. Der Cäsar tat es nicht aus Not, denn der Pater sandte ihm den Sold als eine milde Gabe weiter, sondern wohl nur aus Langerweile. Der Seidel hätte bloß in seine Säcke zu langen brauchen, um ein paar Taler hervorzuholen. Aber er schliß die Federn aus Geldgier oder aus Gewohnheit am Rupfen. Der Flaum flog in der Stube umher, haftete überall, und die beiden Männer sahen aus wie Gänse in einem Schneefeld. Es war ein ergötzlicher Anblick.

Mitten in diesem Geschäft läßt einmal der Seidel die Finger ruhen, stellt den Kopf schief und blickt von untenher nach dem Cäsar:

»Was begehrst du als Lohn für den Unterstand?«

Der Geiger tut, als höre er nicht.

»Was schulde ich dir, daß du mich hier hausen lässest?« versucht es der Seidel nochmals, und man sieht ihm an, daß ihm diese Frage sauer fällt.

»Du glaubst wohl, ich sei so ein Beutelschneider und elender Schröpfer wie du?« pfaucht der Cäsar.

Der Seidel duckt sich wie ein gescholtener Hund und grinst dann ein Vergeltsgott. Aber es läßt ihn nicht lange ruhen. Irgendwo drückt ihn die neue Seelengüte, die er sich seit dem Unglück angeeignet haben mag. Er erhebt sich mühsam. Die Federn schwirren wie ein Mückenschwarm auf, er holt aus seinem Winkel die verpfändete Geige und bietet sie dem Cäsar an.

»Nehme ich nicht! Nichts nehme ich von dir, was ich nicht bezahlen kann«, schreit der Geiger.

Im gleichen Augenblick gellt ein Jauchzer durch die Straße und treibt uns alle zu den Fenstern hin. Wagen rattern heran. An den Geschirren der Pferde klingeln die Schellen. Eine Bande von Hornisten, Pfeifern und Paukenisten schmettert einen Marsch, daß die Fensterscheiben zittern. Dem Zug voran geht eine bunte Schar. Sogar die ehrsamsten Weiber haben die Haare gelöst und schwenken irrsinnig rote, gelbe, blaue und weiße Tüchlein. Es wimmelt und flimmert von Farben. Die Männer werfen die Hüte in die Luft. Die papierenen Blumen und Früchte an den Huträndern flitzen wie Fischlein im Sonnenuntergang. Peitschen knallen, Böller krachen von den Dächern der Stadt dem Zuge entgegen. Vor den hochbebauten Wagen dampfen die Ackergäule schwer, aber sie gehen stolz und heben die Hufe hoch, denn sie tragen ein beblümtes Geschirr und haben Stroh- und Seidenbänder in Mähne und Schweif geflochten. Auf dem ersten Wagen liegt ein riesiges Faß, darauf thront der Hahnenwirt mit seinem schier ebenso großen Bauchgebinde als der heidnische Gott Bachus und schwingt den Humpen, ehe er ihn in das Loch seines Leibes ausgießt. Ihm zur Seite lungern verkommene Gestalten, die ihre Trunkenheit nicht erst zu mimen brauchen. Der zweite Wagen fährt den hürnen Seyfrieden mit den Nibelungen und mit dem Drachen daher. Der Geselle des Lucksch-Fleischers stellt den Seyfried dar. In seinem furchtbaren Mut ähnelt er dem Janitschek, welcher erst im vergangenen Jahr vom hohen Rat auf den Galgen gebunden worden war. Der Seyfried hält den Bäcken-Seff, der als Lindwurm ausstaffiert ist, beim Rüssel und bedroht mit dem Holzschwert seinen Drachenleib. Unter dieser Drohung brüllt der Bäcken-Seff so furchtbar, daß die Jungfrauen ihre Gänsehaut nicht mehr verbergen können. Der dritte Wagen ist aber der schönste. Bei seinem Nahen verstummt alle Unbändigkeit und macht einer ehrlichen Bewunderung Platz. Von den sieben Zwergen umgeben, ruht auf einem Haufen gemalter Rosen die Frau des Niedl-Schreiners als totes Schneewittchen. Die Schreinerin ist sonst als böses Weib bekannt, das mit scharfen Zähnen und mit lockerer Hand dem Gatten schon hier auf Erden die Hölle bereitet. Um so mehr erschüttert sind wir alle von der nie gekannten Anmut, Güte und Lieblichkeit auf ihrem schlafenden Gesicht.

Plötzlich ruft der Wotruba-Böttcher in die Stille: »Ist es nicht schade, Niedl, daß deine Alte nicht wirklich hin ist?«

Darüber erwacht das Schneewittchen aus dem Zauberschlaf und wirft mit einem Schuß, der jedem Schützen Ehre gemacht hätte, ihren vergoldeten Holzapfel dem Böttcher an den Schädel, legt sich wieder hin und schläft weiter, als ob nichts gewesen wäre.

Wie ein Feuerwerk schießt das Lachen empor. Der Zug muß einhalten; denn von dem Gelächter werden einem die Glieder schier zu Reifen verbogen. Nur die Seifensiederin, die auf dem letzten Wagen als Fastnachtskönigin thront, gallt sich mit mürrischem Gesicht, weil niemand mehr auf ihre pralle Schönheit achtet.

Als der Zug längst vorbei und die Straße von Leuten und Lärm wieder leer war, lachten wir drei noch lange vor uns hin. Das Lachen konnte sich gar nicht mehr aus unserer Stube hinausfinden. Wenn in den kommenden Tagen einer von uns zum Fenster trat, geschah es immer wieder, daß ihn die Erinnerung an den Schuß des Schneewittchens jählings losplatzen ließ. Seit dieser Stunde reckte sich der Geiger aus seinem Wehtum so kräftig empor wie ein Rübenkeimling, der nur auf ein bißchen Sonne gewartet hatte. Zu Josephi konnte er das Amt beim Pater wieder antreten.

Am selben Tage griff der Seidel-Bauer in seine Geldsäcke und ging Holz für den Neubau seines Hauses kaufen. Wenn ich von nun an nach des Cäsars Befinden Ausschau halten wollte, mußte ich ihn auf dem Bau des Seidel suchen, wo er während seiner freien Zeit je nach dem Wachstum seiner Kräfte mithalf. Ich hatte den Geiger noch nie so froh wie bei dieser Arbeit gesehen.

Auf der Brandstelle wurde der Schutt fortgeräumt, die verkohlten Balken zersägt und als Scheitholz beiseite geschichtet. Die neuen Balken wurden zugehauen, gehoben und in die alten Auflagen gelegt, das schadhafte Mauerwerk vermörtelt, Dielen aufgenagelt, Fenster- und Türstöcke eingezogen. Je weiter aber der Bau gedieh, desto betrübter wurde des Geigers Gesicht.

Der Seidel hatte oftmals versucht, dem Cäsar die Geige wieder zurückzugeben, weil die Pfandsumme schon längst durch seine Mithilfe abgedient wäre. Aber der Cäsar hatte die Annahme stets beharrlich verweigert. Die Geige sei nicht so billig, wie der Seidel zu glauben scheine. Wenn der Cäsar sie nicht ehrlich und ihrem Werte entsprechend bezahlen könne, dann solle sie der Seidel behalten. »Oder willst du mich vielleicht schon loswerden?«

Als sich das bewimpelte Bäumchen endlich am Dachstuhl erhob, und als der Sankt Florianisegen nach altem Brauch gesungen war, wehrte sich der Cäsar nicht mehr. »Ich glaube nicht, daß ich dich im Preise betrogen habe«, versicherte er, als er die Geige entgegennahm. Von diesem Augenblick ließ er sich nicht mehr auf dem Bau des Seidel sehen. Dafür ordnete er jetzt unseren Garten, bestellte das Kartoffelfeld, ohne meine Hilfe dabei irgendwie zu dulden, tünchte die Wände mit Kalkmilch, damit sich unser Haus in der Nachbarschaft des Seidelschen nicht zu schämen brauche.

Ich hatte mit dieser Veränderung im Wesen des Cäsars recht zufrieden sein können. Eines Tages kam ich jedoch dahinter, daß er während meiner Abwesenheit wieder an den Geigen herumzimpere. Das machte mir bange. Sollte ihn der Teufel wieder zu dem ehemaligen Luderleben verleiten wollen? Der Fastnachtszug vor unseren Fenstern und das Treiben der Musikanten hatte ihm wahrscheinlich das Blut tiefer aufgequirlt, als es gut war.

Es beruhigte mich jedoch einigermaßen, daß dem Pater bei den abendlichen Übungen, die wir nun wieder aufnahmen, der Mund nur so von Honig überfloß, so oft er auf den Geiger zu sprechen kam. Gottes Ratschluß sei unerforschlich, er leite aber ein jedes Schäflein endlich doch immer in seinen Stall. Gloria in nomine!

So schien alles im schönsten Lauf, und man durfte hoffen, daß nunmehr ein geruhsames Leben beginnen werde, ohne großen Sturm- und Wellenschlag, ein sanftes sicheres Gleiten in einen abendlichen Hafen hinein.

Über den Pfingsttagen trillerten die Lerchen. Ihr Lied zitterte auf den Wellen der Luft und wogte beinahe sichtbar über der Erde. In solchen Zeiten glaubst du, du könntest, aller Schwere ledig, auf diesem Schwang und Klang über Land und Feld dahinschweben. Deine Leichtigkeit will sich nicht kerkern lassen. Für deine unsichtbaren Flügel ist der Raum der Stube zu eng, und du wirst unwiderstehlich in die Weite gezogen. Wie einen Zugvogel, der sich den Kopf im Käfig lang genug verbeult hat, trieb es den Cäsar im frühesten Morgen aus dem Hause. Mißtrauisch schloß ich mich ihm als Wächter an. Er war aber über meine Begleitung gar nicht so ungehalten, wie ich es befürchtet hatte, und schlug auch nur die Wege ein, welche sich von Stadt und Wirtshäusern entfernten.

Es war mir seltsam, daß ich jetzt, und seit dem Tode der Frau Mutter zum ersten Male, wieder mit einem anderen Menschen gemeinsamen Weges ging, und es erschien mir noch seltsamer, daß dieser andere Mensch der Geiger war.

Mit einem Begleiter ohne ein bestimmtes Ziel einherzugehen, ist jedoch nicht immer so einfach, als man glaubt. Es dürfen nicht bloß die Körper nebeneinander dahinschlenkern, sondern man muß Hand in Hand gehen, auch wenn man sich in Wirklichkeit nicht bei den Händen führt. Sonst kommt man sich saudumm vor. Daher stapften wir beide wie zwei Ochsen in einem Zug.

Es wäre jedoch gegen meine Natur gewesen, wenn ich mich von dieser Unbehaglichkeit lange hätte unterjochen lassen. Bald ließ ich meine Augen kecklich voraus und zur Seite springen, und die ledigen Gedanken tatens den Augen nach, hüpften bald hierin, bald dorthin und liefen, wie sie es von den Gängen mit der seligen Frau Mutter gewohnt waren, immer wieder zu dem Geiger zurück wie Kinder, die ihre Erlebnisse hundertfach am Wegrande pflücken und sie dann aus vollen Händen bei den Erwachsenen abzuladen pflegen, ohne aus ihren Träumen gestoßen zu werden, wenn ihrer auch nicht geachtet wird.

So schwatzte mein Herz:

»Was du hier auf dem Wege blitzen siehst, ist kein Stein. Sondern ein Stück Sonne ist leibhaftig hier herabgefallen. Jetzt liegt es nur seines Glanzes wegen da. Hörst du die Grille? Wenn sie im Grase zirpt, oder wenn die Hummel an einem Halme läutet, ist es gut so. Ich und der Herrgott verlangen von ihnen nicht mehr. Das Löwenmaul auf der Wiese und das Lied der Ammer im Baum sind doch bloß ein und dieselbe klingende Blust, die sich vollenden will, Und dort drüben steht nicht der Plansker-Berg und im bayrischen Dunst nicht der Schreiner, wie du etwa glauben könntest, sondern es gibt nur Berg und abermals Berg, ohne jeden Namen. Alles nur Sprossen einer einzigen Leiter, die bloß aufwärts gestiegen werden will. Und ich brauche zu diesem Aufstieg selbst nichts dazu zu tun, sondern brauche nur zu warten und bereit zu sein. Denn – weißt du? – alles liebt mich und kommt in einem einzigen unaufhörlichen Strom ganz von selbst zu mir. Ich brauche nicht zu steigen, weil sich die Leiter von selbst unter meine Füße legt. Und so erhebt mich diese Leiter: Der Kies entläßt mich aufs Gras, die Halme heben mich auf die Sträucher, und diese werfen mich jählings in die Bäume. Dann kommt ein Wald, und ich bin plötzlich mitten in einer großen Gemeinde, welche einen Choral für sich erfindet und dann vor der Macht des eigenen Liedes wie vor etwas Überirdischem erschauert. Dann schwingen die Berge wie Glocken, und ich stehe aus ihren Kronen, habe die Welt im Ohr und ahne, daß mein eigenes Lied dereinst just diese Welt ausläuten wird.

Spindl, was bist du für ein gottseliger Mann! Du stehst aus dem Berge deiner Lust und weißt nun, wie du sie zum Frommen der anderen nützen wirst. Hundert Straßen kommen her zu deinen Füßen. – Brennt dich die Hand nach dem Griffel? Du wirst damit die Berge malen und die Straßen in die Zeilen stechen, eine Landkarte zeichnen als guten Führer zu dem Gipfel der Freude! So wirst du tun und nicht anders!

Hörst du mich, Geiger?«

Aber der Cäsar versteht mich falsch. Er streckt den Finger nach einem Weg aus und sagt: »Der da führt über den Frauenberg und dahinter über die Ebene nach Prag. Zehn Tage braucht ein rüstiger Fuß. Und der dort geht ins Österreicher Land, mit der Donau nach Linz. Wer sich links hält, gelangt nach Wien.« Es brennt die Sehnsucht nach der Ferne in seinen Augen.

Wie anders sieht er doch die Wege! Während ich stille stehe, und dafür die Wege auf mich zukommen, die Landschaft, die Welt mein Warten umdrängt; während ich immer mitten im Ziel und mitten in der Erfüllung bin, liegen für den Cäsar die Straßen still. Schritt für Schritt muß er sie sich erarbeiten, sieht sie selbst nicht, sondern nur ein jenseitiges Ziel, das sich doch immer nur weiter und weiter hinausschiebt.

Du bist nicht wie die Frau Mutter, Geiger, und du kannst nicht an ihre Stelle treten.

»Dieser Pfad da führt nach unserem Haus.« Aus der Art aber, wie er das sagt, erkenne ich, daß ihn dieser Weg nur zu einem Obdach, aber nicht nach Hause leitet. In Wahrheit hatte er kein Zuhause. Ich erschrecke über diese Erkenntnis. Gerne möchte ich ihm aus seiner Armseligkeit helfen, aber ich finde keinen Rat, so verzweifelt ich auch suche. Der Geiger fällt in einen immer rascheren Schritt. Seine Unruhe greift auf mich über und steckt mich an. So hasten wir schließlich beide, als gelte es, etwas zu retten. Und es war doch bereits alles verloren.

Er hat kein Zuhause, denke ich immer wieder und zittere vor Erbarmen und Liebe zu ihm. Ich wünsche das Haus bereits erreicht zu haben, und doch bangt mir davor.

»Spindl«, sagt er und verlangsamt plötzlich den Gang. Ich horche auf. Noch nie hat der Geiger meinen Namen mit einem solchen Ton gesprochen. Vor seiner Wärme schießt mir das Wasser in die Augen wie einem, der plötzlich an ein Feuer tritt. Ich halte den Atem an und warte und schließe mich gänzlich auf. Plötzlich stehen wir beide ja wieder ganz nahe beisammen. Vielleicht kann es für immer so bleiben. Der Geiger braucht nur das Tau zu mir herüber zu werfen, ich will unsere Schiffe dann fest aneinander binden. Wirf über! schreie ich innen.

»Was willst du?« sage ich aber bloß leise mit dem Munde. Der Geiger müht sich um ein Wort. Aber er bringt es nicht hervor, sondern würgt es wieder wie einen Kloß hinunter.

»Schlurf' nicht wie ein Rind!« brüllt er mich an. »Eil' dich, Höllensakrament!«

Wir sind vor dem Hause angelangt. Wir schnaufen beide wie abgehetzte Pferde. Aber der Cäsar läßt mich nicht zur Rast eintreten, sondern er treibt mich rund um das Haus herum.

»Die Wände sind getüncht, innen und außen. Ich muß es dir zeigen, damit du es später nicht vergessest. Das Dach ist ausgebessert, kein Regen näßt den Stuhl. Die Fenster sind frisch gekittet. So bald wird sie der Wind nicht eindrücken. Auch der Brunnen ist dicht, und die Pumpe zieht wieder einen vollen Hub. Die Latten am Zaun halten einige Jahre. Im Garten findest du keinen Ampfer, und auch von anderem Unkraut ist er frei. Du brauchst die Beete also bloß nicht mehr verschweinern zu lassen. Der Acker ist von der Quecke gesäubert, die Kartoffeln sind ordentlich gesteckt und gehäufelt. Wenn es das Jahr will, wirst du eine gute Ernte haben. Das Saatgut habe ich beim Seidel genug sauer verdient. Du brauchst also wegen Schulden keine Sorgen zu haben. Alles ist auf glatt.«

Dann führt er mich ins Haus hinein und durch die Stuben.

»In meinem Bette ist ein frischer Sack, und auch das Linnen ist vom besten. In der Truhe findest du noch etwas davon. Freilich nicht so viel, wie früher da war; dafür ist es aber neues Zeug, und genug für dich. Ein kranker Mesner kann eben ersparen, was ein gesunder versäuft«, lacht er. »Dem Adrian sage ich schon noch das Vergeltsgott dafür, daß er mir ohne Arbeit den Lohn weitergegeben hat. Für das Judengeld habe ich mir die Finger an den Federn wund gerupft. Dafür liegt aber auch noch ein Stück Geld unter deinem Bett in der Katze. Du brauchst sie nur hervorzuholen, falls ich zu kaufen vergaß, was du noch vermissest. Was hier als Erbteil etwa auf mich entfallen ist, habe ich längst verzehrt. Was jetzt noch da ist, gehört alles dir. Ich habe hier nichts mehr zu schaffen.«

Mit diesen Worten geht er zu seinem Schrank, und mit aufgerissenen Augen und mit einer verschnürten Kehle sehe ich zu, wie er seinen Wandersack hervorzieht und die beiden Geigen in den grauen Beuteln. Der Wandersack ist vollgepackt wie einst, wenn der Geiger für lange Zeit von uns Abschied nahm. Jetzt steht aber nicht mehr wie damals die Frau Mutter mitten in der Stube und sieht dem Geiger nicht mehr zu; aber ihr verhaltener Seufzer flattert wieder wie eine aufgescheuchte Fledermaus hervor. Langsam verstehe ich erst, was der Cäsar vorhat, aber ich halte ihn nicht davon ab, denn mich lähmt der Schrecken.

Er bindet sich den Sack auf den Rücken. Dabei stößt er seine kurzen Sätze vor sich hin, wie wenn in einem Wirtshaus einer sich zum Aufbruch rüstet und unterdessen dem Wirt noch einige Brocken hinwirft.

»Ich kann mein Blut nicht zurückhalten, weißt du? Zu meiner Unrast ist mir noch die des Trompeter-Wenz in den Leib gefahren. Deine Mutter hält mich nicht mehr zurück, und du warst zu schwach dazu.«

Er irrt. Ich war bloß früher zu schwach gewesen, aber jetzt wäre ich stark genug dazu. Aber jetzt will er sich nicht mehr halten lassen. Das ist es! Warum will er nicht?

»Ein Fisch gehört in sein Wasser. Ich gehöre auf die Landstraße. Kreuzteufel hinein! Ich halte es bei Weihrauch und Glockenstrick nicht mehr aus. Ich habe hungrige Füße, und die wollen Straßenstaub fressen.«

Der Wandersack sitzt jetzt fest auf dem Rücken. Der Cäsar prüft den Halt noch einmal mit einem Lupf.

»Sollte ich mehr versoffen haben, als du es für recht hältst, nimm dir die dunkle Geige da. Ich will keine üble Nachrede von dir.« Er langt einen Knotenstock hinter dem Kasten hervor und setzt sich den alten Hut mit der Falkenfeder auf.

»Wenn du von heute übers Jahr keine Kunde von mir hast, brauchst du nicht mehr auf mich zu warten. Ist alles zwischen uns ausgeglichen?«

Ich nicke.

»Ja«, sagt er bereits bei der Türe. Dann dreht er sich nochmals um. Scheinbar läßt es ihn doch nicht ohne weiteres von mir. Er kommt auf mich zu. Aber kurz vor mir schwenkt er ab und legt die Hand auf die Geige. Ich sehe deutlich, wie die Hand zittert. In seinem ganzen Leib arbeitet es mächtig.

»Versau mir die Geige nicht!«

Im Grunde will er aber etwas ganz anderes sagen, und während er die Geige streichelt, meint er mich. Dann ist er gegangen.

Wie durch einen Nebel sehe ich ihm durchs Fenster nach. Er geht gegen die Stadt zu. Ich möchte ihm nachspringen, aber ich werde ihn nicht mehr erreichen, denn bald biegt er um die Ecke, und dann weiß ich nicht, welchen Weg er eingeschlagen hat. Ich reiße das Fenster auf. Ich muß ihn halten. Ich glaube, wir könnten einander noch manches sagen, bevor wir auseinandergehen.

Cäsar, bleib!

Wenn ich ihm das aber noch so laut nachschreie, er wird doch nicht umkehren. Wie also rufe ich?

Plötzlich weiß ich es. Ich brauche bloß einen Namen zu sagen, den ich ihm bisher noch nie gegeben habe, bloß: Vater! zu rufen. Ich brauchte dieses Wort nicht einmal zu rufen, sondern nur vor mich herzusagen. Es würde ihn zusammenreißen, und er könnte nicht von der Stelle weiter. Dann würde er bei mir bleiben wie ein treuer Hund.

Aber ich spreche dieses Wort nicht aus. Ich darf keine Fesseln um sein Blut schlagen. Er soll sich mit mir nicht als mit einer Last herumschleppen müssen und um meinetwillen nicht etwa einmal die selige Frau Mutter wegen der hohen Stunde verfluchen, die sie ihm einst in der Feldscheuer mit einem reinen Herzen gab. Des Andenkens dieser Stunde wegen lasse ich ihn gehen.

Als er um die Ecke biegt, raffe ich mich zusammen wie einen Klotz. Ich wende mich um und habe mich ganz in der Hand. Wenigstens glaube ich so. Ich gröhle sogar das Lied, das wir damals mit dem Tureck-Karl ersonnen haben:

Vater hin, Vater weg!
Besser ist ein Bärendreck.«

Aber mir ist zum Kotzen.


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