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Ich war Hauslehrer geworden in einer schwedischen Familie. Die Leute hießen Holmsen und waren dänischen Ursprungs. Vater, Mutter und die drei Jungen hatten das gleiche bernsteingelbe Haar, das im Tageslichte wie pures Gold funkelte. Die Mutter, eine zur Völligkeit neigende Dame mit kirschroten Lippen und großen, schneeweißen Zähnen, deren stahlgraue Augen begehrlich aufleuchten konnten, nahm mich vor der ersten Lektion beiseite.
»Herr Kandidat,« sagte sie – und bei dieser Anrede blieb sie auch in der Folgezeit, obwohl ich mich gegen den amtlichen Titel energisch aufgelehnt hatte – »Herr Kandidat, Sie werden es, darauf möchte ich Sie von vornherein aufmerksam machen, mit den Jungen nicht leicht haben. Sind Burschen, die nicht gehorchen können. Berufen Sie sich nicht wie Ihre Vorgänger auf mich und Herrn Holmsen – denn damit würden Sie bei den Kerlchen schlecht anlaufen. Und nun wünsche ich Ihnen viel Glück.«
Bei diesen Worten zuckten, wie mir's schien, ihre kirschroten Lippen etwas höhnisch.
Ich erwiderte: »Madame, gestatten Sie mir auch eine kleine Vorrede. Ich werde weder Sie noch Herrn Holmsen je mit Klagen belästigen, dagegen erwarte ich Ihrerseits, daß Maßnahmen, die ich aus erzieherischen Gründen zu treffen genötigt bin, von Ihnen durchaus respektiert werden. Ich möchte noch hinzufügen,« fuhr ich fort, »daß ich bei meinen Schülern weniger eine Bereicherung des Wissens als Bildung der Charaktere anstrebe. Dieses,« schloß ich, »ist sozusagen mein pädagogisches Bekenntnis.«
Madame war platt und sah mich eine Weile starr an. Ein Hauslehrer mit derartigen Doktrinen war ihr noch nicht in den Weg gelaufen.
Ich fühlte mich infolge der tödlichen Pause noch zu einem Zusatz veranlaßt.
»Unser Wissen, gnädige Frau, ist Stückwerk – und ob einer etwas früher oder später die Weisheit gefressen hat, ist weniger von Belang, als daß seine Menschlichkeit nicht Schaden nimmt.«
Frau Holmsen entgegnete: »Versuchen Sie es einmal mit Ihrer Methode. Wenn sie fehlschlägt, sind wir ja nicht miteinander verheiratet.«
Das war ein deutliches Wort, das ich mit einer stummen Verbeugung quittierte.
Ich bin genötigt, den ganzen Vorfall mit ein paar Sätzen zu kommentieren. Erstens entsprach es wirklich meiner Überzeugung, daß es mit dem Büffeln vielleicht doch nicht getan ist, und daß es zum Wesen des Lehrers gehört, des Schülers Seele zum Blühen zu bringen – dann aber fühlte ich mich durch meine bisherigen Erfahrungen zur Aufrichtigkeit genötigt. Es war nicht meine starke Seite, Wissen einzubläuen – und ich wollte von Anfang an etwaigen Mißerfolgen nach dieser Richtung vorbeugen.
Nach unserer kurzen Diskussion führte mich Frau Holmsen in das Arbeitszimmer, in dem meine Zöglinge mich erwarteten. Der älteste hieß Knut und war vierzehn Jahre alt, der zweite Tuften, war zwei Jahre jünger, und der dritte, der den Namen Arne führte, zählte neun Jahre.
»Hier ist der Herr Kandidat,« sagte Frau Holmsen, »haltet gute Freundschaft mit ihm.«
Damit verließ sie das Zimmer, und ich war mit meinen Schülern allein.
»Nun, Jungens,« sagte ich, »wollen wir einmal sehen, was ihr schon in euren Schädeln habt. Also aufgepaßt!«
»Halt,« entgegnete Arne, der Kleinste. »Bevor Sie anfangen, lassen Sie gefälligst Stella herein.«
»Wer ist Stella?« fragte ich harmlos.
»Haben Sie unseren großen Neufundländer noch nicht gesehen, den müssen wir Ihnen zeigen, der muß dabei sein.«
Sie wollten nun alle drei aus dem Zimmer stürmen und Stella holen. Ich versperrte ihnen jedoch den Weg und sagte ruhig: »Wenn die Stunde aus ist, gehen wir in den Tiergarten, und dann mag uns in Gottes Namen Stella begleiten. Jetzt wird gearbeitet, und da ist Stella überflüssig.«
Nun geschah etwas Merkwürdiges. Der kleine Knirps Arne trat dreist und gottesfürchtig auf mich zu und rief, während er die Faust ballte, mit drohender Stimme: »Hören Sie denn nicht, daß Stella draußen an der Tür kratzt. Wenn Sie den Hund nicht auf der Stelle hereinlassen, ohrfeige ich Sie.«
Die beiden anderen sekundierten und erhoben ihre Fäuste.
Das kann gut werden, dachte ich und faßte einen raschen Entschluß. Ohne viel Federlesens zu machen, packte ich meinen Freund Arne, stellte ihn auf den Arbeitstisch, trat dicht vor ihn hin und sagte gelassen: »So, nun ohrfeige mich – aber Stella, darauf gebe ich dir mein Wort, tritt nicht eher ins Zimmer, als bis die Stunde beendet ist.«
Ich näherte dem Jungen meine Backe, so daß er nur zuzuschlagen brauchte.
Er sah mich zuerst an, dann begann er zu zittern und rührte sich nicht. Die beiden anderen gaben ebenfalls keinen Laut von sich.
»Schlag zu,« wiederholte ich noch einmal.
»Ich will nicht,« sagte er kurz und eine jähe Röte überzog sein schönes Knabengesicht.
»Gut, dann wollen wir arbeiten.«
Er stieg langsam vom Tisch herunter und biß sich trotzig auf die Unterlippe, um der aufsteigenden Tränen Herr zu werden.
Der Unterricht begann. Ich stellte Fragen und stellte fest, wie weit ihre Kenntnisse reichten. Hatte ich Ihnen etwas Neues zu erklären, so tat ich es, indem ich um den trockenen Gegenstand eine Fabel dichtete, oder ihnen auf mnemotechnischem Wege zu helfen versuchte. Die Stunde verflog im Handumdrehen. Und obwohl Stella, das Prachtexemplar eines Neufundländers, draußen vor der Tür knurrte und bellte, es half ihr gar nichts. Nach beendeter Lektion sagte ich, ohne mit der Wimper zu zucken: »Ich denke, jetzt könnten wir Stella hereinlassen.«
Im Nu war die Tür geöffnet. Und ein riesengroßes Tier stürmte wild bellend in das Zimmer, sprang toll vor Freude erst an den Jungen und dann an mir empor, so daß ich einen gelinden Schreck bekam. Indessen hütete ich mich wohlweislich, die Schlingel meine Besorgnis merken zu lassen.
»Die Mützen aufgesetzt,« kommandierte ich, »jetzt geht es in den Tiergarten!«
Es dauerte kaum drei Sekunden und meine Bengel waren fix und fertig. Schlank wie junge Tannen standen sie neben mir. In ihren hübschen, blauen Matrosenanzügen, den Hals völlig frei, auf den bernsteingelben Köpfen die Marinemützen, boten sie einen prächtigen Anblick. Jugendkraft und Übermut blitzten aus ihren hellen Augen. Ich war verliebt in sie. Als wir aus der Haustür traten, stieg gerade ein großes, schlankes Mädchen, das kaum siebzehn Jahre zählen mochte, die Treppe herunter.
»Fräulein von Horst … Fräulein von Horst,« riefen die Jungen jubelnd.
Das Fräulein kam auf uns zu. »Unser neuer Lehrer,« sagte Arne.
Sie nickte fröhlich und streckte mir mit einer großen, freimütigen Bewegung die Hand entgegen. Ihr Händedruck war stark und fest, als wollte sie mit ihm das Leben bejahen.
»Darf ich mitgehen?« fragte sie ohne viel Umschweife.
Tuften, der nach dem Vorfall mit Stella einen Widerstand meinerseits besorgen mochte, sagte rasch: »Das Fräulein von Horst begleitet uns täglich.«
»Da könnt ihr aber stolz sein,« erwiderte ich.
»Oho,« rief das Fräulein, »hier werden keine Komplimente gemacht, das verstößt gegen die guten Sitten.«
»Das sollte nichts weniger als eine Schmeichelei sein, es liegt gar nicht in meiner Art, die Kur zu schneiden.«
»Gott sei Dank, ich finde es auch greulich.«
Wir gingen über die Kronprinzenbrücke dem Tiergarten zu. Die beiden Jüngeren hängten sich an meine Arme; Knut schritt neben Fräulein von Horst, und Stella stapfte gravitätisch hinter uns her.
»Was studieren Sie?« fragte das Fräulein.
»Philosophie, Literatur, Nationalökonomie – mit einem Wort alles und nichts.«
»Und heimlich dichten Sie?«
Ich wurde rot wie ein Sextaner.
»Ach, wie kommen Sie darauf?«
»Ich lese es Ihnen von der Nasenspitze ab.«
Meine Jungen lachten laut auf.
»Ist es wahr, dichten Sie?«
»Und wenn ich dichte,« entgegnete ich ärgerlich, »ist das in Ihren Augen eine Eigenschaft, durch die man zur komischen Figur wird?«
»Ein bißchen seltsam sind schon die Dichter durch die Bank; Papa sagt, einen kleinen Spleen haben alle weg.«
»Mit Verlaub, ist Ihr Herr Papa in dieser Frage kompetent? Man kann im bürgerlichen Leben ein sehr tüchtiger und brauchbarer Mensch sein,« setzte ich doktrinär hinzu, »ohne von den Dichtern und dem Dichten das Geringste zu verstehen.«
Sie machte ein furchtbar komisches Gesicht und verkniff sich das Lachen. Dann reckte sie sich ein wenig in die Höhe und sagte: »Mein Vater ist sechseinhalb Fuß hoch, ist Oberstleutnant und Flügeladjutant seiner Majestät des Kaisers!«
»Respekt vor dem Kaiser und seinem Flügeladjutanten – trotz meiner politischen Divergenz!«
»Gebrauchen Sie doch nicht fortwährend Fremdwörter,« unterbrach sie mich. »Das ist langweilig, ich kann Sie doch nicht jedesmal fragen: was bedeutet das?«
»Entschuldigen Sie,« antwortete ich beleidigt, »aber wenn Ihnen meine Art, mich auszudrücken, mißfällt …«
»Um Gottes willen, spielen Sie jetzt nicht den Beleidigten, das wäre grauslich. Ich meine das nicht böse, aber mein Papa hat recht, man soll die deutsche Sprache rein halten – ich finde, Sie als Dichter müßten dem unbedingt zustimmen.«
»Zugegeben! Aber die Sprachreiniger um jeden Preis sind mir zuwider, wie alle Fanatiker. Goethe – – –«
»›Ein kluger Mensch beruft sich nie auf Goethe,‹ sagt der Oberstleutnant von Horst, Flügeladjutant Seiner Majestät des Kaisers. Weshalb? Weil Goethe, Bismarck, Luther auf einem Brett für sich stehen.«
»Liebes Fräulein, Sie haben mich geschlagen, allerdings mit fremden Waffen. Sie kämpfen mit der Klinge des Oberstleutnants von Horst – und ich bin ein armer Student, der mit seinem Rapier dagegen nicht ankommt – schließen wir Frieden, ich strecke die Waffen.«
»Fällt mir nicht ein,« antwortete sie, »das wäre ein fauler Frieden, den ich nicht mitmache. Wie boshaft Sie sind – nein, schrecklich boshaft sind Sie. Nun soll Papa und nicht ich Sieger sein. Von wem haben Sie denn Ihre Weisheit? Aus Ihrem kleinen Finger sich gesogen, hm? Verzeihen Sie, ein Kavalier benimmt sich anders. Also entweder ergibt sich die Festung ohne jeden Einspruch – oder der Kampf geht weiter.«
»Die Festung kapituliert auf Gnade und Ungnade.«
»Schade, und ärgerlich.«
»Weshalb?«
»Sie machen mir den Sieg zu leicht. Ein tapferer Feind kämpft bis zum letzten Blutstropfen. Die Festung ausliefern, wenn noch Munition vorhanden ist, gilt als –«
»Verzeihen Sie, Munition ist ein Fremdwort!«
»Da haben wir's! Nageln mich auf einen Ausdruck fest, der in die Soldatensprache übergegangen ist –«
»Trotzdem es ein Fremdwort ist –«
»Stimmt – leugne ich nicht – aber Sie sind hereingefallen und –«
Sie war uns mit einem großen Satz entsprungen und rief aus einiger Entfernung: »Wenn Sie mich kriegen, haben Sie gesiegt!«
Die Jungen und ich eilten ihr im Galopp nach, und Stella folgte mit lautem Gebell.
Die Leute im Tiergarten sahen kopfschüttelnd der wilden Jagd nach. Was scherte es uns, denen die Lebensfreude aus den Augen funkelte? Die Jungen brüllten vor Vergnügen, wenn ich schon meinte, das Fräulein erhascht zu haben, und sie mit einer aalglatten Wendung, mit einer scharfen Biegung mir entwischte. Aber plötzlich hatte ich sie gefaßt und während unser beider Atem flog, drückte ich sie einen Moment fest an mich.
»Genug,« sagte sie, ohne jedes Zimperlichtun und befreite sich mit einer kraftvollen Bewegung. Und indem sie sich aus der schneeweißen Stirn, die groß und breit war, das braunseidene Haar zurückstrich, sagte sie mit einem tiefen, schönen Lachen, mit den Augen lustig zwinkernd: »Keinen höheren Preis fordern – als man verdient hat.«
Ich lüftete den Hut und verneigte mich ehrfurchtsvoll vor dem Fräulein von Horst.
Dieses war meine erste Lektion in der Familie Holmsen.