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Grete Senz hielt sich an den Pakt, den sie in jener Nacht mit der Schwester geschlossen hatte. Sie mied in auffallender Weise Polizeileutnant Dorn und schuf Else die erwünschte Gelegenheit, mit ihm allein zu sein.
Zuerst war Polizeileutnant Dorn über dies befremdliche Benehmen ein wenig verstimmt. Er versuchte es, die Kleine zu stellen. Aber sie wich ihm so geschickt und so hartnäckig aus, daß er seine Bemühungen aufgab. »So eine verflixte Kröte,« dachte er, »hat dich an der Nase herumgeführt.«
Im Grunde war er ihr dankbar. Wer die Wahl hat, hat die Qual. Seine Qual war nun beendet. Und wenn Else Senz voll zarter Hingebung zu ihm emporsah, fühlte er sich reichlich entschädigt.
Sie ist entschieden die bessere Hausfrau – sagte er sich – und wird unzweifelhaft auch die bessere Mutter werden. Man heiratete nicht bloß des Amüsements wegen. Man war verpflichtet, bei diesem ernsten Schritt des Lebens alle Umstände mit in Erwägung zu ziehen. Else Senz würde ohne Murren seine Launen ertragen und sich von ihm tyrannisieren lassen. Er war nun einmal ein kleiner Tyrann – das gestand er sich ohne weiteres selber ein. Es wäre ihm wider den Strich gegangen, im Hause die Zügel der Frau zu überlassen. Die Kleine hätte ihm Nüsse zu knacken gegeben … Er lachte wollüstig in sich hinein. Fidel wäre es ja gewesen, sich mit ihr zu balgen und ihr schließlich den Herrn zu zeigen … Fidel vielleicht, aber aufreibend gewiß. Vor unnötigen Strapazen mußte er sich hüten. Er merkte ohnehin bereits, daß der Dienst ihm sauer zu werden anfing. An manchem Abend war er müde und abgespannt. Dabei setzte er zu seinem Ärger Fett an, und sein Doktor hatte ihm gesagt, daß er sich allmählich mit dem Gedanken an ein Spitzbäuchlein werde befreunden müssen.
Auch von Karlsbad hatte der Doktor gesprochen … Karlsbad …
Er hatte laut aufgelacht. Woher sollte ein armer Polizeileutnant die Kosten einer Badereise bestreiten? –
Immerhin, man mußte etwas für seine Gesundheit tun. Jedenfalls war er entschlossen, in kürzester Zeit seine Verlobung perfekt zu machen. Die Erkundigungen, die er als vorsichtiger Mann unter der Hand über die Vermögensverhältnisse des Herrn Ludwig Senz eingezogen hatte, waren außerordentlich gut ausgefallen. Herr Senz vermochte jeder Tochter eine Mitgift von fünfzigtausend Talern zu geben. Freilich enthielten die Auskünfte noch gewisse Andeutungen, die ihn bedenklich hätten stimmen können, wenn er nicht über die Nebenbeschäftigung des Herrn Senz schon durch seine amtliche Tätigkeit unterrichtet gewesen wäre.
Wie Herr Senz zu dem Gelde gekommen war, konnte ihm schließlich gleichgültig sein. Pecunia non olet – sagt der Lateiner – ein Wort, das er unterschrieb.
Unmittelbar bevor er sich erklären wollte, trat ein Ereignis ein, das unser ganzes Haus in tiefe Erregung versetzte und auch Polizeileutnant Dorn vorübergehend in seinem Entschluß wankend machte.
Herr Ludwig Senz war plötzlich in Aachen verhaftet worden, und in allen Zeitungen stand zu lesen, daß die Staatsanwaltschaft gegen ihn ein Verfahren wegen gewerbsmäßigen Glücks- und Falschspiels eingeleitet hatte. Als unser Vater beim Frühstück die Neuigkeit vorlas, blieb uns der Bissen im Munde stecken. Meine Mutter sagte: »Die arme, arme Frau!«
Meiner Schwester Helene rannen in Gedanken an die Mädchen große Tränen über die Backen, und ich sah im Geiste Walter Senz' vergrämte Züge.
Meine Schwester und ich hielten es nicht aus. Wir flogen die Treppe hinunter, um den Freunden in ihrer Not beizustehen.
Die Mädchen schlossen sich mit meiner Schwester ein. –
Walter Senz aber drückte meine Hand so fest, daß ich vor Schmerz hätte aufschreien mögen.
»Was die Zeitungen schreiben,« sagte er zu mir, »ist die gemeinste Niedertracht. Ich weiß sehr wohl, daß mein Vater – Gott sei's geklagt – dem Spielteufel verfallen ist – aber ein Falschspieler … das ist eine erbärmliche Verleumdung. – Du mußt mich recht verstehen,« fuhr er fort, »für meinen Vater ist das Spielen zu einer Leidenschaft geworden, wie für einen anderen das Trinken oder der Genuß des Morphiums. Ich weiß von meiner Mutter, daß er mit aller Kraft dagegen angekämpft hat, ohne daß es ihm gelungen wäre, diesen Dämon zu besiegen. Aber dafür will ich meine Hände ins Feuer legen, daß mein Vater sich eher eine Kugel durch die Brust schießen, als eine gezeichnete Karte anrühren würde.«
Einen Moment schwieg er aufatmend.
»Für uns,« fügte er dann hinzu, »ist ja dieser Prozeß ein entsetzliches Unglück – und wie meine Mutter und die Mädchen darüber hinwegkommen werden, ist mir noch unklar. Ich für mein Teil gehe nicht mehr in die Schule. Vor Scham würde ich versinken, müßte ich all die neugierigen Gesichter sehen und hinter mir das Getuschel hören. – Dem Direktor habe ich alles geschrieben und ihn um mein Abgangszeugnis gebeten … Und nun will ich dir etwas sagen: Wenn mich eines aufrecht hält, so ist es die Gewißheit, mein Vater wird den Beweis erbringen, daß er niemals eine falsche Karte in die Hand genommen hat.«
So sprach der mutige Junge mit tränenerstickter Stimme, und ich pflichtete ihm bei und sagte zu seinem Troste, mein Vater sei immer der Ansicht gewesen, alles Unglück komme von den Zeitungsschreibern her. – Wenn es nach Vater ginge, würde man sie der Reihe nach an die Laternenpfähle schlagen und ihnen – statt wie im alten Rom das » C«, das, wie ihm bekannt, eine Abkürzung von » calumniator« ist – den ersten Buchstaben des Wortes Verleumder – also das »V« auf die Stirn brennen …
Walter lächelte wehmütig. Dann fragte er mich verzweifelt: »Was kann man tun? Soll ich auf sämtliche Redaktionen laufen und erklären, jeden dieser Schweinehunde niederzuknallen, der noch ein einziges Wort der Verdächtigung gegen meinen Vater drucken läßt?«
Ich überlegte ein Weilchen.
»Hat keinen Zweck,« entgegnete ich dann. »Sobald der Prozeß erledigt ist, muß man das ganze Gesindel verklagen, wenn einem die Geschichte nicht zu ekelhaft ist.«
Er stimmte mir bei.
In den nächsten Wochen wurden unsere Freunde gewissermaßen auf die Folter gespannt. Es war unerhört, was die Blätter nicht alles über den »Fall Senz« brachten. Die Bagage von Reportern erdreistete sich, bis in unser Haus zu dringen und die Mieter über die Familie Senz auszuspionieren.
Zur Ehre von Portier Staegemann muß hier gesagt werden, daß er jeden, den er von der Gesellschaft erwischte, an die Luft beförderte.
Dennoch konnte nicht verhütet werden, daß die Zeitungen die albernsten Märchen über unsere Freunde verbreiteten. In einer Notiz stand: Die Familie Senz hat einen fürstlichen Haushalt geführt, der auf zwanzig- bis dreißigtausend Taler jährlich veranschlagt wird. Frau Senz hielt sich außer einem Koch nicht weniger als vier Dienstboten. Der Hausherr war beständig auf Reisen und hat mit besonderer Vorliebe die mittleren deutschen Provinzstädte mit seinen Besuchen beehrt. Es verlautet, daß er allerhöchste Persönlichkeiten zu seinen Spielabenden heranzuziehen gewußt hat, worüber der bevorstehende Prozeß noch interessante Aufklärungen bringen dürfte.
Frau Senz lag in Weinkrämpfen da. Und Else Senz hielt ihr junges Lebensglück für zertrümmert. Denn nun schien es ja völlig ausgeschlossen, daß Polizeileutnant Dorn einen Antrag machte. Ein Mann in Amt und Würden und die Tochter eines öffentlich gebrandmarkten Spielers – das ging nicht zusammen!
Eines Nachmittags klingelte es im zweiten Stock, und Polizeileutnant Dorn erschien in Zivil auf der Schwelle.
Die Mädchen fuhren zitternd empor, und Frau Senz ordnete mit einer nervösen Bewegung ihr Haar.
»Jetzt macht er seinen Abschiedsbesuch,« flüsterte sie mit weißen Lippen meiner Schwester zu. »Bleibe bei Else, liebes Kind, und hilf ihr über die schwere Stunde hinweg.«
Nun ging Frau Senz in das Empfangszimmer, in dem der Leutnant sie erwartete.
Sie wünschte ihm mit verschleierter Stimme einen guten Tag und forderte ihn auf, Platz zu nehmen.
»Herr Leutnant,« sagte sie, »wir wollen keine Phrasen wechseln. Ich weiß, daß Sie die Beziehungen zu unserem Hause abbrechen müssen – und ich rechne es Ihnen hoch an, daß Sie persönlich gekommen sind, anstatt – was bequemer für Sie gewesen wäre – den in solchen Fällen üblichen Brief zu schreiben. – Haben Sie dafür herzlichen Dank! – Meine Töchter und ich – insbesondere Else – werden Sie nicht vergessen!«
Nach diesen Worten, die sie mit großer Anstrengung und Selbstbeherrschung hervorgebracht hatte, erhob sie sich und gab so gleichsam das Zeichen zum Abschied.
Polizeileutnant Dorn, der Frau Senz ruhig hatte zu Ende reden lassen, nötigte sie nun mit ernster Miene, noch einmal Platz zu nehmen und ihn anzuhören.
Frau Senz folgte zögernd, obwohl sie von der Fortsetzung der ihr peinlichen Unterhaltung nur weitere Aufregungen befürchtete.
»Meine sehr verehrte und gnädige Frau,« begann langsam und diplomatisch der Polizeileutnant, »Sie haben sich über meinen Charakter ein klein wenig getäuscht. Ich nehme Ihnen das nicht übel, denn Sie kennen mich zu kurze Zeit, um mich gerechter zu beurteilen. Ich müßte mich vor mir selber schämen, wollte ich in solch einer Situation fahnenflüchtig werden – jawohl – fahnenflüchtig; die Dinge haben sich freilich durch die letzten Vorfälle etwas verschoben, aber mein Gefühl für Ihr Fräulein Tochter Else hat sich darum nicht geändert. Vielleicht erinnern Sie sich einer unserer Abendunterhaltungen, gnädige Frau, in der ich meine Anschauungen über das Leben freimütig geäußert habe. Ich sagte damals, die Hauptsache sei, Konsequenzen ziehen zu können. Das war keine leere Redensart, sondern mein bitterster Ernst.
Ich stehe jetzt vor Ihnen, um die Hand Ihrer Fräulein Tochter zu erbitten, und bin zugleich entschlossen, mein Leben von Grund aus zu ändern, das heißt, die Uniform auszuziehen und eine bürgerliche Stellung anzustreben. Mit einem Worte,« schloß er, und ein treuherziges Lächeln spielte um seinen Mund, »ich will wieder einmal Konsequenzen ziehen.«
Frau Senz schwindelte es während dieser langen Rede.
»Aber lieber Herr Leutnant,« antwortete sie, und ein Glücksempfinden ohnegleichen erfüllte ihre Brust, denn sie glaubte noch immer nicht ihren Ohren trauen zu dürfen – »haben Sie denn den ganzen Ernst Ihres Schrittes erwogen? Sind Sie sich darüber klar geworden, was es heißt, seine Karriere zu opfern?«
»Ohne Frage, meine gnädige Frau. Aber ich bilde mir ein, man kann auch ohne Uniform ein zufriedener und glücklicher Mensch sein.«
Ein Freudentaumel bemächtigte sich Frau Senz'.
»Lieber, lieber Sohn,« sagte sie, und die Tränen stürzten ihr aus den Augen, »in meiner Sterbestunde vergesse ich Ihnen das nicht … Ich vermag im Augenblicke keine großen Worte zu machen … Ich bin ja so glücklich … so über alle Maßen glücklich … Ich will nur schleunigst das Kind rufen, das sich in seinem Grame verzehrt.«
»Gemach – einen Augenblick gemach,« sagte Polizeileutnant Dorn. »Sie werden es mir nicht verübeln, wenn ich noch einen Moment über die praktische Seite dieser Angelegenheit spreche, obwohl mir das nicht gerade leicht fällt. – – Ich bin kein Freund eines langen Brautstandes und müßte mich trotzdem dazu entschließen, da ich – wie Ihnen bekannt sein dürfte – in abhängigen Verhältnissen lebe. Als ein armer Teufel kann man sich über Nacht nicht eine neue Existenz schaffen. Nun habe ich mich unter der Hand bereits nach etwas Passendem umgesehen, und da bietet sich mir eine glänzende Position. Ich könnte als Teilhaber in eine große Sektfirma eintreten, falls ich in der Lage wäre, mich mit dreißig- bis vierzigtausend Talern zu beteiligen. Sekt ist bekanntlich ein gangbarer Artikel, und ich brauchte mich sozusagen nicht erst einzuarbeiten, denn von der Branche verstehe ich etwas. Man würde mich durchaus nicht bloß der Einzahlung wegen als Kompagnon akzeptieren, sondern weil ich gewisse Beziehungen habe und eine gute Kundschaft ins Geschäft brächte. Für Sekt haben die Kameraden eine Vorliebe.«
Frau Senz hatte nur mit halbem Ohr zugehört, ihr Herz war bei der Tochter. Dennoch nickte sie eifrig.
»Mein lieber Herr Leutnant,« entgegnete sie, »über diesen Punkt brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Das Heiratsgut meiner Töchter ist festgelegt – darauf bin ich bedacht gewesen, ich kann es zu meinem Stolze sagen. Jedes der Mädel erhält fünfzigtausend Taler Mitgift. Ich habe immer ein Unglück vorausgesehen und bin auf der Hut gewesen.«
Ein großartiges Gefühl der Befriedigung durchdrang Polizeileutnant Dorn. Die Summe stimmte also – er war gut berichtet gewesen.
Nun hielt es Frau Senz nicht länger aus – sie lief an die Tür und rief mit lauter Stimme: »Else … Else!«
Gleich darauf erschien Else Senz. Ihr Gesicht war weiß wie Linnen.
Die Mutter entfernte sich hastig.
Polizeileutnant Dorn führte nach seinem Lebensmotto »Immer durch« eine kurze und entschlossene Attacke aus.
»Mein liebes, liebes Mädchen,« sagte er, »ich komme in einer schweren Stunde zu Ihnen – aber ich komme mit einem vollen Herzen und biete Ihnen meine Hand fürs Leben. – Alles will ich tun, um Sie glücklich zu machen.«
Das arme Geschöpf fand keine Worte. Der Übergang von unsagbarer Trauer zum höchsten Glücke war zu schnell erfolgt. Sie sah ihn voll rührender Dankbarkeit an, schlang ihre Arme um seinen Hals und küßte ihn inbrünstig.
Frau Senz ließ auch zu längeren Auseinandersetzungen keine Zeit. Sie trat mit Margarete und meiner Schwester wieder in das Zimmer, und das Dienstmädchen, das Wein und Gläser trug, folgte.
Goldener Rheinwein füllte die Gläser.
In tiefer Rührung stieß man auf das Glück des jungen Brautpaares an.
Grete Senz' Augen waren starr auf Polizeileutnant Dorn gerichtet.
In unverständlichen Lauten murmelte sie ihren Glückwunsch.
Meine Schwester Helene machte sich eiligst aus dem Staube, um voller Erregung und Befriedigung die Neuigkeit an die große Glocke zu hängen.