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An einem wunderschönen Julisonntag hielt ganz in der Frühe ein zweispänniger Kremser vor unserem Hause, um das ganze Pensionat nach Johannistal zu befördern.
Die Mutter hatte eine große Kalbskeule, die ihrer Schätzung nach gut und gern ihre zehn Pfund wog, gebraten und wohlverpackt dem Kutscher anvertraut.
Und wir alle bestiegen in fröhlicher Laune den altmodischen Wagen, der bei Familien und Vereinen zu jenen Zeiten noch in hohem Ansehen stand.
Es ging über den Görlitzer Bahnhof zuerst nach Treptow. Als wir das Häusermeer der Großstadt hinter uns hatten, setzten wir uns bunte Papiermützen auf, holten allerhand Musikinstrumente hervor und fingen im Chor zu blasen an, bis uns die Lungen wehe taten.
Mein alter Vater hörte lächelnd zu. Ich sehe ihn deutlich vor mir mit dem breitkrempigen Strohhut, unter dem das weiße, lange, sorgfältig gepflegte Haar bis zu den Schultern wallte. Freilich, die heiße Julisonne, die das Pflaster der Straße sengte, tat ihm wohl. Wie ein Patriarch saß er unter uns, auch die fremden Menschen, die in unserem Hause eine Heimstätte gefunden hatten, zur Familie rechnend.
Die hellen, grauen, durchdringenden Augen, die unter der mächtig gewölbten, von denkerischer Arbeit zeugenden Stirn tief in den Höhlen lagen, ruhten prüfend auf meinen Zügen, als wollten sie aus ihnen mein künftiges Schicksal herauslesen.
Ich stand vor dem ersten Semester und genoß in vollen Zügen die ganze Seligkeit der Muluszeit. Ich faulenzte nach Herzenslust, reckte und streckte bis in den frühen Morgen hinein meine Glieder, in dem kostbaren Gefühl, du kannst in den Federn bleiben, so lange es dir paßt, brauchst nicht in Sturmschritten durch die Kochstraße ins Gymnasium zu rasen, kein Professor Schulze lauert dir in der Mathematikstunde mit hundsföttischen Formeln auf, keine horazische Ode brauchst du zu memorieren, keine vermaledeite Tacitusstelle legt dich herein. Welcher Mulus kennt nicht diese unsagbaren Wonnen. Und wenn es in der Zeit überhaupt flüchtig leisen Schmerz gibt, so ist es der, daß man mitten in der Nacht plötzlich aus einem wüsten Traum erwacht, sich erschreckt die Augen reibt und sich fragt: ist es Wahrheit, oder war es nur ein entsetzliches Traumgespinst, das einem vorgegaukelt, man sei mit Pauken und Trompeten durchs Examen gerasselt und müsse noch ein volles Jahr den Schulkarren mühsam tagaus, tagein vorwärts bewegen.
Welch seliges Aufatmen bringt einem im nächsten Augenblick die Erkenntnis. Gelobt sei Jesus Christ, gepriesen Allah und Jehova, es war nur ein Traum.
Hinter mir liegt das Marterdasein der Schule – die Freiheit und die Welt gehören mir, mit tausend bunten Wimpeln segle ich hinaus ins Weite, durstig nach dem Leben, durstig nach Ruhm.
Der Wind weht durch meine Haare – und meine Augen blitzen, o Welt, wie bist du wunderschön, Frau Welt, ich singe dein Lied und hole mir den Kranz, den du mir beutst …
Ahnte mein Vater etwas von den Gedanken, die durch mein Hirn wirbelten – warum sah er mich so ernst, so traurig und so melancholisch an? –
»Junge, was willst du studieren?« fragte er mich.
»Philosophie – deutsche Literatur und Nationalökonomie!«
»Brotlose Künste,« sagte der Vater, »mit denen man gemeiniglich keinen Hund vom Ofen lockt. Dennoch, Junge, ich sage nicht nein. Jeder muß sich selber den Weg bestimmen, den er für sein Leben zu gehen denkt. Aber auf dem Wege, den er freiwillig gewählt, darf er nicht müde werden, und wenn es Enttäuschungen und Prügel hagelt. Hast du es dir reiflich überlegt, mein Junge, weißt du, daß bei der Karriere Schmalhans den Küchenkoch macht?«
»Ja, Vater.«
»Dann sieh vorwärts, sieh nicht nach links und sieh nicht nach rechts. Und wenn du merkst, du hast die gerade Richtung verloren, so fackle nicht lange und mache schleunigst kehrt, ehe es zu spät ist. Das Leben, Junge, ist eine Bürde, die man mit Anstand tragen muß. Wer unter ihr zusammenbricht, ist ein Schwächling, ist ein elender Wicht.«
Der Vater wandte sich ab, ohne meine Antwort abzuwarten. Aber ich begriff, daß er aus einem Gefühle tiefer Freundschaft zu mir gesprochen hatte. Der gütige Ausdruck seiner Miene stach von seiner gewohnheitsmäßigen Strenge deutlich ab, und ich empfand es in tiefer Freude als ein Zeichen seiner Achtung, daß er mit keinem Worte versucht hatte, mich von meinem Hungerstudium abzubringen.
Dieses habe ich mein Lebtag dem Vater nicht vergessen.
Unterdessen hatte unser Kremser sein Ziel erreicht, und wir stiegen in der Waldschenke von Johannistal aus.
Das Spiel im Freien begann. Die jungen Leute tollten wie die Kinder, während der Vater und die Mutter unter den Kiefern saßen und uns zuschauten. Meine Schwester Helene hatte sich mit Grete Senz in die Büsche geschlagen. Grete Senz war mit von der Partie gewesen – zu Hause vermochte sie es mit ihrem Leid nicht auszuhalten. Sie umklammerte mit einer zärtlichen Traurigkeit meine Schwester, während sie sich von allen anderen Menschen, selbst von ihrer Mutter, ängstlich zurückzog. Ihre Seele war bis zum Rande mit Bitterkeit angefüllt, und meine Schwester erschrak vor den Ausbrüchen ihres leidenschaftlichen Zornes.
»Du wirst es sehen,« sagte sie, »eines Tages zieht man mich aus dem Wasser, ich halte dieses Leben nicht länger aus.«
Meine Schwester suchte sie aufzurütteln und schalt sie mit heftigen Worten.
»Und an das Leid, das du anderen Menschen damit zufügen würdest – denkst du nicht?«
»Nein,« entgegnete Grete Senz und schüttelte trotzig die blonden Locken, »ich denke nur an mich. Was sollen mir die anderen, wer hilft mir?«
Da bekam meine Schwester vor Ärger einen roten Kopf und wandte ihr den Rücken.
»Lene, geh nicht von mir, was kann ich dafür, daß ich so schlecht und elend bin.«
»Du bist nicht schlecht, hast dir nur eine unsinnige Leidenschaft in den Kopf gesetzt, die dich vollends um dein bißchen Vernunft bringen wird. Kämpfe dagegen an.«
»Ich kann nicht, und wenn ich noch so verzweifelt mich dagegen wehre, ich kann nicht. Ich fühle, es ist mein Schicksal, daß ich daran zugrunde gehe.«
»Du bist ein Kindskopf, weißt du, was mein Vater in solchem Falle zu sagen pflegt? Paß auf, er sagt, er hat in seiner ganzen langen Praxis noch keinen Menschen gesehen, der am gebrochenen Herzen gestorben ist. Das käme nur in den Romanen vor. Und ich glaube, mein Vater hat recht. Es wäre auch zu toll,« setzte sie in belehrendem und über ihrem Alter klugen Ton hinzu, »wenn man jeden Liebeskummer gleich so tragisch nehmen sollte. Denke nur an meinen Uhrmacher,« fügte sie ein wenig melancholisch hinzu, »und erinnere dich an all die klugen Worte, die du damals zu mir gesprochen hast, als ich meinte, ich käme über meinen Gram nicht hinweg.«
Grete Senz lachte inmitten ihrer Traurigkeit laut auf.
»Ach, wie kannst du so etwas nur heranziehen, du Närrin,« erwiderte sie, um gleich darauf wieder in ihre Traurigkeit zu versinken.
»Habe ich ihn etwa nicht geliebt?« fragte meine Schwester tiefgekränkt.
»Gewiß magst du ihn geliebt haben. Aber das war doch eine krankhafte Einbildung,« und wieder halb belustigt, fügte sie hinzu: »dieser Buckelhans mit der Zwergengestalt!«
Das ging meiner Schwester Helene, die sich in ihren heiligsten Empfindungen verletzt sah, denn doch über die Schnur. Und während sich ihr Gesicht bis über die Nasenwurzel rötete, sagte sie mit schlecht unterdrücktem Zorn: »Weißt du, Grete, wenn du so redest, könnte man meinen, daß bei dir alles auf der Oberfläche liegt und du überhaupt keiner tieferen Empfindung fähig bist. Es war ein elender Mensch – gewiß – und einen Buckel hatte er auch und, wenn du willst, eine Zwergnase. Was tut das? Kommt es nicht vielmehr darauf an, wie ein Mensch in seinem Innern aussieht?«
»Du bist im Irrtum,« entgegnete Grete Senz, »wie es im Herzen einer Kreatur ausschaut, weiß nur Gott. Wir Menschen können uns nur an das halten, was unserem Auge sichtbar ist. Und eine gerade gewachsene Tanne ist mir schon lieber, als ein verkrüppeltes Bäumchen. Wenn du von mir behauptest, ich hätte keine tiefere Empfindung, so sage ich, dir fehlt jeder Sinn für Schönheit. Du brauchst dir bloß das Gesicht mit kochendem Wasser zu überbrühen, und fortgeblasen ist aller Reiz – ein entstelltes und verzerrtes Menschenkind bleibt übrig. Alles, was du redest,« fuhr sie fort, »ist grundfalsch. Und du glaubst selbst nicht daran.«
»Doch, ich glaube daran. Man kann einem ins Herz sehen. Aus den Augen meines armen, buckeligen Uhrmachers, lache mich getrost aus, mir tut das nichts, leuchtete Güte und Schönheit – und eines kann ich dir hier unter vier Augen anvertrauen, mein Vater hätte sich so wenig wie ich weder an dem Buckel des armen Menschen, noch an seinem Handwerk gestoßen. Nur weil er einen siechen Körper hatte, ist er so dagegen gewesen. Von klein auf hat mein Vater uns gepredigt, wir sollten einen Menschen nie nach seinem Äußern und nie nach seinen Worten bewerten, sondern nach seinen Handlungen und Leistungen. Warte du erst einmal ab,« schloß sie unvermittelt, »was ihr an Leutnant Dorn noch für Erfahrungen machen werdet. Es ist nicht aller Tage Abend!«
»Wie meinst du das?« fragte Grete gereizt.
»Nicht anders wie ich es sage. Ich traue ihm nicht über den Weg. Ihr seid alle wie geblendet und habt einen Narren an ihm gefressen – euer blaues Wunder werdet ihr an dem noch erleben. Dafür will ich meine Hand ins Feuer legen.«
»Ja, wie kommst du denn auf dieses tolle Zeug?« fragte Grete wie erstarrt, »das ist doch geradezu bösartig, über einen Menschen, den du kaum kennst, so zu reden.«
»Nenne es wie du willst, ich kann mir nicht helfen, ich habe ihm von der ersten Stunde an mißtraut – und mir ist es nicht allein so gegangen. Frage nur Walter und meinen Bruder Felix!«
»Hm!« machte Grete Senz und zog die Augenbrauen finster zusammen. »Und das ist alles, was du gegen Leutnant Dorn vorzubringen vermagst, weil diese albernen, großschnäuzigen Jungen –«
»Entschuldige,« unterbrach sie meine Schwester, »die beiden Jungen sind mir im kleinen Finger lieber, als der ganze Leutnant Dorn. Die haben über ihre Jahre hinaus einen großen Ernst und eine Seele, in der kein Arg schlummert.«
»Sag mal, Lene, du hast wohl in letzter Zeit mächtig viel Romane gelesen. Du redest nämlich so geschwollen.«
Meine Schwester mußte laut auflachen, und die gereizte Kampfstimmung zwischen den beiden war verflogen; sie lagen sich plötzlich in den Armen und küßten sich unter Schluchzen und Lachen.
»Liebstes Gretel, ich habe keinen größeren Wunsch, als in diesen Dingen unrecht zu behalten. Was kann ich für meine schlimme Ahnung, die mir das Herz abdrückt. Ich werde den Gedanken nicht los, daß Leutnant Dorn euer Unglück ist.«
»Vielleicht hast du viel mehr recht, als du auch nur im Traume denkst,« entgegnete die Freundin. »Was hilft das, und wozu soll man sich mit Ahnungen und Gesichten quälen? Alles kommt, wie es kommen muß, und damit basta! Niemand kann sein Schicksal aufhalten!«
»Glaubst du das wirklich?«
»Ich glaube es felsenfest. Vom Tage der Geburt an ist unser Dasein bis auf die letzte Stunde bestimmt, und niemand vermag dem ihm einmal bestimmten Lose zu entrinnen …«
»Mädels – – Mädels!« tönte es von der Waldschenke.
Es war die Stimme meiner Mutter, die zu den Ohren der Freundinnen drang. Grete Senz hängte sich in den Arm meiner Schwester, und schweigend gingen sie den kurzen Weg zurück.
»Wo steckt ihr denn,« rief ihnen meine Mutter entgegen, »rasch den Laib Brot aufgeschnitten, jetzt wird getafelt.«
Die beiden machten sich an die Arbeit, ohne ein Wort zu reden, jedes hing seinen Gedanken nach.
»Und nun,« kommandierte meine Mutter, »holt den Kalbsbraten und schneidet ihn in großen Scheiben auf.«
Meine Schwester machte sich an den großen Korb, in dem die Eßvorräte aufbewahrt wurden, um die Kalbskeule hervorzuholen.
»Wo ist denn die Kalbskeule?« rief sie meiner Mutter zu.
»Im Korbe, dumme Liese!«
»Nein, da ist sie nicht.«
»Mach mir keine schlechten Späße,« entgegnete etwas ärgerlich die Mutter.
»Das fällt mir gar nicht ein, wirklich nicht. Es muß einer schon den Braten herausgenommen haben.«
Meine Mutter schrak sichtlich zusammen. Ohne ein Wort zu erwidern, lief sie zum Korbe.
Nein, da war wirklich keine Spur von dem Braten zu entdecken.
Unter den Kiefern saß bereits die ganze Gesellschaft an den Tischen. – Die Kellner hatten inzwischen das dünne, helle Bier aufgetragen, und alle warteten mit hungrigen Magen auf den Mittagsschmaus.
Meine Mutter kam mit hochrotem Kopf an die Tafel, die beiden Mädchen folgten ihr wie begossene Pudel.
»Jemand hat sich einen üblen Witz gemacht,« sagte sie verdrießlich, »und die Kalbskeule versteckt – also wer war der Missetäter, und wo ist der Braten?«
Was nun folgte, war eine große Schwurszene, mit der verglichen jene auf dem Rütli das reine Kinderspiel gewesen sein muß.
Alle beteuerten der Reihe nach hoch und heilig, von der Kalbskeule nichts zu wissen. Und nun erhoben sich mit Ausnahme des Vaters sämtliche Tischgenossen, um die Kalbskeule unter den Kiefern zu suchen.
Es war ein verzweifeltes Aufundabrennen, während die Mutter in stummer Qual die Hände rang.
Da auf einmal stieß meine Schwester Ida einen lauten Schrei aus, der nichts Gutes ahnen ließ. Alle stürzten zu ihr hin, die, ohne ein Wort aus der Kehle zu bringen, in starrem Schrecken auf einen großen, frisch abgenagten Knochen wies.
Meine Mutter vermochte sich nicht länger zu beherrschen. Das also war des Rätsels Lösung – irgendein Köter hatte den Braten entdeckt und, des Raubes froh, ihn bis auf den Knochen abgenagt. Nur dieser klägliche Rest zeugte von verflossener Pracht und Herrlichkeit.
Einen Augenblick herrschte lautlose Stille. Dann aber kam mir die Situation so wahnsinnig komisch vor, als ich ringsum all die Leichenbittermienen sah, daß ich in ein lautes Gelächter ausbrach.
In selbiger Sekunde fühlte ich auf meiner Rechten einen brennenden Schmerz, der von einer kräftigen Ohrfeige herrührte, die mir meine Schwester Helene mit den Worten »du gemeiner Schlingel« verabreicht hatte. Diese Ohrfeige löste bei allen – mit Ausnahme meiner Mutter, deren Bekümmernis viel zu groß war – eine schallende Heiterkeit aus. »Ihr habt gut lachen,« sagte tief bedrückt meine Mutter, »was soll aber jetzt aus unserem Mittagbrot werden?«
»Das mit der Ohrfeige vergesse ich dir sobald nicht,« wandte ich mich gereizt an meine Schwester. »Nur der Mutter wegen habe ich keine Szene gemacht.«
Helene lachte laut auf.
»Du dummer Junge,« antwortete sie, »es soll dir im ganzen Leben nichts Schlimmeres passieren, weiß Gott,« setzte sie leise hinzu, »wenn du wüßtest, was ich mit Grete Senz durchmache, würdest du dich bei so einer Kleinigkeit nicht aufhalten.«
Inzwischen hatten die Hausgenossen Kriegsrat gehalten, eine große Sammlung veranstaltet, zu der jeder sein Scherflein beigetragen, und aus der Küche der Waldschenke große Portionen von Schinken und Wurst zusammengetragen als Ersatz für den auf so erbärmliche Art verschwundenen Kalbsbraten. Die gute Mutter blickte trübsinnig vor sich hin – sie konnte die Kalbskeule, die ihr Stolz bei der ganzen Kremserfahrt gewesen war, nicht verschmerzen. Sie brachte keinen Bissen herunter. Und als ob dieser Tag dem Unglück verfallen sein sollte, hatten sich inzwischen die Wolken dunkel und drohend zusammengezogen, und man mußte aus dem Freien in das Restaurant flüchten, um gegen das Unwetter, das prasselnd sich entlud, Schutz zu suchen.
Der Vater saß, wie bei uns zu Hause, oben an der Tafel und erzählte von Beethoven, der allen Erdenjammer und alles Erdenglück wie kein anderer Musikant aus seiner einsamen Seele geschöpft hätte. Und dann berichtete er Züge aus dem Leben des großen Meisters, der mit einer Ehrfurcht und einer Bescheidenheit ohnegleichen zu Goethe aufgeblickt, ohne von diesem in seinem ganzen Schwergewicht begriffen worden zu sein. Und wie der halsstarrige Meister auf dem Teplitzer Spaziergang sich über Goethe bis ins Innerste verwundert hätte, als der Dichter vor einem an ihnen vorbeischreitenden hohen Herrn sich über die Maßen tief verneigte und Beethoven stehen ließ. Der begriff das nicht – was waren alle diese Fürsten der Erde im Vergleich zu Goethe?
Wenn der Vater Beethovens gedachte, war sein Antlitz verklärt. Des großen Musikanten Schicksal erschütterte ihn, die Einsamkeit dieses tragischen Daseins hatte für ihn etwas im letzten Sinne Vorbildliches und Erzieherisches. Und während der Regen an die Scheiben schlug, sprach der Vater von des großen Meisters Liebesleben, von seiner unglücklichen Leidenschaft zu jener österreichischen Aristokratin, die den Meister zugunsten eines Wiener Ballettkomponisten verschmähte, dessen seichte Melodien sie wertvoller dünkten als Beethovens Hymnus auf das Leben. Und wie der Einsame das Gehör verliert und als ein Bemeisterer jedes menschlichen Leides auch mit diesem Los sich abfindet und rastlos an seinem Werke weiter arbeitet, ein Beherrscher aller Höhen und Tiefen dieses schmerzenreichen Daseins.
»Jeder Mensch ist Schöpfer seines Schädels oder, sage ich lieber, seines Gesichtsausdruckes,« schloß der Vater. »Seht euch Beethovens Bildnis an und erkennt an seinen durchfurchten Zügen, wie dieser Einzige gerungen hat, um aus allen Lebensnöten größer, reicher und leuchtender hervorzutauchen.«
Wir hörten aufmerksam dem Vater zu, dessen ernste und schlichte Art zu erzählen von einem starken, persönlichen Reiz war – darüber hatten wir das Unwetter vergessen und merkten nun zu unserem Staunen, daß das Gewitter inzwischen aufgehört, und ein klarer, wolkenloser Himmel auf das erfrischte Gelände herabsah.
Da aber der Feuchtigkeit und Nässe wegen an einen Aufenthalt im Freien nicht zu denken war, wurde an die Heimfahrt gedacht, um auf das Drängen der jungen Leute hin den Sonntag im Hause mit einem Tanz zu beenden.
Die Sonne begann langsam unterzugehen, als wir im Kremser heimfuhren. Der Vater saß in sich versunken da, während wir anderen im Chore sangen:
»Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch
da droben – ja den Meister will ich loben – so
lang noch mein Stimm' erschallt.«
Und dann folgten all die Lieder, die junge Menschen für derartige Ausflüge auf der Walze haben, alte zersungene Volksweisen, die eine so weiche und traurige Stimmung in einem auslösen, bei denen man so eng wie möglich zusammenrückt, die Hände ineinandergeschlungen.
Wir waren zu Hause angelangt, ein wenig durchfroren von der langen Fahrt, aber so recht zum Tanzen aufgelegt.
Die Mutter ließ den großen russischen Samowar auftragen, der nur mit Holzkohle zu erheizen war. Der breite, goldgelbe Messingbauch funkelte und glänzte, daß man sich in ihm spiegeln konnte. Inzwischen hatte meine Schwester Wanda sich ans Klavier gesetzt und spielte zum Tanze auf.
Mitten in die Musikklänge des Walzers tönte von draußen die Glocke. Im ersten Augenblicke glaubten wir, daß unser Vater zu einem Patienten gerufen würde. Gleich darauf vernahm ich jedoch deutlich Leutnant Dorns Stimme, und gleichzeitig sah ich unwillkürlich zu Grete Senz hinüber, die, wie es mich dünkte um einen Schatten bleicher geworden war.
Leutnant Dorn fragte, ob Grete bei uns wäre – Frau Senz bangte sich um sie. Ich hörte, wie meine Schwester Dora ihn höflich bat, näherzutreten und gleichzeitig aufforderte, am Tanze teilzunehmen. Leutnant Dorn ließ sich nicht lange nötigen. Ein paar Sekunden später war er in unserem Saal, der mit seinen großen Schränken, die wie mächtige Orgeln in die Höhe ragten, fast einer kleinen Kirche glich. Er begrüßte auf eine stramme, soldatische Art meine Eltern, dann trat er auf meine Schwester Helene zu, schüttelte ihr vertraulich die Hand, während er kaum merklich zu Grete Senz hinüberblinzelte. Meine Schwester Helene hielt ihn nicht zu lange auf, und der Leutnant ging nun schnurstracks zu seiner jungen Schwägerin, die ihn, wie mir schien, mit drohender, finsterer Miene erwartete.
»Die Mama hat sich Sorgen gemacht,« begann er leise. »Sie hatte erwartet, daß Sie sich bei ihr erst melden würden, bevor Sie wieder zu Doktors heraufgingen.«
»Sie sehen ja, ich bin frisch wie ein Fisch im Wasser, also rapportieren Sie es der Mama, damit ihre Ängste aufhören,« antwortete sie kurz.
»Die Mama hat mich gebeten, auf Sie zu warten, sie möchte Ihnen Ihr Vergnügen nicht stören und ist schon beruhigt, wenn sie weiß, daß Ihnen nichts zugestoßen.«
»Ja, woher weiß sie denn das, wenn Sie hier neben mir sitzen?«
»Eben aus der Tatsache, daß ich nicht sofort wieder bei ihr erschienen bin.«
»Ich danke für die Belehrung. Ich kann indessen die paar Stufen allein heruntergehen und möchte Sie nicht unnütz aufhalten.«
»Warum sprechen Sie in dem Ton zu mir, was habe ich Ihnen getan?«
Sie lachte heiser auf und maß ihn mit einem eisigen Blick. Und in einem Tone, als wollte sie sein Innerstes aufstacheln, entgegnete sie: »Ein Mensch, wie Sie, vermag mir nichts anzutun!«
Leutnant Dorn verfärbte sich und kaute nervös an seiner Unterlippe.
»Jeder andere, der das gewagt hätte, würde es zu büßen haben.«
»Bitte, nehmen Sie keine Rücksicht auf mich – ich bedarf keiner Schonung.«
»Das weiß Gott,« entgegnete er. »Denn da, wo bei anderen ein Gefühl ist, sehe ich bei Ihnen nur Härte und Trotz.«
Sie schlug die Augen groß auf und sah ihn eine Weile durchdringend an.
Ich saß unmittelbar in ihrer Nähe und wagte nicht mich fortzurühren – ich hatte das Empfinden, ich müßte zur Stelle sein und ihr beistehen gegen diesen Menschen, von dem ihr Böses drohte. Vielleicht war es auch etwas von ruchloser Neugier, das mich an meinen Platz gebannt hielt. Ich glaubte, in ihre Seele zu sehen, die wund und hüllenlos dalag – und bei der leisesten Berührung schmerzhaft aufschrie.
»Ich bin nicht der schlechte Kerl, für den Sie mich halten,« sagte nach langem Stillschweigen der Leutnant.
»Sie sind noch viel schlechter, als man ahnt, ein Mensch ohne Charakter sind Sie.«
Leutnant Dorn lachte grell auf.
»Da hat man sich ein ganzes Leben hindurch ehrlich durchgeschlagen, hat dem Schicksal, das einen hin- und hergeworfen, getrotzt und nicht mit der Wimper gezuckt, wenn ein Hieb nach dem anderen auf einen niedersauste, und dann kommt ein junges Fräulein mit blauen Augen und blondem Haar und schneidet einem mir nichts – dir nichts die Ehre ab, als ob das rein gar nichts wäre.«
»Leutnant Dorn, lassen Sie die großen Worte aus dem Spiele,« antwortete sie unwillig, »wir beide verstehen uns.«
»Kein Wort verstehe ich von alledem – parole d'honneur, alle Ihre Andeutungen sind für mich dunkle Orakelsprüche.«
»Oho, das ist eine chevalereske Art, einen aus dem Hinterhalte anzugreifen.«
Dieses Wort schürte bis aufs äußerste ihren Zorn.
»Wie dürfen Sie von Hinterhalt reden,« rief sie mit unterdrückter Leidenschaft, während sie ihre kleinen Hände zusammenballte, daß ihr die Nägel ins Fleisch schnitten.
»Sie, der Sie ein perfides Spiel gespielt haben,« setzte sie nach einer kleinen Weile hinzu.
»Zum Donnerwetter, jetzt wird's mir zu bunt.«
»Mir auch,« sagte sie und erhob sich mit einer stolzen, abweisenden Gebärde. »Ich finde es geschmacklos, den Leuten eine Komödie vorzuspielen.«
Dabei streifte sie mich mit einem flüchtigen, scharfen Blick, der mich erröten machte, rief hastig meine Schwester Helene herbei, der sie ein paar entschuldigende Worte zuflüsterte, um gleich darauf zu verschwinden. Leutnant Dorn folgte ihr auf dem Fuße.