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Am Begräbnistage des Herrn Lemke feierte mein Onkel Isaak den fünfundsiebzigsten Geburtstag. Meine Mutter hatte einen pompösen Mohnnapf gebacken und fragte mich, ob ich ihn – säuberlich verpackt – zum Onkel hinausbringen wollte.
Ich bekam zwei Silbergroschen und fuhr mit der Pferdebahn zum Onkel, der draußen im Tiergarten in der Händelstraße wohnte.
Der Onkel empfing mich in Unterhosen. Die Hände hielt er zu Fäusten geballt auf den Brüsten und hüpfte beständig auf den Zehen hin und her. Dabei wackelte sein dicker Bauch bedenklich.
Dieser Anblick war so komisch, daß ich mir das Lachen nicht verbeißen konnte.
»Du hast gut lachen,« sagte der Onkel. »Werde erst einmal so alt wie ich, und du wirst merken, wie schwer es ist, seine lahmen Knochen zusammenzuhalten.«
Und von neuem begann er mit seinen Freiübungen – hüpfte, streckte die Arme, beugte den Rumpf und die Knie. Als er damit fertig war, warf er sich den Schlafrock über und begann, die Geburtstagsbriefe zu lesen. Auf einmal zog er seine breite Stirn in unzählige Falten – sein Gesicht wurde länger und bekam einen verdrießlichen Ausdruck.
»Ein nettes Geburtstagsgeschenk,« knurrte er, »dies Teufelsweib von Wirtin will mir die Miete steigern.«
Des Onkels Wohnung war sein Stolz, aber sie schuf ihm auch mancherlei Ärger. Er mußte sich deswegen beständig mit der Steuerkommission herumschlagen, die ihn wegen seines Quartiers über Gebühr einschätzte.
Einmal schrieb er an die Behörde: »Der eine säuft, der andere schlemmt, der dritte spielt, der vierte hurt. Der einzige Luxus, den ich alter Mann habe, ist meine Wohnung. Hört man nicht auf, mich deswegen zu schikanieren, so kann ich ja meine Siebensachen packen, und sehen, wo ich irgendwo in der Ackerstraße oder in Hinterpommern einen Unterschlupf finde. Die hochwohllöbliche Behörde ist jedoch in einem kleinen Irrtum befangen, wenn sie meint, durch diese Gewaltmaßregel, was meine Person anbelangt, bessere Geschäfte zu machen. Denn ich vertrage auf meine alten Tage keinen Klimawechsel mehr und würde eher, als mir lieb ist, mit dem Tode abgehen.«
Daraufhin besann sich die Steuereinschätzungskommission eines Besseren und ließ meinen Onkel in Zukunft ungeschoren.
Der Onkel zog sich seinen Bratenrock an.
»Du wirst mich begleiten,« sagte er. »Dem Weibsbild will ich es eintränken.«
In der zweiten Etage wohnte die Wirtin. Mit festem Griff zog der Onkel an der Glocke.
Wir saßen der Wirtin, einer ältlichen Frau, gegenüber, die ein schlechtes Gewissen hatte und des Onkels Augen konstant mied.
»Also,« begann mein Onkel, »Sie haben, verehrteste Frau, die Gewogenheit, mir als Geburtstagsspende – ich bin nämlich gerade heute fünfundsiebzig Jahre alt geworden – die Wohnung um hundert Taler zu steigern. – Lassen Sie mich ausreden,« unterbrach er die Wirtin, die eine schüchterne Erklärung ihres Verhaltens geben wollte.
»Wie lange wohne ich in Ihrem Hause? – Sie brauchen mir nicht zu antworten. – Fünfundzwanzig Jahre werden es wohl sein. Haben Sie in dieser ganzen Zeit jedesmal pünktlich Ihre Miete erhalten? – Schön. – Haben Sie irgendwelche Scherereien mit mir gehabt? … Sie schütteln mit dem Kopf.«
Nun machte der Onkel eine kleine Kunstpause und sah die Frau mit einem so fürchterlich strengen Blick an, daß es mir unbehaglich wurde.
»Und jetzt bekomme ich die Quittung,« fuhr er fort, »indem Sie mich auf die Straße setzen. Denn Sie werden sich doch nicht einbilden, daß ich Ihnen vom nächsten Quartal ab hundert Taler mehr pro anno zahle!«
Die Wirtin wollte einlenken. Es ließe sich ja über die Sache reden, und schließlich würde sie sich auch mit weniger begnügen.
Mein Onkel lachte grimmig auf.
»Was denken Sie sich, Verehrteste! Glauben Sie, ich sei zu Ihnen gekommen, um den Bittsteller zu machen? Davon kann gar keine Rede sein. Ich ziehe – selbstverständlich ziehe ich. Am ersten Oktober packe ich meine Siebensachen und verlasse dieses Haus.«
Die Wirtin zuckte die Achseln, als wollte sie damit ausdrücken, sie würde sich in das Unvermeidliche zu fügen wissen.
Darauf hatte mein Onkel nur gelauert. Seine Miene zeigte jetzt einen drohenden Ausdruck.
»Ich ziehe am ersten Oktober. Aber in Ihrer Haut,« fuhr er mit erhobener Stimme fort, »möchte ich nicht stecken. Keine ruhige Stunde werden Sie mehr erleben. Denn Gott läßt seiner nicht spotten. Gott läßt es sich nicht bieten, daß man einen alten Mann auf die Straße wirft. Die hundert Taler, Verehrteste, werden Ihnen keinen Segen bringen. Was allein die Doktorrechnung und die Medikamente ausmachen werden, möchte ich in meiner Tasche haben, ganz abgesehen von allen anderen Plagen, die Gott Ihnen ins Haus schicken wird.«
Und nun lachte er in heller Schadenfreude auf, als wären seine Worte eine verbriefte Gewißheit.
Der Wirtin war ganz unbehaglich zumute geworden. Sie hätte es gar nicht so schlimm gemeint, sagte sie, und selbstverständlich bliebe alles beim alten. Sie würde ja keine ruhige Stunde haben, wenn dem Onkel in einer anderen Wohnung irgend etwas zustieße.
Der Onkel ließ sich erst eine geraume Weile bitten, ehe er nachgab.
»Siehst du,« meinte er auf der Treppe zu mir, »man muß nur mit dem Pack zu reden verstehen.«
Und mit einer koketten Geschwindigkeit tänzelte er so rasch die Stufen hinab – daß ich jeden Augenblick besorgte, er würde sich ein Bein brechen.
Als ich ihn warnte, lachte er mich aus.
Eine eiserne Gesundheit besaß er und eine gottgesegnete Ruhe, mit der er alle Tragik des Daseins überwand.
Als ich mich von ihm verabschiedete, fiel mir des Vaters Wort ein: Hundert Jahre wird er alt werden und darüber.