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Luzie Herterich begann sich plötzlich von Walter Senz zurückzuziehen. Sie fand beständig neue Ausreden, um ein Beisammensein mit ihm zu vermeiden, ließ seine Briefe unbeantwortet und zeigte sich nur selten im Hofe. Dagegen schlug sie mir an einem Sonntagnachmittag vor, mit ihr in den Tiergarten zu gehen. Ich müßte ihr aber versprechen, davon Walter Senz nichts zu sagen.
Unterwegs hakte sie sich in meinen Arm ein, und während sie vorher einsilbig neben mir geschritten war, bat sie mich jetzt, ihr eine meiner Geschichten zu erzählen.
Mein Märchen handelte von der Prinzessin mit dem gläsernen Herzen, die den Prinzen in ihren Rosengarten gelockt und ihn dann so schmählich behandelt hatte, daß er vor Kummer und Elend starb. Aber vorher hatte er einen Dolch genommen und ihn der bösen Prinzessin ins Herz gestoßen. Und da stellte es sich heraus, daß die Prinzessin gar kein Herz wie andere Menschen hatte, sondern eines von Glas, das bei dem heftigen Stoß zu klirren begann und in tausend Scherben ging.
Wir waren gerade durch das Brandenburger Tor gegangen, als meine Geschichte zu Ende war.
Luzie Herterich ließ meinen Arm los.
»Du bist im Irrtum, wenn du meinst, ich hätte dich nicht verstanden,« sagte sie.
»Um so besser,« antwortete ich.
»Aber sage mir – warum benimmst du dich so niederträchtig gegen Walter Senz?«
»Es muß aus sein zwischen uns.«
»Hast du ihn denn nicht mehr lieb?«
»Richtig lieb habe ich ihn wohl nie gehabt,« antwortete sie. »Und wenn ich mir's recht überlege,« fuhr sie fort, »habe ich immer mehr an dich als an ihn gedacht.«
Ich wurde bei ihren Worten blutrot, fühlte, wie mir das kleine Frauenzimmer die Sinne verwirrte, und empfand zugleich das ganze Gespräch als einen erbärmlichen Verrat an Walter Senz.
Las sie mit ihren unergründlichen, dunklen Augen in meiner Seele? – Fühlte sie, daß sich mein besseres Teil in mir schämte? – Genug, sie nahm wieder meinen Arm, den sie an sich zog, und sagte leise: »Ich kann mir doch nicht helfen – es ist einmal so!«
»Liebe Luzie, ich bitte dich, was ist geschehen? – Denn es muß zwischen euch etwas passiert sein – das lasse ich mir nicht ausreden.«
»Gib mir die rechte Hand darauf, daß du mich nicht verrätst.«
»Hier ist meine rechte Hand.«
Ihre Augen funkelten.
»Walter Senz,« sagte sie mit gedämpfter Stimme, »wird lauter Unglück im Leben haben und zuletzt einen jämmerlichen Tod sterben.«
Sie atmete tief auf.
»Woher weißt du das?«
»Ich weiß es – – von ihm selbst.«
Im ersten Augenblick war ich so erschüttert, daß ich kein Wort der Entgegnung fand.
»Liebe Luzie,« sagte ich dann tief bekümmert, »das ist doch kein Grund, ihn weniger lieb zu haben.«
Sie blickte mich stumm und rätselhaft an, ehe sie mit einer unheimlichen Ruhe, die weit über ihre Jahre ging, erwiderte: »Ich bin doch nicht eine solche Närrin, um mit offenen Augen in mein Unglück zu rennen – wenn ich ihn noch wirklich lieb hätte, was – wie ich schon sagte – nicht einmal der Fall ist. – Er hat es mir nur eingeredet. – Ach du,« fuhr sie fort, »sprechen wir von etwas Lustigerem. Ich kann Walter Senz beim besten Willen nicht helfen.«
Mir war nicht zumute, ihrem Rate zu folgen, – ich schwieg hartnäckig.
Da zog sie die Stirn kraus und wandte sich ab.
Wir traten schweigsam den Heimweg an. Es war dunkel geworden, und die Menschen hatten sich verlaufen, so daß wir plötzlich mitten im Tiergarten uns ganz allein gegenüberstanden. Sie schlang auf einmal ihre Arme um meinen Hals und küßte mich.
Vor meinen Augen flimmerte es. Ganz deutlich hörte ich mein Herz auf- und niederschlagen. Ich vergaß meinen Zorn und meine Freundschaft und küßte sie heftig wieder.
In dieser Nacht tat ich kein Auge zu.
Die Scham stieg mir bis zur Kehle hinauf, und trostlos starrte ich in das Dunkel.
In den nächsten Tagen mied ich Walter Senz – schützte erst Unwohlsein, dann Schularbeiten vor und zerbrach mir den Kopf, was nun geschehen müßte. Luzie Herterichs Küsse brannten auf meinen Lippen – brannten in meiner Seele.
Endlich beschloß ich, Walter Senz die reine Wahrheit zu gestehen. Ich bat ihn, in den Hof zu kommen.
Wir setzten uns in die Laube – und ich erzählte ihm alles.
Er hörte mir zu, ohne daß er mit der Wimper zuckte.
Sein Gesicht erschien ehern und verriet nichts von dem, was in ihm vorging.
»Hast du Luzie Herterich lieb?« fragte er endlich.
»Ich liebe nur dich.«
Seine Miene hellte sich für eine flüchtige Sekunde auf. Dann starrte er zu Boden und sagte vor sich hin, als wenn er meine Anwesenheit völlig vergessen hätte: »Ich verstehe dich, Luzie Herterich – ich verstehe dich sehr, sehr gut.«
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Ich war mehrere Tage Luzie Herterich geflissentlich aus dem Wege gegangen und glaubte meinen Augen nicht zu trauen, als ich sie eines Nachmittags mit Walter Senz erblickte. Sie saßen unter dem Schutze der Mutter Gottes in der Laube.
Ich lief schnurstracks an ihnen vorbei. Die Sohlen brannten mir unter den Füßen. Ich begriff die beiden nicht mehr und verhielt mich äußerst kühl, als der Freund mich eine geraume Weile später aufsuchte.
Er machte vergebliche Ansätze, mir eine Erklärung abzugeben – ich kam ihm mit keinem Schritte entgegen.
Da raffte er seine Energie zusammen und sagte langsam: »Lieber Junge, die Sache verhält sich nämlich ganz anders als du denkst. Ich habe eben mit Luzie Herterich eine Aussprache gehabt, und da stellte sich dann heraus, daß sie dich und mich nur prüfen wollte.«
Ich war baff über diese Keckheit.
»Das ist purer Schwindel,« erwiderte ich zornig. »Von prüfen kann gar keine Rede sein. Sie hat es vollkommen ernst gemeint.«
Er beteuerte nun hoch und heilig, daß ich mich wirklich im Irrtum befände – denn Luzie Herterich habe ihm das Ehrenwort gegeben.
Ich schwieg verdrossen.
Die Freude leuchtete ihm aus den Augen – es wäre vergebene Liebesmühe gewesen, ihn bekehren zu wollen.
Luzie Herterich und ich grüßten uns nicht mehr. Sie hatte ein schlechtes Gewissen und mochte im Innern fühlen, daß ich nicht so leicht zu übertölpeln war wie Walter Senz.