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24

Polizeileutnant Dorn hatte seinen Abschied eingereicht. Aber bevor er die Uniform auszog, mußten Frau Senz und die Mädchen sich allerorten mit ihm zeigen. Er war ein Charakter und wollte der Welt beweisen, daß er gerade in dieser schweren Zeit zur Familie hielt.

Es gab für ihn unendlich viel zu tun – was hatte Polizeileutnant Dorn nicht alles zu ordnen und zu richten. Es war ihm in seiner Eigenschaft als künftiger Schwiegersohn geglückt, ins Untersuchungsgefängnis zu Herrn Ludwig Senz zu gelangen und mit diesem sich auszusprechen. Herr Senz hatte nachträglich zur Verlobung seine Einwilligung erteilt und den Polizeileutnant zum Prokurator ernannt, der nun in seinem Auftrage auch mit dem Verteidiger verhandeln mußte.

Der junge Bräutigam fühlte sich als Vertrauensmann der Familie – und Frau Senz war überglücklich, die Last der Sorgen auf seine hilfsbereite Seele abwälzen zu können. Wenn nur nicht der saure Dienst gewesen wäre, der Polizeileutnant Dorn so unmäßig in Anspruch nahm. Sein Staatsinteresse begann immer mehr abzuflauen.

Wenn er bei Tisch das große Wort führte – er aß jetzt täglich in der Familie –, so schimpfte er wie ein Rohrspatz über die Beamtenmisere. Es sei eine Affenschande, sagte er, wie der Staat seine Leute bezahlte – man könne von dem Einkommen nicht leben und nicht sterben. Wenn er dächte, daß er in seiner neuen Position mit einem garantierten Gehalt von zwölftausend Mark anfinge – ergo dem vierfachen Betrage, den er als Leutnant bezogen, müsse er sich sagen, er sei ein Narr gewesen, so seine besten Jahre vergeudet zu haben.

Frau Senz lächelte still gerührt. Sie glaubte zu ahnen, welch gütiger Sinn hinter solchen Reden verborgen lag. Der Leutnant wollte von vornherein jeden Verdacht abschneiden, als fiele es ihm schwer, die Uniform auszuziehen – niemand in der Familie sollte merken, welches Opfer er brächte.

Sobald Frau Senz mit den Kindern allein war, öffnete sie ihnen die Augen. – Walter insbesondere mußte erfahren, welch ein Charakter der Leutnant war; denn Frau Senz hatte es schmerzlich empfunden, daß ihr Sohn mit offenem Mißtrauen dem neuen Schwager begegnet war.

Polizeileutnant Dorn ließ sich dadurch freilich nicht abschrecken – er warb förmlich um meines trotzigen Freundes Liebe. Und Walter mußte allgemach zugeben, daß er sich am Ende doch von einem falschen Gefühl hatte leiten lassen.

Frau Senz konnte sich im Lobe des Schwiegersohnes nicht genug tun. »Gott können wir danken,« meinte sie aus ihrem vollen, überströmenden Herzen zu meiner Schwester Helene, »daß er in unserer Not diesen Menschen gesandt hat.«

In der Zeit besuchte sie mit Else häufig die Jerusalemer Kirche, in der Pastor Schmeidler seine Predigten hielt.

Pastor Schmeidler war ein Geistlicher nach ihrem Herzen, ein Hüne mit blondem, das breite Gesicht umrahmenden Barte und blauen, leuchtenden Augen. Sie weinte in ihr feines Batisttüchlein hinein, wenn er von Gottes Barmherzigkeit sprach, oder Christus' Worte an Maria Magdalena zum Grundtext seiner Predigt machte – und Vergebung aller Sünden verhieß. Wenn sie nach der kirchlichen Erbauung mit Else den Heimweg antrat, so bereitete sie mit mütterlichem Zartgefühl die Tochter für die Ehe vor – sie ging Arm in Arm mit ihr noch ein Weilchen spazieren und machte verstohlene Andeutungen. Es war so schwer, sich mit einem jungen, unerfahrenen Wesen über die heikelsten Dinge auseinanderzusetzen. Sie hatte trotz ihrer vierzig Jahre etwas Verschämtes und zugleich Ergreifendes in ihrer Liebessehnsucht, die niemals gestillt worden war; denn die Ehe mit Ludwig Senz hatte der zarten Frau nur Leid und Enttäuschung gebracht. – Einmal in der Dämmerung zog sie Else in den Salon, wo die mit hechtgrauer Seide überzogenen Möbel standen.

»Mein liebes, liebes Kind,« sagte sie mit ihrer gedämpften, silbernen Stimme, »nun beginnt für dich bald ein ganz neues Leben, das bei aller Süße auch Leid mit sich bringt. Darfst die Flügel nicht sinken lassen und mutlos werden, wenn er dir Schmerzen zufügt. – Ich glaube,« setzte sie noch leiser hinzu, »auch der Beste und Zarteste begreift uns nicht ganz. – Es gibt eine Grenze, über die er nicht hinwegkommt. Wie soll ich mich nur ausdrücken,« sagte sie kummervoll und zog die Stirn in Falten. »Vielleicht hat jeder richtige Mann einen Überschuß von Energie und Kraft in sich, der ihn nicht einmal ahnen läßt, daß er mit einer Bewegung, einer Miene, einem Laut verletzt, verwundet, abstößt. Ach, Kind, wenn wir nicht sehr viel Güte in uns haben, werden wir härter und ärmer mit jedem Jahr. Weißt du, worin die geheime Kraft einer Frau besteht, einer Frau, meine ich, die glücklich ist und glücklich macht? Ich will es dir verraten: in der Kunst, vieles nicht zu sehen, manches nicht zu hören und in der Fähigkeit, Peinvolles und Ärgerliches zu vergessen. – Das klingt widersinnig und ist dennoch wahr. Ich habe gefunden, daß wir entweder stumpf und gefühllos werden, oder unbewußt eine Engelsgeduld üben müssen, um über eine Art von Roheit und häßlicher Brutalität, oder sage ich lieber, um über das Unästhetische der Mannesnatur hinwegzukommen. Ach, Mädchen, du wirst das alles früh genug begreifen – besser, du erfährst es nie und lächelst in der Erinnerung an diese Worte über deine törichte Mutter. Aber solltest du einmal heftiger zürnen als not tut, dann denke daran, daß Leutnant Dorn deinetwegen Helm und Säbel an den Nagel gehängt hat – vergiß ihm das nie.«

So sprach Frau Senz und küßte ihre Älteste, die ihr stumm zugehört hatte.

Jeden Tag schickte Polizeileutnant Dorn Blumen – und zuweilen auch Sektproben in sorgfältiger Verpackung.

»Lacht mich nicht aus, Kinder – aber ich muß mich für den künftigen Beruf vorbereiten – und zu meinem Geschäft gehört es, die einzelnen Sektsorten voneinander zu unterscheiden. Ich bin nie ein Trinker gewesen – und in eurer Gesellschaft lerne ich am liebsten.«

Stundenlang saßen die Verlobten allein und berieten die Zukunft – oder sie gingen in die Stadt, bestellten die Möbel und kauften für die neue Wirtschaft ein – es gab ja hunderterlei Dinge zu erledigen, so daß man oft nicht wußte, wo einem der Kopf stand. Der Leutnant hatte die Möbel selbst gezeichnet – und Else fügte sich jedem seiner Wünsche. Er hatte einen persönlichen Geschmack, dreinreden durfte man ihm nicht. In Kleinigkeiten war er eben eigensinnig. Was verschlug es bei einem Manne, der gleichsam die Feuerprobe bestanden und die Lauterkeit des Herzens erwiesen hatte!

Tauchte plötzlich Grete Senz' verstörtes Gesicht auf, so schien es dem Leutnant, als ob sie ihn mit ihren Blicken zu durchdringen suchte.

Was wollte der Racker von ihm – war das Feindseligkeit oder Koketterie, mit der sie ihn gewissermaßen umschlich? … Der Teufel mochte daraus klug werden – er war nicht dazu da, um Rätsel zu raten. Wie hochmütig und schnippisch sie in Gegenwart der Schwester mit ihm sprach, als wollte sie ihn herausfordern. Und wie lange war es her, daß sie die Augen nach ihm verdreht und versucht hatte, ihn in ihr Netz zu locken! – »Was hat denn deine Schwester eigentlich?« fragte er seine Braut, »sie benimmt sich ja gegen mich, als ob ich ihr Schuhputzer wäre. Habe ich ihr etwas zuleide getan, so soll sie es in Gottes Namen sagen, ich werde ihr Rede und Antwort stehen.«

Else Senz wurde bei diesen Worten feuerrot – sie wandte sich jäh zur Seite, damit der Leutnant ihr verlegenes Gesicht nicht sähe, und mühte sich, das Gespräch auf ein anderes Thema zu bringen.

Aber Dorn war hartnäckig – er hatte heute seinen schlechten Tag. Er sei nicht der Mann, um Demütigungen einzustecken, er behandle jeden Menschen mit Höflichkeit und beanspruche das gleiche.

Nun brach Else Senz in ein heftiges Schluchzen aus, das den Leutnant rührte.

Er fuhr mit der Hand über ihr goldenes Haar und küßte sie auf den Scheitel. Da sah sie ihn flehentlich an und bat ihn inständig, die Schwester seinen Unmut nicht fühlen zu lassen – es gäbe kein besseres Geschöpf auf Gottes Erden als sie, auch wenn sie zuweilen seltsam und launenhaft erscheine. Niemals aber sei sie so reizbar gewesen wie jetzt, wo sie das Unglück des Vaters niederdrücke.

Der Leutnant war beruhigt. Er nickte ernsthaft und meinte, man müsse sich mit den Tatsachen abfinden. Im übrigen habe er nach der letzten Aussprache mit Vaters Rechtsbeistand die Überzeugung gewonnen, daß der Prozeß nicht gar so übel auslaufen würde.

Die Mutter trat ein, und so wurde das Gespräch unterbrochen. Sie merkte offenbar, daß irgend etwas vorgefallen sei, denn sie blieb an der Tür stehen und sagte: »Wenn ich störe, liebe Kinder, entferne ich mich wieder.«

Else Senz atmete beim Anblick der Mutter erleichtert auf und entgegnete, sie seien gerade im Begriff gewesen, zu ihr zu gehen.

»Desto besser,« erwiderte Frau Senz, »denn ich muß euch erzählen, daß ich in der Kurfürstenstraße eine fünfzimmerige Wohnung ausfindig gemacht habe, die euren Beifall finden wird. Mit Badezimmer,« fügte sie hinzu, »und allem Komfort, den man sich nur wünschen kann.«

Polizeileutnant Dorn küßte Frau Senz mit einer galanten Verbeugung die Hand.

»Das wäre ja prächtig, liebe Mama, die Gegend paßt mir ausgezeichnet. Freilich, ein Ansehen muß die Wohnung schon haben; denn als Mitinhaber der Firma bin ich wohl oder übel verpflichtet, zu repräsentieren.«

»Selbstverständlich, lieber Herr Leutnant, ich schlage vor, wir sehen sie uns morgen gemeinsam an – und von da aus gehen wir zu Bechstein, denn einen Flügel müßt ihr unbedingt haben.«

»Liebe Mama, ich sage nicht nein, Sie wissen, daß gleich hinter Else meine Liebe zur Musik kommt; aber ob ich so viel Großmut verdiene, ist eine Frage für sich. Ich fühle mich, aufrichtig gesprochen, mehr als beschämt.«

»Wozu nicht der geringste Grund vorliegt – im Gegenteil, war es doch Ihr musikalisches Talent, durch das Sie uns so rasch nahekamen und uns lieb wurden. Wie heißt doch die schöne Stelle im ›Kaufmann von Venedig‹, die wir immer zitieren? So hilf mir doch, Else, du weißt ja, welche Worte ich im Sinn habe!«

Und Else Senz deklamierte leise mit einem unsagbar innigen Lächeln:

»Der Mann, der nicht Musik hat in sich selbst,
Den nicht die Eintracht süßer Töne rührt,
Taugt zu Verrat, zu Unheil und zu Tücken;
Die Regung seines Sinns ist dumpf wie Nacht,
Sein Trachten düster wie der Erebus.
Trau keinem solchen!«

»Ein verfluchter Kerl, der Shakespeare,« meinte nachdenklich Polizeileutnant Dorn, »was dem Menschen nicht alles eingefallen ist!«


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