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21

So war Else Senz Braut geworden. Und noch eine andere Braut gab es unmittelbar darauf im Hause.

Zu unser aller Staunen hatte sich Lucie Herterich, die kaum sechzehneinhalb Jahre zählte, verlobt.

Sie grüßte uns nur noch von oben herab und zeigte ostentativ die linke Hand, an der ein großer Brillantring glitzerte.

Dieser letzte Schlag machte Walter Senz tiefsinnig. Er schloß sich von aller Welt ab und mied auch meinen Umgang.

Es gab noch einen zweiten Unglücklichen im Hause. Als die Verlobung von Else Senz ruchbar geworden, trat eine Katastrophe ein, die um ein Haar ein junges Menschenleben gekostet hätte. Hugo Rubinstein fühlte sich tödlich getroffen und machte im wahrsten Sinne des Wortes blutigen Ernst. Die »Lieder eines kranken Zeisigs« hatte er in ein Kuvert getan und mit säuberlicher Schrift gleichsam als letztes Vermächtnis an Else Senz adressiert. Dann hatte er »Werthers Leiden« vorgenommen, Goethes Liebesroman als letzte Ölung genossen und die Stelle aufgeschlagen, wo Werther von Lotte Abschied nimmt. Nun zog er aus der Schreibtischlade einen elfenbeinernen Revolver, betrachtete ihn prüfend, schloß die Augen und drückte ab.

Es war mitten in der Nacht, als der Schuß ertönte und das ganze Haus in Schrecken setzte.

Rabbiner Rubinstein kam mit schlotternden Knien zu uns gestürzt. Er war im Nachthemd – hatte sich den Anzug nur flüchtig übergeworfen und konnte jeden Moment die Hosen verlieren.

»Herr Doktor, Herr Doktor!« stöhnte er, »kommen Sie um des Herrgotts willen schnell herüber – mein Sohn Hugo hat sich erschossen!«

Und beim Anblick meiner Mutter brach er vollends zusammen.

»Das mußte ich alter Mann noch erleben,« wimmerte er und barg das Gesicht in den Händen.

Hugo Rubinstein lag blutüberströmt auf der kleinen Chaiselongue, die in seinem Zimmer stand.

Mein Vater untersuchte die Wunde.

»Die Kugel sitzt gerade unter dem Herzen,« wandte er sich wieder an den Prediger, der zitternd neben ihm stand und seine Hose festhielt.

»Sie können Ihrem Schöpfer danken,« fügte er hinzu, »daß Ihr Sohn kein Meisterschütze ist, das Leben wird es diesmal nicht kosten. Aber ins Krankenhaus werden Sie ihn morgen in aller Frühe schaffen müssen, damit man die Kugel entfernt.«

Er legte Hugo einen kunstgerechten Verband an, und der unglücklich-glückliche Vater sah ihm mit gefalteten Händen zu.

In banger Ungeduld hatten wir auf des Vaters Rückkehr gewartet.

»Albern, geradezu albern!« sagte er verdrießlich. »Macht, daß ihr wieder in die Federn kommt! – Der Bengel wird nicht zugrunde gehen!«

Else Senz war durch diesen Vorfall tief erschreckt.

Aber Polizeileutnant Dorn wußte sie zu trösten.

»Ein Dummerjungenstreich!« meinte er lakonisch. »Weiter gar nichts.«

Ich war der Ansicht, daß die Leute im Hause Hugo Rubinsteins Tat etwas oberflächlich beurteilten. Es gehört doch schon ein Stück Courage dazu, sich totschießen zu wollen. Und davor sollte man nach meinem Ermessen immerhin etwas Respekt haben. Aber auch der leidenschaftliche Ernst, mit dem dieser junge Mensch seiner ersten Liebe sich hingegeben hatte, stimmte mich nachdenklich. Ich sah ihn plötzlich in einem anderen Lichte. Spiegelte sich nicht auch in seinem verhärmten Gesicht, in seinen sehnsüchtig in die Ferne gerichteten Augen das Leid der Menschheit? …

Übrigens war die Diagnose meines Vaters richtig.

Hugo konnte nach mehreren Wochen geheilt das Krankenhaus Bethanien verlassen, obwohl man die Kugel nicht gefunden hatte. Sie steckt bis auf den heutigen Tag in seinem Körper.


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