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Öffne noch einmal deine Pforten, du altes, liebes Haus, und laß mich eintreten in den Garten meiner Kindheit …
Noch immer blüht zur Junizeit in deinem Hofe der Kastanienbaum, den Portier Staegemann heute vor mehr als dreißig Jahren mit eigenen Händen pflanzte … Noch immer glitzert in den gewölbten Spiegelscheiben deiner Fensterfront die liebe Sonne … Noch immer steht schwer und wuchtig dein altes eichenes Tor da, in dem der Erbauer mit schuldiger Ehrfurcht seine großen künstlerischen Ahnherren, die Meister Schinkel und Schlüter versinnbildlichte …
Ihr Schatten der Vergangenheit, werdet lebendig – seid Schirmherren diesem Buche, das ich in die Hände der Geschwister und Gespielen lege … Huscht durch diese Blätter … aber stört mir meine Toten nicht auf.
Mein Buch will die Lebenden noch einmal in den Garten ihrer Jugend führen, die so weit – so weit – überein Menschenalter hinter ihnen liegt.
And wenn ein Duft eurer Kindheit aus diesen Seiten zu euch steigt, so will ich mich des Buches nicht schämen …
Mein Vater war ein Mann, der sich in das Leben gestellt sah – nicht um persönlichen Wünschen und persönlichem Ehrgeiz zu dienen, sondern um sein Haus auszubauen, was für ihn so viel bedeutete, als seinen Kindern, die er in die Welt gesetzt, die Erziehung zu geben, zu der ihre Anlagen drängten. Er war ein Hausvater, wie er im Buche steht. Von einer leidenschaftlichen Wahrheitsliebe erfüllt – unfähig, vor den Leuten einen Buckel zu machen – verdarb er es gerade mit der Sorte von Menschen, die man nötig hat, wenn man in diesem Dasein ein gutes Fortkommen haben will.
Er war ein großer Mann, aus dessen hellen Augen Aufrichtigkeit und Treue blitzten – aus dessen Mund niemals ein abgedroschenes Wort kam. Er redete seine persönliche Sprache, durchdachte jedes Ding selbständig, hatte Ehrfurcht vor jeder großen Leistung – ohne jemals einen Personenkult oder blinden Götzendienst zu üben. Und wie er innerlich ein reinlicher Mensch war, so war er auch proper und sauber in seinem Äußeren. Er pflegte sein schönes, weiches Haar, das hinter der mächtigen, gewölbten Stirn in weißen Locken ihm fast bis zur Schulter reichte. Und er pflegte seinen martialischen Schnurrbart, den er bis auf seine letzten Tage (und hierin bestand wohl die einzige Eitelkeit, die ich an meinem Vater wahrzunehmen vermochte) mit einer dunklen Bartwichse durchstrich. Niemals hat mein Vater sein weißes Haar zu färben versucht. Er war in Ehren und Anstand grau geworden – und nur mit weißen Locken habe ich ihn gekannt … Aber für den Schnurrbart hatte er, wie gesagt, eine leise Schwäche. Immer trug er einen Kamm und eine kleine Haarbürste in der Tasche, und ich erinnere mich, als ob es gestern gewesen wäre, wie er mich fast jeden Tag, bevor er am späten Nachmittag das Haus verließ – um seine Schachpartie zu spielen – vom Hofe und den Kameraden fortrief, mich eine flüchtige Sekunde mit seinen hellen, durchdringenden Augen ansah, dann den Taschenkamm hervorzog und das zerzauste, widerspenstige Haar mir mit festem Griff aus der Stirn zurückkämmte, so daß ich laut hätte aufschreien mögen, wenn nicht der Respekt und die Furcht vor dem Vater mich davor bewahrt hätten. Denn wir Kinder hegten bei aller zärtlichen Liebe ein Gefühl gegen ihn, das der Angst nahekam.
Der Vater war ein strenger Mann – wortkarg und elterlicher Zärtlichkeit abhold. Vor dem Schlafengehen küßten wir ihm die Hand, während er selbst nur bei festlichen Gelegenheiten uns auf die Stirn küßte.
Er war der unbestrittene Herr im Hause, und seine vier Wände bedeuteten ihm die Welt, in der er sich allein wohlfühlte.
Im politischen Leben war er ein Volksmann, ein Demokrat vom Schlage der Achtundvierziger. Und obwohl er den Ruf eines hervorragenden Arztes genoß, der, als in Schlesien die Cholera gewütet, in vorderster Reihe gegen den bösen Feind gekämpft – die Baracken organisiert – und in dieser schweren Zeit unter Hintansetzung des eigenen Lebens sich ungewöhnliche Verdienste erworben hatte, ist ihm niemals eine Ehrung zuteil geworden – so übel war er wegen seiner Volksgesinnung bei der Regierung angeschrieben.
Er hatte eine unbeugsame, strenge Sinnesart, die sich oft genug auch gegen mich wandte, bei dem er frühzeitig einen gefährlichen Trotz und Eigenwillen zu erkennen glaubte.
Unser Großvater hatte in einem polnisch-schlesischen Dorfe ein kleines Wirtshaus gehabt, und meines Vaters ältester Bruder, mein Onkel Isaak war es gewesen, der sich und die Geschwister aus dieser jämmerlichen Misere herausgearbeitet hatte.
Der Onkel Isaak war, wie es in der Sprache der gebildeten Leute heißt, ein Autodidakt. Er schrieb wie gestochen, und mit seiner schönen Handschrift und seinem klaren Deutsch machte er das Glück seiner Familie. Wer in dem elenden Flecken eine Eingabe anzufertigen hatte, rief ihn. Und für die Groschen, die er auf solche Weise verdiente, kaufte er sich in der nächsten Stadt Bücher, aus denen er sich weiterbildete. Dieser Onkel, der niemals eine Schule gesehen, unterrichtete im Hause des Fürsten von Pleß und galt in der ganzen Gegend als ein ungewöhnlich kluger Kopf, vor dem die Leute Respekt hatten.
Von ihm wird späterhin noch weiter die Rede sein. Hier sei nur so viel vermerkt, daß er meinen Vater auf die lateinische Schule brachte, ihn im Geigenspiel unterrichten ließ und für seinen kärglichen Unterhalt sorgte. Sauer genug mag ihm das geworden sein. Kam mein Vater in den Ferien heim, mußte er den betrunkenen Bauern aufspielen, wofür er dann manchen »Böhm« – so hieß ein Silbergroschen zu jener Zeit – als Lohn empfing. Diese Einnahmen, die mein Vater bis auf den letzten Heller dem Onkel abliefern mußte, wurden für die Hefte und Schulbücher verwandt.
Ich erinnere mich nur dunkel der kleinen Stadt, in der mein Vater während meiner ersten Kinderjahre Arzt war. Sie hatte wohl – wie alle kleinen Städte – den sogenannten Ring mit grünen Anlagen und einen sauberen Marktplatz, auf dem das Rathaus stand.
Mein Vater hatte in dem Ort sein gutes und anständiges Auskommen. Er war als tüchtiger Arzt geschätzt, obwohl er es nicht verstand, den Leuten um den Bart zu gehen und schöne Worte zu drechseln. Da er nur in seltenen Fällen Medikamente verschrieb, war er bei einem Teil seiner Patienten in Mißkredit. Die Frauen machte er sich obendrein zu Feindinnen, denn statt der Badereisen, die in Mode kamen, verordnete er ihnen tüchtige Betätigung im Hause. – So war er eigentlich kein Medizinmann nach dem Geschmack der Menschen, und am liebsten würde man ihn wohl kaltgestellt haben, wenn nicht ungeachtet seiner Knorrigkeit der Erfolg für ihn gesprochen hätte.
Mit der Enge der kleinen Stadt, die ihn und sein Haus redlich nährte, hätte sich mein Vater am Ende abgefunden – obzwar er unter den Krämern und Philistern schwer litt – wäre ihm nicht die Erziehung seiner Kinder, die einen Wechsel des Domizils notwendig machte, über alles gegangen.
Seine leidenschaftliche Liebe und Anlage zur Musik hatte sich auf einen Teil meiner Geschwister übertragen. Und weil er wünschte, ihnen eine gründliche musikalische Ausbildung angedeihen zu lassen, beschloß er eines Tages, seine Zelte abzubrechen und mit Kind und Kegel – ins Ungewisse hinein – nach der Reichshauptstadt überzusiedeln.
Ich erinnere mich noch deutlich der großen Aufregung, die ob des wichtigen Ereignisses in unserem Hause herrschte.
Es stellte sich bei der Gelegenheit heraus, welches Ansehen mein Vater in der Stadt genoß. Erst hatte man ihm mit tausend Gründen widerraten, seine sichere Existenz aufzugeben. Dann – als man erkannte, daß an seinem Entschlusse nicht zu rütteln war – konnten sich die Menschen nicht genugtun in Beweisen der Achtung und Liebe.
Jeden Abend mußten der Vater und die Mutter in einer anderen Familie tafeln – und ein Fest folgte dem anderen. Geschenke wurden ins Haus getragen, und die Bürgerressource stellte zu guter Letzt dem Vater eine Ehrenadresse aus.
Acht Tage, bevor wir die Stadt verließen, wurden unsere Freunde zu einem Abschiedessen geladen.
Die ganze Wohnung war von Kuchendüften erfüllt. Denn meine Mutter, die eine Meisterin im Backen war, hatte Rühr- und Mohnnäpfe in Fülle bereitet.
Beim Essen erhob sich mein Vater und sagte folgendes: »Liebe Freunde! Ich habe mich niemals für einen eitlen Mann gehalten, aber nun ich diese Stadt verlassen soll, packt mich ein Gefühl leisen Stolzes, da ich sehe, daß die von mir geleistete Arbeit – mag sie nun groß oder klein gewesen sein – mir Freundschaft und Achtung erworben hat.
Ich gehe in eine unbekannte Welt – nicht um mir ein besseres Fortkommen zu schaffen, oder um nach Ehren und Reichtümern zu jagen – denn solches lag niemals in meinem Wesen –, ich wünsche vielmehr meine Kinder für ihr späteres Leben so auszurüsten, daß sie des Daseins Bürde auch ohne mich zu tragen imstande sind.
Ich habe vielleicht Möglichkeiten in mir, die nie zur Entwicklung gelangen werden – darüber will ich nicht greinen – ich bin ein Hausvater, dessen letzte Erkenntnis es ist, daß wir vorbildlich und am besten für das allgemeine Wohl sorgen, wenn wir unseren Kindern Zucht und Sitte, Ehrfurcht und ein starkes Gefühl für die Schönheit des Lebens einpflanzen.
Es ist also nicht leichter Sinn, der mich zu neuen Ufern treibt, sondern das ernste Bewußtsein der Verantwortlichkeit, das ich meinen nächsten Angehörigen gegenüber besitze. Da ich nicht ein Mann bin, der mit Glücksgütern gesegnet ist, halte ich mich für verpflichtet, die Menschen, die ich ins Leben gesetzt habe, so gut ich es vermag, für ihr Dasein auszurüsten. Und weil ich nicht möchte, daß Sie mich für einen Abenteurer und Glücksritter halten, drängte es mich, Ihnen in dieser Stunde den innersten Grund zu nennen, der mich aus der Stadt treibt.
Und nun trinke ich auf Sie, verehrte Freunde, mein Glas.«
Dann stieß mein Vater mit den Gästen an, leerte den Römer und setzte sich still und ernst auf seinen Platz.
Diese Worte vermag ich wiederzugeben, denn ich fand den Trinkspruch unter den Blättern seines Nachlasses.