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8

Finster und drohend zogen sich die Wolken über uns zusammen. Der Vater klagte seit einiger Zeit über Gliederschmerzen; er hielt sein Leiden für vorübergehend. Aber da sein Zustand immer quälender wurde, zog er endlich auf Drängen meiner Mutter einen berühmten Kollegen hinzu.

Diese Konsultation mußte ein sehr ernsthaftes Resultat ergeben haben, denn ich sah im Hause nur kummervolle, verweinte Gesichter.

Mein Vater lag mit verstörten Zügen in seinem Bett. Wir Kinder gingen auf den Fußspitzen durch die Zimmer, und mein alter Onkel Isaak erschien auf der Bildfläche. Er saß am Bette meines Vaters und redete ihm seine schwarzen Gedanken aus.

Es kam mir plötzlich vor, als ob der Onkel mit seinem zerfurchten Gesichte viele hundert Jahre zählte. Er schien gleichsam das ganze ehrwürdige Alter seinen Volkes zu repräsentieren. Und der leidvolle Ernst auf seines und des Vaters Zügen schuf zwischen den beiden Männern eine unheimliche Ähnlichkeit.

Der dritte Stock glich einem friedlosen Kirchhof, und die Menschen hatten das Aussehen von Trauerweiden.

Ehe der Onkel das Haus verließ, fand zwischen ihm und meiner Mutter eine lange Auseinandersetzung statt, die gute Früchte trug.

Mein Vater lächelte matt. Aber sie ließ sich dadurch nicht einschüchtern. Die größten Professoren hätten sich schon geirrt, und die Zukunft würde erweisen, wer recht behielt.

In der Folgezeit änderte sich unser Hauswesen von Grund aus. Die furchtbaren Schmerzen, die mein Vater beständig aushielt, nötigten ihn, seine Praxis auf das Äußerste einzuschränken.

Meine Mutter nahm fremde Leute als Pensionäre ins Haus, und der Eßtisch mit den Löwenfüßen, der bis dahin nur die Familienmitglieder versammelt hatte, wurde plötzlich weit ausgezogen. Er glich nun beinahe einer großen Hochzeitstafel. Oben an der Spitze saß mein Vater und hielt die Würde dieses seltsamen Tisches aufrecht, was ihm nicht immer leicht gefallen sein mag. Merkwürdige Kumpane wurden unsere Tischgenossen. Den Hauptbestandteil bildeten junge Kommis, die für ein mäßiges Geld Familienanschluß und eine gute Mahlzeit suchten. Gegen diese Sorte von Menschen habe ich seit der Zeit einen stillen Haß genährt. Sie erschienen mir dreist und geschwätzig und redeten über alle Dinge – mochte es sich um Politik, Literatur oder Musik handeln – mit einer fatalen Selbstsicherheit. Zudem hatten viele von ihnen eine schlechte Kinderstube hinter sich und zeigten üble Manieren.

Mit der bunt zusammengewürfelten Gesellschaft hatte mein Vater eine wahre Engelsgeduld, und es zeigte sich hier auf eine sehr schöne Art der veredelnde Einfluß seines Wesens. Ohne die Einzelnen im mindesten zu beschränken, gab er den Grundton der Unterhaltung an. Die Vorlauten wurden stiller und bescheidener, und die Besseren hörten ehrfürchtig zu, denn es ging ihnen ein Licht auf, daß hinter meines Vaters hoher Stirn große und ernste Gedanken wuchsen. Sie merkten wohl, daß sie von den Mahlzeiten für ihr ganzes Leben einen Gewinn heimtrugen.

Mit einer Selbstbeherrschung ohnegleichen bekämpfte mein Vater seine körperlichen Schmerzen. Schwer auf seinen Stock gestützt, das rechte Bein nachschleppend, – wahrte er dennoch seine gerade, ungebeugte Haltung.

Er hatte freilich in meiner Mutter eine Lebensgefährtin, deren zugreifende Tüchtigkeit und deren Frohsinn ihm sein Schicksal tragen halfen. Mit der alten Therese ging sie Mittwochs und Sonnabends auf den Markt am Dönhoffsplatze, um für die Woche profitlich einzukaufen, und gemeinsam standen die beiden Frauen während des ganzen Vormittags an dem heißen Kochherd, auf dem die vielen Töpfe brodelten. Es gehörte schon Kunst dazu, sich einzurichten. Die Menschen wollten satt werden, und das Geld sollte reichen. Zuweilen wurde ihr angst und bange, wenn die jungen Leute mit einem Bärenhunger aus ihren Geschäften heimkamen. Die aufgehäuften Schüsseln wurden mit einer Schnelligkeit geleert, daß, wenn die Reihe an uns Kinder kam, oft nur kümmerliche Reste zu erblicken waren.

Zur Gänsezeit gab es jeden Sonntag eine prächtige Brühsuppe, Gänseklein, Gänsebraten und einen Apfelstrudel, den nur meine Mutter zu bereiten verstand. Der Teig wurde so dünn gerollt, daß er einem durchsichtigen Tuche glich, und es war eine Kunst, wie meine Mutter ihn füllte.

Meine Schwestern haben die Zubereitung dieser Speise von der Mutter gelernt; aber keiner ist sie je so gelungen, wie ihr.

Zwei stattliche braungebratene Fettgänse kamen auf den Tisch, die für uns Kinder ein großartiges Aussehen hatten und dazu ein wohliges Aroma verbreiteten.

Und nun mußte man sehen, mit welcher Kunstfertigkeit unsere gute Mutter tranchierte. Die Gänse schienen kleine Kälber zu sein – so viel gaben sie her.

Was nutzte meiner armen Mutter alles Tranchieren, wenn Herr Siegmund Perl aus Prenzlau, der im Hause Jordan konditionierte, sich drei Stücke auf einmal nahm und eben im Begriffe war, ein viertes hinzuzufügen. – Da riß aber meiner Mutter, die es von ihrem Platze aus bemerkt hatte, die Geduld. Sie stand plötzlich hinter ihm und bemächtigte sich mit einer raschen, energischen Bewegung der Bratenschüssel. Die Zornesröte hatte ihr Gesicht gefärbt. Sie sprach kein Wort, sondern atmete nur tief und schwer, als wenn ihr Herz zerspringen wollte.

Ich fühlte mich auf das tiefste beschämt, und ohne den Gram meiner Mutter zu würdigen, redete ich, als die Schüssel zu meinem Nachbar kam, diesem auf das niederträchtigste zu, sich besser zu bedienen. Obwohl ich meiner Mutter Gesicht mied, spürte ich ihre verstörten Blicke auf mir ruhen. Und gerade das stachelte mich an, meinen Tischgenossen noch dringender aufzufordern. Ich hatte eine ordentliche Genugtuung, als der Gute meiner Bitte Folge leistete.

Ich selber bediente mich nicht, sondern gab die Schüssel weiter.

Ein saures Leben war es, das meine Eltern führten. Den Vater ergriff ein schier krankhafter Sparsamkeitssinn. Er rechnete und rechnete alles bis auf den Pfennig aus, in der ewigen Sorge, es könnte beim Quartalsanfang an der Miete und den Steuern fehlen. Der guten Mutter warf er vor, sie sei eine Verschwenderin, wenn sie die Garderobe von uns Jungens ergänzen wollte. Die sparte sich jeden Groschen vom Wirtschaftsgelde, jeden Bissen vom Munde ab, damit mein Bruder und ich anständig gekleidet in die Schule gehen konnten. Und wenn der Vater durchaus mit dem Gelde nicht herausrücken wollte, so nahm sie während seines Nachmittagsschläfchens ihm behutsam aus der Westentasche die losen Groschen und fügte sie ihren Ersparnissen hinzu.

Der Vater schimpfte über die teuren Schulbücher und über die verflixte modische Wirtschaft, die auf dem Gymnasium herrschte. Wir sollten die Bücher beim Antiquar kaufen, und der Lehrer forderte die neueste Auflage. Als ob die alte lateinische Grammatik, die er besaß, nicht auch genügt hätte.

Mochte es bei uns noch so knapp hergehen – jeden Mittwoch und Sonnabend kaufte die Mutter auf dem Markte eine halbe Mandel Krebse für den Vater. Denn meinen Vater bei der Krebsmahlzeit zu sehen, war für sie das größte Vergnügen. Sie bewunderte ebenso die Appetitlichkeit, mit der er die Krebse zu essen verstand, wie die elegante Geschicklichkeit, mit der er sie ausnahm.

Jeden Vormittag gönnte sie sich eine halbe Stunde, um ihm gegenüberzusitzen, die fleißigen Hände in den Schoß zu legen und mit dem Vater zu plaudern. Er las ihr dann wohl auch aus der »Vossischen« vor – das Wichtigste vom politischen Teil – und Silbe für Silbe die Theaterkritiken seines geliebten Theodor Fontane sowie die gescheiten Musikreferate des Professor Engel. Die Vossische Zeitung hatten wir für fünf Silbergroschen monatlich beim Kaufmann Bullrich abonniert, durften sie jedoch nur von zehn bis zwölf Uhr im Hause behalten. Damals erschien in ihren Spalten Fontanes unvergeßliche Erzählung »Irrungen – Wirrungen«.

Mein Vater las Fortsetzung für Fortsetzung der Mutter vor, jede Zeile – jedes Wort genießend.

Am Nachmittage gönnte er sich vor der Sprechstunde sein Schläfchen. Hierbei hatte er eine sonderbare Gewohnheit angenommen, unter der ich nicht selten litt. Er lag auf dem Sofa, und ich mußte ihm mit einem feinen Kamm durch die Haare fahren, bis er einschlief.

Oft hörte ich vom Hofe aus das fröhliche Lachen meiner Gespielen – und das ewige Auf- und Niederkämmen wurde mir sauer.

Eines Nachmittags lag der Vater wieder mit geschlossenen Augen da und genoß es mit Wohlbehagen, wenn der Kamm seine weißen Haarsträhnen teilte.

Vom Hofe aus rief Walter Senz laut meinen Namen. Ich wollte mich leise davonschleichen, denn ich hoffte, der Vater sei endlich eingeschlummert. In dem Moment öffnete er die Augen, blickte mich groß an und schüttelte den Kopf. Mit einem bitteren Seufzer nahm ich die Arbeit wieder auf, die mich in dieser Stunde ärger als Steineklopfen dünkte. Hatte der Vater einen Verdacht geschöpft – oder wollte er mich so bald nicht missen – ich weiß es nicht. Jedenfalls währte es für mein Empfinden eine Ewigkeit, ehe der Schlaf ihn überwältigte. Dabei war ich nicht einmal meiner Sache gewiß, ob er nicht von neuem erwachen würde, wenn ich mich auf und davon machte. Da beschloß ich ganz sicher zu gehen und spielte ihm einen Schabernack, den er sich kaum träumen ließ, während er in tiefem Frieden seiner Ruhe sich hingab.

Ich holte vom Toilettentisch eine Flasche Öl und begann nun, sein langes Haar in unzählige kleine Zöpfchen zu flechten, die ich mit dem Öl förmlich tränkte, so daß sie prall auseinanderstanden und eine Art Krone bildeten.

Dem Vater mußte meine Arbeit ein inniges Vergnügen bereitet haben, denn er lächelte im Schlafe selig.

Ich betrachtete mit Stolz und einer gewissen Schadenfreude mein Werk und dachte im stillen: So bald wirst du dich von mir nicht mehr kämmen lassen!

Dann eilte ich davon.

Inmitten seiner Ruhe wurde der Vater durch ein lautes Klingeln aufgestört.

Ein Patient wünschte ihn dringend zu sprechen.

Der Vater erhob sich schwerfällig und war gerade im Begriff, in sein Sprechzimmer zu gehen, als die Mutter ihn glücklicherweise abfing.

»Benjamin, wie siehst du denn aus!« rief sie entsetzt.

»Was willst du?« entgegnete mein Vater ärgerlich und wollte an ihr vorbei.

»Sieh doch nur in den Spiegel, Benjamin – und du wirst dein blaues Wunder erleben.«

Mein Vater zog seinen Taschenspiegel hervor und betrachtete sich ernsthaft.

»Hm,« machte er, »nicht übel.« Dann schmunzelte er über das ganze Gesicht und sagte: »So ein verflixter Junge!«

Nun versuchte er, sein Haar wieder in Ordnung zu bringen, merkte aber bald, daß das nicht so leicht ging. Ich hatte gute und solide Arbeit geliefert. Die Mutter mußte ihm helfen und verwünschte mich hundertfach, weil die Zöpfe so fest geflochten waren und vom Öle trieften.

Endlich konnte mein Vater seinen Patienten empfangen.

»Komm einmal herauf, mein Söhnchen!« rief die Mutter mit einer Stimme, die nichts Gutes verhieß.

Ich machte mich auf das Schlimmste gefaßt und folgte. Am liebsten hätte ich Reißaus genommen.

»Der Vater hat dir etwas Wichtiges zu sagen, mein Jungchen! – Geh nur hinein!« fügte sie liebkosend hinzu.

Sie war im Grunde ihres ehrlichen Herzens wirklich böse über meinen dreisten Spaß und gönnte mir schon eine kleine Lektion. Als gute Ehehälfte fühlte sie sich gleichsam mit beleidigt.

Na – dachte ich mir – auch darüber wirst du hinwegkommen – und ging erhobenen Hauptes zu meinem Vater.

Der hatte die Arme verschränkt und sah mich eine unheimlich lange Zeit wortlos an.

Wenn es schon die Prügel setzen soll – meinte ich im stillen – so wäre es hübscher und anständiger seitens meines Vaters, das Verfahren ein wenig abzukürzen.

Vielleicht hatte er meinen Gedankengang erraten, denn er winkte mir, näher zu kommen.

»Ich wollte dich nur fragen,« sagte er, »ob du die Absicht hast, Friseur zu werden.«

Ich war so verdutzt, daß ich zuerst schwieg.

»Möchtest du mir nicht eine Antwort geben?« ermunterte mich der Vater.

Nun erwiderte ich ernst und aufrichtig, daß ich bis zur Stunde nicht daran gedacht hätte, Friseur zu werden.

»So,« sagte der Vater, »das ist mir lieb zu hören – dann habe ich mich also getäuscht. Laß dir jedenfalls für die mühselige Arbeit danken, der du meinetwegen dich unterzogen hast. – Und nun geh und ruh dich aus, du wirst es nötig haben.«

Sehr kleinlaut und sehr beschämt zog ich ab.

Der Vater hatte sich zu großartig aus der Affäre gezogen – mir persönlich wäre ein tüchtiger Rüffel lieber gewesen.


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