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Wir wuchsen heran unter mancherlei Freuden und Leiden. Ich selbst begann, mich an den Dingen und Menschen dieser Welt zu reiben und zu stoßen. Es kam eine Zeit, in der Lehrer, Eltern und Geschwister nicht wußten, was aus mir noch werden sollte. In der Schule war ich träge und im Hause trotzig und eigenwillig. Die Schule drückte mich. Ich sah überall Ungerechtigkeiten und lehnte mich im Innersten gegen ein Prinzip auf, das von vornherein Unterwerfung und Gehorsam verlangte.
Ich stand bekümmert mit Walter Senz unter dem blühenden Kastanienbaum und begann, auf meine Art mit ihm zu philosophieren.
Ich sagte: »Wir sind arme Kinder, auf die alle Welt loshämmert. In der Schule soll ich gehorchen. – Vater und Mutter soll ich gehorchen – und den Schwestern soll ich auch aufs Wort parieren. Sprich, was bleibt bei all dem Gehorsam von mir selber übrig?«
Er schüttelte traurig den Kopf und schwieg.
Hand in Hand standen wir ein Weilchen still da.
Dann fuhr ich fort: »Was haben wir vom Leben – ich und du? – Nicht so viel –«
Ich knipste Daumen und Zeigefinger zusammen.
»Gestoßen und gepufft werden wir und dürfen nicht einen Augenblick tun, was wir möchten. Ein Hund hat es besser.«
Er wollte etwas einwenden, aber ich unterbrach ihn: »Nein, laß mich ausreden und höre mich zu Ende an: Mit dem frühen Morgen beginnt es bereits. Darf ich es mir beispielsweise einfallen lassen, durch die Zimmerstraße in die Schule zu gehen, statt durch die Kochstraße? – Quarkspitzen! Ich käme um eine Minute zu spät und hätte meine Schelte weg! – – Tagaus, tagein muß man durch die Kochstraße gehen, und an der Jerusalemer Kirche steht an jedem Morgen der alte Bettler und sieht einen ordentlich strafend an, wenn man nichts für ihn übrig hat – du weißt doch, der mit den beiden Krücken und dem großen, langen Bart. – Dann kommt man in die Klasse und soll sich nicht auf seinem Platze rühren. Man darf den Mund nicht öffnen, bevor man gefragt wird – und man kann hundert gegen eins wetten, daß man just dann gefragt wird, wenn man nichts weiß. – – Und wie oft sagt der Lehrer Dinge, die man für blödsinnig hält. Aber wieder muß man alles herunterschlucken, denn der Lehrer hat ja immer recht. – Was kann ich dafür, daß ich die Mathematik nicht in den Kopf kriege! Ich gebe mir die größte Mühe – es nutzt nichts. Dem lieben Gott verspreche ich, daß der Bettler an der Jerusalemer Kirche mein ganzes Taschengeld und eine volle Woche hindurch mein Frühstück erhält, wenn ich bei der nächsten Mathematikarbeit ›Genügend‹ kriege. – Nun gehe ich in die Schule, schreibe meine Arbeit und denke, mir kann nichts passieren. Gott wird schon helfen. Und was geschieht? … Wir bekommen die Arbeit zurück – und meine hat wieder das Prädikat ›Ungenügend‹. – Ich gebe dir mein Wort darauf: Mir ist die Geschichte wurst. Was kann ich dafür, wenn diese dämliche Mathematik nicht in meinen Schädel geht! – Aber meines Vaters wegen tut es mir leid. Er grämt sich über mich, und wenn ich ihm die Arbeit nicht zeige, um ihm den Ärger zu ersparen, dann bin ich noch obendrein ein Lügner und Betrüger. Ich habe sie neulich selbst unterschrieben – und natürlich ist es herausgekommen. Der Lehrer hat zu mir gesagt: Ich werde noch ins Zuchthaus kommen – ich hätte eine Urkunde gefälscht. Was das heißt, soll der Teufel wissen. Aus dem Gerede hätte ich mir gar nichts gemacht. Aber nun kommt das Schlimmste: er hat an meinen Vater einen Brief geschrieben, den ein Junge aus meiner Klasse nach Hause bringen mußte. – Weißt du, was nun geschah? …«
Ich hielt einen Moment inne, denn die Erinnerung an den Vorgang trieb mir das Blut bis zu den Haarwurzeln.
»Erzähle nur,« sagte Walter Senz, und sah mich gespannt an.
»Mein Vater,« fuhr ich fort, »rief mich, meinen Bruder Karl und meine Schwester Helene in sein Sprechzimmer – du kennst es doch – es liegt vorn am Entree und hat die grünen Plüschmöbel. Und nun sah er mich so furchtbar streng an, daß ich schon genug hatte und wissen konnte, was mir bevorstand. Ich wußte es aber doch nicht, denn es kam viel schlimmer, als ich gedacht hatte. – Zuerst sagte mein Vater zu den Geschwistern, indem er auf mich wies: ›Hier seht ihr einen Menschen, der so gemein ist, daß er aus jämmerlicher Feigheit nicht einmal vor dem Betruge zurückschreckt.‹ Und während er mich an den Handgelenken festhielt, setzte er hinzu: ›Es gibt nichts Verächtlicheres, als einen Feigling und Lügner.‹ – Na, ich dachte mir mein Teil und schwieg. Ich konnte ihm ja nicht erwidern, daß ich es nur aus Rücksicht für ihn getan; er hätte es mir doch nicht geglaubt. Ich hatte auch gar keine Zeit, mir Gedanken zu machen. Denn nun sauste die Hundepeitsche auf meinen Rücken, daß ich laut aufschrie. Und meine Geschwister heulten mit – und meine Mutter stürzte ins Zimmer und bat meinen Vater flehentlich, aufzuhören. Es half nichts. Meines Vaters Zorn war so gewaltig, daß er die Mutter zwang, hinauszugehen. Und nun kommt das Schlimmste, lieber Walter,« sagte ich leise. »Ich mußte eine Stunde auf Erbsen knien und durfte mich nicht rühren. – Was man da durchmacht, und wie man sich vor seinen eigenen Geschwistern schämt, wirst du verstehen.«
Walter Senz streichelte meine Hand.
»Du armer Junge,« sagte er. »Wenn ich dir bei der Mathematik helfen kann, will ich es gern tun. – Aber in allen Stücken kann ich dir doch nicht recht geben. Denn siehst du – selbst der alte Kaiser Wilhelm muß Bismarck gehorchen und schließlich alles tun, was der will. – Warum sollen wir Kinder es besser haben?«
Und mit nachdenklichem Ernste fügte er hinzu: »Ich finde es auch in der Schule nicht so schlimm wie du. Am Ende kommt es daher, weil mir das Lernen leichter fällt, als dir. Aber davon ganz abgesehen – mir macht es direkt Vergnügen, wenn ich jeden Tag etwas Neues lerne. Ja, du darfst es mir glauben: ich freue mich diebisch, wenn ich eine Gleichung, wie unser Küster sagt, elegant löse, oder wenn mir beim lateinischen Extemporale beispielsweise sofort einfällt, daß auf timeo nicht ut, sondern ne folgt … Und das Gehorchen wird mir nicht so sauer wie dir. Ich tröste mich damit, daß ich eines Tages mit dem Befehlen an der Reihe bin. – Am Ende,« schloß er, »siehst du die Dinge schwärzer als sie sind.«
»Ich will dir einmal etwas sagen, lieber Walter. Mir ist es auch angenehmer, wenn ich im Lateinischen null Fehler mache. Aber leider Gottes mache ich nicht null Fehler. Soll ich mich deshalb aufhängen?«
Walter lachte laut auf, und ich stimmte fröhlich in sein Lachen ein. Ich liebte ihn. Er war der edelste und beste Junge, den Gott geschaffen hatte.
»Komm, wir wollen was Gutes schmausen,« sagte er und zog mich die Treppe hinauf.
Nun kletterten wir auf den Boden, der eine alte Rumpelkammer barg, in die wir immer flüchteten, wenn unsere Herzensnot am größten war. Da stand allerhand geheimnisvolles, buntes Zeug, als da sind: verrostete Gewehre, kapute Möbelstücke, zerfranste Teppiche, eine komplette Rüstung nebst einem Reitersäbel und anderes Gerümpel mehr. Wir hatten uns da oben eine gemütliche Bude zurechtgemacht, in der wir Kriegsrat zu halten pflegten.
Walter setzte sich auf einen zerbrochenen Schemel – ich hockte auf einer Kiste – und nun wurden die Büchsen mit eingemachten Nüssen und Aprikosen hervorgeholt, die mein gutherziger Freund mit aller Seelenruhe aus der Speisekammer seiner Mutter gestohlen hatte. Auch einen silbernen Löffel hatte er mitgenommen.
»Es ist eigentlich kein Diebstahl,« hatte er mich beruhigt, »denn jedesmal, wenn eins von diesen beiden Kompotten auf unseren Tisch kommt, esse ich nichts davon. Auf diese Weise leiden die anderen keinen Schaden, und wir können uns gütlich tun. – Nimm du von den Nüssen, ich halte mich an die Aprikosen.«
Wir aßen mit Andacht, unter Schweigen. Eine stille Rührung kam über uns, die zuweilen sich in leisen Seufzern bemerkbar machte, oder in einer Träne, die in die Büchse tropfte.
»Siehst du,« sagte Walter nach einer Weile, »du beklagst dich über die Strenge deines Vaters – und ich – ach, lieber Junge, ich könnte dir Dinge erzählen, daß dir die Haare zu Berge stehen.«
»Sprich doch,« ermutigte ich ihn.
»Ich kann nicht.«
Sein treuherziges Knabengesicht nahm einen männlichen Ausdruck an, und mit einer Kraft und Selbstbeherrschung, die über sein Alter weit hinausging, rang er seinen Kummer nieder.
»Soviel will ich dir nur sagen, ich würde Gott auf den Knien danken, wenn mein Vater an mir handelte, wie deiner an dir. Ich will zugeben, daß er hart und streng ist – aber fühlst du denn nicht, daß er es aus Liebe ist? Meiner hat weder für mich noch die Schwestern einen Blick übrig, der – – weißt du, was Hoppegarten bedeutet? … Nein, nein, ich will darüber nicht reden.«
Er wandte sich ab und blickte durch eine der Luken in den Hof. Plötzlich kehrte er mir wieder sein Gesicht zu, das ganz blaß geworden war.
»Da kommt Luzie Herterich über den Hof,« sagte er, »schau nur, wie sie den Kopf zurückwirft. Ich bitte dich, rufe sie an.«
»Luzie, Luzie!« schrie ich mit lauter Stimme, seinem Wunsche folgend.
Die Kleine mit dem Zigeunergesicht sah sich erst nach allen Seiten um, ehe sie mich entdeckte.
»Was willst du denn von mir?« antwortete sie, »und was hast du da oben zu suchen?«
»Wirst es schon hören. Warte nur ein kleines Weilchen. Ich komme gleich zu dir herunter.«
Walter stupste mich.
»Du mußt dich sputen,« sagte er, »sonst rennt sie davon. Ich lasse sie fragen, weshalb sie nicht mehr mit mir spricht. Ich will wissen, was ich ihr getan habe.«
Bei diesen Worten sah er mich mit einem schmerzlichen Blicke an und zitterte vor Erregung.
Er wußte, daß mir dieser Auftrag wider den Strich ging.
Luzie Herterich, Handelsschuldirektor Herterichs Tochter, war ein Kapitel für sich.
Seit der Handelsschuldirektor den ersten Stock unseres Hauses bezogen hatte, war es mit unseren Soldatenspielen zu Ende.
Luzie Herterich, der unsere erste Knabenliebe galt, brachte neue Unterhaltungen in den Hof.
Sie stand allein unter Portier Staegemanns Kastanienbaum und rief den Kindern, die ihr gegenüber in einer langen Reihe Posten gefaßt hatten, zu: »Ich baue eine Brücke, wer baut mit?«
Wir sahen sie gespannt an, und sie fügte mit leuchtenden Augen hinzu: »Walter Senz baut mit!«
Ich hätte laut aufschreien mögen, denn damit war es entschieden, daß sie dem Freunde den Vorzug gegeben. Sobald nämlich die Brücke brach, bekam jeder Junge von dem Mädchen, das ihn gerufen hatte, einen Kuß.
Lange Zeit habe ich nach diesem Vorfall den Freund und den Spielplatz gemieden – so sehr litt ich unter der Niederlage und dem Gefühl meiner abgewiesenen Liebe.
Aber des Freundes Glück, dessen Neigung zu dem kleinen störrischen Fräulein viel stärker und innerlicher war als die meine, und seine Zartheit mir gegenüber stimmten mich um.
Ich hatte ihm nach jenem Vorfall voller Launenhaftigkeit den Rücken gekehrt und den Gekränkten gespielt, dem das bitterste Unrecht widerfahren war. Und er in seinem abwägenden Gerechtigkeitssinn fand dieses Benehmen in der Ordnung und warb unablässig um meine Freundschaft.
Durch diese Großmut war ich bezwungen worden.
Nun war es geschehen, daß sich Luzie mit ihm gezankt hatte, und ich sollte den Vermittler spielen.
Ich mußte mich des früheren Leides erinnern, als ich im Hofe zu ihr trat.
»Was willst du?« fragte sie etwas schnippisch und von oben herab.
»Du brauchst nicht gleich grob zu sein,« entgegnete ich.
»Ich bin nicht grob, ich frage nur, was du willst.«
»Ich bitte dich,« nahm ich vorsichtig das Wort wieder auf, »hör' mich mal ruhig an und unterbrich mich nicht sofort. Was hat dir Walter Senz getan? Weshalb kränkst du ihn?«
Sie nahm im Nu eine strenge und abweisende Miene an. »Aha,« sagte sie, »darauf läuft es also hinaus. Du bist als Friedensengel abgesandt. Gib dir nur keine Mühe. Zwischen mir und Walter Senz ist alles aus.«
»Ja, was hat er dir denn eigentlich getan?«
»Was er mir getan hat?«
Sie lachte wütend auf.
»Hör' zu. Er hat zu mir gesagt, es sei gemein von mir, daß ich am vorigen Sonntag nicht mit ihm spazieren gegangen bin.«
»Hattest du es ihm versprochen?«
»Selbstverständlich!«
»Dann kannst du es ihm auch nicht übelnehmen, wenn er …«
»Oho,« fiel sie mir ins Wort, »das wäre ja noch schöner, wenn jemand zu mir sagen dürfte, ich sei gemein. Bestelle ihm nur ruhig: ich bin mit ihm fertig. Kannst ihm noch sagen,« schloß sie hochmütig, »ich kapiere nicht, wie man mit einem gemeinen Menschen verkehren kann.«
Ehe ich's mich versah, war sie davongeeilt.
»Luzie, Luzie!« rief ich hinter ihr her.
Aber sie wandte nicht einmal den Kopf, und so mußte ich mit dieser schlechten Botschaft abziehen.
Walter Senz hörte schweigend zu und biß sich auf die Lippe. Dann ging er mehrere Male, die Arme auf dem Rücken verschränkt, durch die Bodenkammer, bis er mir die Hand reichte.
»Ich will es auf eine andere Art versuchen,« sagte er. »Jedenfalls habe schönen Dank.«
An diesem Tage schrieb er folgenden Brief an Luzie Herterich:
»Ich habe Deinen Bescheid gehört, der mich mehr betrübt hat, als Du vielleicht denkst. Aber Du hast vollkommen recht – es war eine Gemeinheit von mir, und ich schäme mich wirklich. Wie kann man ein so häßliches Wort gegen jemanden gebrauchen, den man lieb hat! Denn daß ich Dich lieb habe, mußt Du mir glauben, weil ich sonst noch unglücklicher wäre, als ich es ohnehin schon bin. Ich habe mich hundertmal gefragt, was ich wohl tun könnte, um mein Unrecht wieder gut zu machen. Mir ist nichts anderes eingefallen, als Dich ganz ehrlich um Verzeihung zu bitten, was hiermit geschieht. Wenn Du daraufhin wieder gut werden willst, so bitte ich Dich, zwischen vier und halb fünf in bekannter Weise zu pfeifen. Ich werde im Hofe sein und warten.
Dein W. S.«
Zehn Minuten nach halb fünf pfiff Luzie Herterich, Walter Senz hatte bereits alle Hoffnung aufgegeben.
Er erzählte es mir strahlend.
»Sie ist doch eine kleine Kröte, wenn sie dich so lange zappeln läßt,« sagte ich.
Er wurde über meine Worte böse, und ich mußte mir Mühe geben, ihn wieder zu beruhigen.