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Einen Tag vor dem Heiligen Abend kam von Onkel Jakob aus Breslau ein Brief, der unsere ganze Festesfreude empfindlich trüben sollte.
Der Onkel schrieb, daß man ihm sein Haus in der Nikolaistraße genommen, und er für das letzte, was er besessen, Schiffskarten nach Amerika gelöst habe. Denn in der Heimat brenne ihm der Boden unter den Füßen, und er wolle noch einmal draußen in der Welt sein Glück versuchen. Nun sei er auf den Einfall gekommen, dort drüben schwedische Streichhölzer in den Handel zu bringen und eine größere Ladung gleich hinüberzunehmen. Er bitte den Vater inständigst, ihm zu diesem Zweck hundertundfünfzig Taler preußisch Kurant vorzustrecken. Er sei überzeugt, daß er ihm die Summe mit Zins und Zinseszins in kurzer Zeit zurückerstatten könne.
Mein Vater las den Unglücksbrief den Tanten und den großen Schwestern vor – und alle zogen die Stirnen in Falten und machten das nämliche ernste Gesicht, durch das die Familienähnlichkeit in so auffallender Weise hervortrat.
Mein Vater hatte sich nicht getäuscht in der Erwartung, daß die Tanten und seine Mädel Rat schaffen würden.
Die Schwestern holten ihre Ersparnisse herbei – die Tanten zogen ihre großen Portemonnaies hervor – und auf den Schreibtisch des Vaters wurden hundertfünfzig Taler in preußisch Kurant gezählt.
Dann schrieb mein Vater an Onkel Jakob einen kurzen Brief, in dem er ihm und seinen Leuten glückliche Reise und gute Erfolge wünschte – und meine Schwester Anna ging auf das Postamt, um das Geld abzuschicken. Niemandem war recht wohl dabei, denn die Idee des Onkels, mit schwedischen Streichhölzern drüben sein Glück zu machen, leuchtete nicht ein. Man half ihm von Herzen gern, aber man zweifelte am Erfolge, und hundertfünfzig preußische Taler waren kein Pappenstiel. –
Am Vormittag des Festes traf meine Mutter vor dem Hause Frau Senz, wie sie gerade, mit Paketen beladen, aus einer Droschke erster Klasse stieg.
»Ich habe noch in letzter Stunde Einkäufe machen müssen,« erzählte sie meiner Mutter. »Mein Mann hat noch ein paar Freunde eingeladen, für die ich etliche Kleinigkeiten besorgen mußte.«
In meiner Mutter, der Mißgunst durchaus fern lag, mag in diesem Augenblicke, als sie all den Überfluß wahrnahm, vielleicht ein Gefühl des Unbehagens aufgestiegen sein. Denn mit einem leichten Seufzer, den sie nicht zu unterdrücken vermochte, entgegnete sie: »Wenn es unsereiner doch auch einmal im Leben so gut hätte wie Sie und so aus dem Vollen wirtschaften könnte!«
Frau Senz' Augen umflorten sich.
»Ach, Frau Doktor,« sagte sie schwermütig, »denken Sie nur nicht, daß das glücklich macht, und glauben Sie mir, es ist nicht alles Gold, was glänzt. Wenn Sie eine Ahnung hätten, wie oft ich Sie im stillen beneide und an Ihrer Stelle zu sein wünschte.«
Sie zog ein feines Batisttüchlein aus ihrer perlbestickten Handtasche und fuhr sich damit über die Augen.
Meine Mutter war erschreckt und zugleich bedrückt, daß sie mit ihrer unschuldigen Bemerkung solches Unheil angerichtet hatte. Sie wollte Frau Senz trösten, aber ihr fiel nichts Gescheites ein, was sehr begreiflich war, da sie ja im Grunde diese mysteriösen Andeutungen nicht verstehen konnte. So bemerkte sie nur obenhin, daß eben jeder Mensch sein Kreuz zu schleppen habe, daß jeden der Schuh irgendwo drücke und man geduldig sein Schicksal tragen müsse.
Wir wurden reichlich beschert, hatten doch die Tanten tief in ihren Säckel gegriffen und trotz der strengen Weisung der Schwestern unseren persönlichen Wünschen Rechnung getragen. Die Schwestern waren nämlich grundsätzlich für praktische Geschenke.
Wenn ich auf diesen Blättern immer die außergewöhnliche Strenge meiner Schwester Anna betone, so muß ich doch zu ihrem Lobe hervorheben, daß sie eine einzigartige Pflichttreue und Liebe für das Haus besaß. Das stellte sich Weihnachten so recht heraus. Sie gab die sauer verdienten Groschen bereitwillig her und legte einem jeden sein Präsent unter den Baum.
Kurz nach neun Uhr kam Walter Senz und holte meine Schwester Helene und mich ab. Wir sollten herunterkommen und unsere Geschenke in Empfang nehmen.
Wir waren wie geblendet von den Herrlichkeiten, die sich unserem Auge boten. Der Hauslehrer Johannes Kern hatte einen kostbaren Zobelpelz erhalten. Frau Senz stand in einem Kreise von Herren und lachte hell und übermütig. Zuweilen warf sie einen verstohlenen Blick zum Hauslehrer hinüber, der sich ernst und stolz mit den Mädchen unterhielt. Als sie uns erblickte, eilte sie auf uns zu, streichelte mir die Backe und küßte meine Schwester auf die Stirn. Mir schien es, als ob ihre Augen feucht schimmerten und in einem reinen Glück erstrahlten.
Walter Senz sah finster zu Boden, und die schönen Mädchen schmiegten sich an meine Schwester und zogen sie in eine Ecke.
Eine unbestimmte, grundlose Angst bemächtigte sich meiner, als läge ein Unglück in der Luft. Ich drängte meine Schwester Helene, daß wir wieder zu uns hinaufgingen. Und sie, von einer ähnlichen Stimmung wie ich erfüllt, folgte bereitwillig.
»Nun, wie war es?« fragte meine Mutter.
Wir schwiegen erst eine Weile – dann erwiderte ich wortkarg: »Kandidat Kern hat einen Zobelpelz gekriegt.«
Meine Mutter schüttelte bedenklich den Kopf.