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Wir sitzen in einer weiten hellen Scheune, in einer Vorstadtstraße Tokyos. Nur wenige Sitzplätze sind Fremden eingeräumt. Die Scheune ist voll von Japanern, Männern, Frauen und auch einigen Kindern, die alle auf dem Boden hockend dem Schauspiel beiwohnen. Den Abschluß der Scheune bildet ein Flur, ein Gang, eine offene Halle, kaum unterschieden von dem Raum, in dem wir sitzen, nur mäßig erhöht: es ist die Bühne, die Tribüne.
Langsam und gemessen, in viel zu weiten Seidengewändern, die mit herrlichen Mustern bestickt sind, kommen aus dem Gang Schauspieler auf die Bühne, in deren Hintergrund Trommler und Flötenbläser Platz genommen haben. Die Trommeln sehen aus wie große Stundengläser. 313 Die Trommler betupfen das Fell mit leisen zarten Berührungen der Handfläche, des Handballens. Sie sitzen da, wie erstarrt, wie versunken in irgendeinem Jenseits. Sie begleiten die synkopierten Modulationen des Flötenbläsers mit ihren kleinen dumpfen Taktschlägen, dazu hauchen sie pathetisch klagend, wie in einem Seufzer, von Zeit zu Zeit: Joku!!. . . Oku!! und zwar so, daß sie das O tremolierend aussprechen, langgedehnt, während die Silbe Ku an diesem O wie ein kleines in die Höhe züngelndes Schwänzchen kurz und scharf vibriert.
Auch die Schauspieler, die, mit den traditionellen Masken des Nô-Spieles über den Gesichtern, vorn vor den Reihen der Zuschauer stehen, haben diese klagenden, bald dumpfen, bald schrillen, pathetisch synkopierten Laute, Ausrufe, Gesang.
Alles ist langsam, gemessen, im Takt, in vorgeschriebenen Bewegungen, die zwischen Starre und sakraler Geste abwechseln. Manche von den Schauspielern kommen in ihren zu weiten und zu langen Seidenhosen, zu weiten und zu langen Ärmeljacken mit feierlich vornehmem Getue dahergeschritten. Die Arme, die Beine schleifen den Seidenstoff achtlos ellenlang nach. Andere starren mit ihren Masken, die lächelnd oder grotesk geschnitzt und bemalt sind, stundenlang ins Publikum hinunter, während nur das Spiel ihrer herrlichen Fächer langsam, über ihren Köpfen, unter dem Kinn, weiter agiert. Der Gesang erinnert in seiner Modulierung zuweilen seltsam an orientalische, russische, sogar an synagogale Liturgien. Die Bewegungen aber sind einzig; nirgends und nie gesehen; unvergeßlich dem, der einem Nô-Spiel zum erstenmal beiwohnt –
Die meisten unter den Zuschauern haben kleine Büchlein in der Hand, in denen der Inhalt des Spiels, das sich oben abrollt, angegeben ist. Alle aber kennen diese Stücke, den Inhalt dieser Spiele, ihre Tradition, aus lebenslanger Erfahrung. Es sind höfische, samuraische, religiöse Spiele der alten japanischen Geschichte, Stücke aus der alten Zeit Japans, Themen von schicksalhafter Bedeutung, Einmischung von Göttern und Dämonen in das Leben der Fürsten, der Ritter, des gemeinen Mannes, groteske Spiele auch, die das Leben des Bauers, des Fischers behandeln. Alles geht mit einer unerhörten Sparsamkeit der Bewegung, der Modulation vor sich. Eine Bewegung des Fächers 314 deutet an, daß der Mond scheint; der Ärmel zu den Augen erhoben, heißt: Wind bläst. Eine Blume pflücken, ein Netz aus dem Wasser ziehen, sich mit dem Schwert den Bauch aufschlitzen, dem Gott ein Opfer bringen, auf einem wilden Pferd einen Berg hinaufreiten – kurze, winzige Bewegungen, durch die Tradition vorgeschrieben, in staunenswerter Feinheit wiederholt und abgewandelt. Diese Wiederholung und Abwandlung ist es eben, was das Interesse an dem Nô-Spiel in dem kunstliebenden, der Tradition so inbrünstig ergebenen gebildeten Japaner stachelt: wie wird diese oder jene hundertmal gesehene Wendung im Spiel von dem Schauspieler diesmal dargestellt werden? Wie wird die Trommel, die Flöte diese, jene Geste begleiten? Der Zuschauer ist nicht nur Genießer, er ist auch unerbittlicher Richter. Er hat aber auch das Beste, Edelste, ja man kann sagen Erlauchteste an Schauspielertum vor sich, was Japans Schauspielerkunst und -stand aufweisen kann.
Schauspielerfamilien gibt es in Japan, die seit Hunderten von Jahren der Nô-Bühne ihre Darsteller geben. Es ist eine hochangesehene Kaste. Ihr Leben verläuft sakral, ehrwürdig und der uralten Tradition getreu wie das Leben der Priester. Gesellschaften vornehmer Japaner, Klubs zur Erhaltung, Hochhaltung und Perpetuierung der alten Gebräuche, der Tradition des Nô sorgen für diese Schauspielerelite. Ein Nô-Spiel, eine Nô-Aufführung ist fast Gottesdienst; für den Fremden, selbst wenn er den Inhalt der dargestellten Spiele kennt, ein schwer begreifliches, absonderliches, in seiner Exotik verwirrendes, aber durch die Schönheit, den Ernst und die Vornehmheit des Zusammenwirkens von Laut, Bewegung und Farbe unvergeßliches Erlebnis.