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In der Nacht vom 12. zum 13. Februar stirbt das alte Jahr der Kuh und hebt das neue des Tigers an.
Ausgiebiges Getöse von Knallbonbons verkündet während der ganzen Nacht das Ereignis. Es ist das größte Ereignis des chinesischen Kalenders. Durch das Geknall sollen die bösen Geister aus dem Bannkreise der Menschenstadt verscheucht werden. Denn dieses Fest des 256 Neuen Jahrs ist zugleich ein Versöhnungsfest der Menschen miteinander. Alle Streitigkeiten hören auf. Ja sogar die wilden Generale beordern ihre Armeen von den Fronten zurück und bescheren ihren Soldaten Dollars, Tabak und gebratenes Ferkelfleisch.
Zu Neujahr muß alles geordnet sein, alle Schulden bezahlt, alle Rechnungen beglichen, die irdischen wie die himmlischen, genau wie bei dem Muharrem der Araber und auch wie bei dem Ganeschfest der Inder im Herbst. Fünfzehn Tage dauert das Fest. Während dieser fünfzehn Tage, besonders ihrer ersten Hälfte, stockt Handel und Verkehr. Die Läden sind geschlossen. Die Banken auch. In den Häusern, innerhalb der Familien, auch der ärmsten, wird geschlemmt, werden Feiern zelebriert, sehr irdischer Art. Alle Götter Chinas, die gräßlichsten, geben ihren Segen Tisch und Bett. Den Küchengöttern wird Fleisch, Gemüse und Silberpapier geopfert. Man pflanzt zur Seite des Herds viele Meter hohe dünne Ruten auf, an denen sich dick verzuckerte Mehlklöße und kandierte Kirschen reihen. Die gemütlichen Götzen, die dickbäuchigen, hängebackigen Buddhas der chinesischen Tempel lachen noch verschmitzter um diese Zeit als sonst. Man verbrennt auf ihren Altären noch mehr Silber- und Goldpapier (in der Form von kleinen Silberschuhen und Goldschuhen, der ehemaligen Münzeinheit des chinesischen Reichs). Denn zum Neujahrsfest gesellt sich ja noch ein anderes wichtiges Fest der Chinesen: der Neujahrstag ist nicht nur Geburtstag des Jahres, sondern zugleich Geburtstag jedes Chinesen. Ist einer z. B. Anfang Februar aus dem Mutterschoß gekrochen, so wird er doch am zwölften bereits zwei Jahre alt, und damit dringt das Neujahrsfest in das intimste Privatleben jedes Chinesen ein.
Uns Ausländern, die wir in stetigem Staunen, in einer sich rapid steigernden Verzückung durch das toll daherwirbelnde Leben des chinesischen Neujahrs gehen, bieten sich an allen Straßenecken, aber vor allen Dingen in bestimmten Tempeln und Höfen der Chinesenstadt herrliche Kuriosa zum Kauf dar. Denn, da man eben seine Schulden bezahlen muß, ehernes Gesetz des Neujahrs, verkauft man einfach alles, was nicht niet- und nagelfest ist, ja sogar, wenn es sein muß, die Hausgötter! (Man sieht an dieser kleinen Einzelheit, daß der Sittenkodex des Chinesen ihm über seine religiösen Gesetze geht.)
257 In diesen Tagen tut man gut, mit Kennern Chinas, Pekings und des Neujahrsfestes insonderheit durch die Straßen zu gehen, die Märkte aufzusuchen, von denen jeder am Tage und zur Nachtzeit in einem anderen Stadtteil eingerichtet ist. Es gibt da Märkte für Bronzegötter und Vasen, Schmuck, Jade, kostbare Steine, für Zauberbücher, Messinggerät, alte Waffen, Porzellan, Teppiche, Theaterkostüme, usw. . . .
Bunt und lustig prangt die Stadt. Auch das elendste Haus ist mit roten und goldenen Plakaten beklebt, dekorativen Bildern von heiligen, weisen und mächtigen Männern in prächtiger Kleidung, die das Haus, sein Tor, seine Bewohner beschützen sollen. Kunstvoll geklebte Lampions aus dünnem, bemaltem Papier flattern in den Höfen an langen Schnüren, Fische, Hühner, Kamele darstellend. Alt und jung vergnügt sich auf den freien Plätzen und läßt phantastische Drachen steigen. Die Windrichtung muß sorgfältig beobachtet werden: Nordwind führt Unheil mit sich, Westwind Glück.
Die Straßen mit den fest verschlossenen Läden sind von einem allgemeinen dumpfen Getrommel, Gequäke und Getute erfüllt. Zuerst weiß man gar nicht, woher diese Geräusche kommen, blickt sich erstaunt um nach den Militärkapellen, den Musikkapellen – zum Teufel, wo kommt das dumpfe Getrommle, das dumpfe Getute, das heimliche Gequäke her? Bald wird man inne, daß hinter den geschlossenen Rolläden der Geschäfte getrommelt, getutet, gequäkt wird. Jeder Handelsmann, der es irgendwie erschwingen kann, hat für die Dauer des Festes ein paar primitive Musikanten angestellt, die in seinem Laden Lärm machen, bei Tag und bei Nacht, damit sich die bösen Geister während der Feiertage nicht in den verlassenen Läden festsetzen und die Geschäfte im neuen Jahr beeinträchtigen oder verhindern können!
Am sechzehnten Tage beginnt alles wieder von neuem, Schuldenmachen, Verkehr, Handel, Haß und Verrat, Fronten, Stellungskrieg und wirkliches Geknalle im Dienste der bösen Geister der Menschheit, nicht zu ihrer Verscheuchung wie in der ersten Festesnacht!
Mit einem Freund, einem jungen Deutschen, besuche ich am Neujahrstage den Tempel der Glücksgöttin vor dem südwestlichen Tor Pekings.
258 Eigenartig und anregend wie der Ort, zu dem wir inmitten einer Schar von Fußgängern, Rikschas und Reitern in unserem klappernden Auto hinausfahren, ist mein Begleiter, der junge Deutsche, und sein Anhang. Der Anhang besteht aus einer seiner chinesischen Nebenfrauen und ein paar jungen und jüngsten Chinesen, aus der Familie der anmutigen jungen Nebenfrau. (Die europäische Gattin meines Freundes ist momentan abwesend, indes, sie hat sich allem Anschein nach mit der Verchinesierung des Privatlebens ihres Mannes versöhnt oder abgefunden. In Wahrheit begegnet man solchen, nach europäischen Vorstellungen schwer denkbaren Menagen in China des öfteren – die chinesischen Sitten, chinesischen Instinkttriebe scheinen eine besondere Macht auf den Europäer, der sich nicht von vornherein auf den angelsächsischen Ablehnungs- und Überlegenheitsstandpunkt gestellt hat, auszuüben. Die Chinesen vertrauen – wie ich das noch ausführen werde – im kleinen wie im großen dieser geheimnisvollen, fast unglaublichen assimilatorischen Kraft. Sie haben darum keine Angst vor den Europäern, ob es nun einzelne Individuen oder ganze Völker sind. Ihre Geschichte belehrt sie ja doch, daß sie früher oder später alles, was sich ihnen freundlich oder mit versteckter Absicht genaht hat, verschluckt, verdaut und verarbeitet haben.)
Mein Freund ist einer von den wahrhaftigen Liebhabern Chinas. Wenn er, der den Kontakt mit den großen Kulturströmungen Europas aufrecht erhält, von Fortziehen, Zurückgehen spricht, glaube ich ihm das nicht recht. Wie die Ausübung gewisser Berufe den Menschen innerlich zu einer radikalen Veränderung seiner Lebensweise auf die Dauer unfähig macht, so verwandelt die Atmosphäre Chinas den Europäer im Mark. Er wird, falls er sich wirklich einmal aufrafft, China zu verlassen, an Heimweh zugrunde gehen. In vielen Fällen stirbt er leiblich, noch ehe der Geist Zeit genug gefunden hat, sich recht auf den Schmerz zu besinnen, den ihm die plötzliche Losgelöstheit von dem mythisch seltsamen, unheimlich saugenden Volk des fernen Ostens verursacht.
Wir beide sind also, mit unserer kleinen chinesischen Gefolgschaft, die einzigen Europäer hier draußen in den Tempeln der Glücksgöttin. Jahrmarktsgewühl, Neujahrs-Jahrmarktsgewühl, brandet um den Tempel und seine kleinen Kapellen herum. Fortwährend kommt 259 Zuzug aus der Stadt. Die Bronzebecken im Hof des Tempels qualmen hoch vom brennenden Silber- und Goldpapiergeld. Die Menschenmassen, die in den Hof strömen, sich in den Kapellen verteilen, aus den Höfen ins Freie zurückbegeben, sind munter und laut. Draußen auf dem Feld vor dem Tempel hat man Garküchen errichtet, werden in Buden Papierfische, Blumen aus Samtstreifen, Silber und Goldschuhe aus Papier und die dünnen Sandelholzstöckchen zum Opfer verkauft. Scharen von Bettlern, gar nicht abzuschütteln! Eine Kupfermünze aus der Tasche gezogen, vervielfältigt noch die Bettlerschar, es gibt kein Entkommen mehr, wenn erst das Talaigeschrei um den Fremden in die Höhe steigt.
Ich sehe meinem Freund, der mit seinen literarischen Fähigkeiten eine tüchtige Kennerschaft der chinesischen Kunst vereint und als geschickter Verwerter dieser Kenntnisse gilt, mit steigender Heiterkeit zu: wie er, ein Bündel Sandelholzstäbchen in beiden Händen, vor der Glücksgöttin sich dreimal tief zur Erde neigt, den Kotau der frommen Chinesen beschreibend, wie er sodann die Hölzer an einer brennenden Opferflamme entzündet und mit einem hastig gemurmelten Gebet in das Aschenbecken stülpt. Assimiliert!!
Eine Handvoll Kupfermünzen fliegt in eine Bronzeschale. Nebenan in den Seitenkapellen der mit der Glücksgöttin verwandten Götter niederer Ordnung ist, je nach dem Gewerbe, dessen Gott dort seinen Altar hat, stärkerer oder minderer Verkehr. Ein kleiner, ganz verwahrloster Raum beherbergt den Literaturgott. In dem Opferbecken vor diesem vernachlässigten und schäbigen Popanz, offenkundig siebenten Ranges, haben drei verlorene Sandelholzstäbchen das Qualmen aufgegeben, daneben liegen zwei elende kleine Kupfermünzen in einem dazu bereitgestellten Gefäß. Dieser Gott dahier, oder was er sein mag, der den Namen eines Glückgottes wie zum Hohn führt, dürfte meiner Schätzung nach der Schutzpatron des Zeilenhonorars sein. Vorbei!!
Mit Samtblumen und kleinen bunten Grasbüscheln auf unseren Hüten, Papierfischen in den Knopflöchern und den hübschen, klappernden Trommelstangen mit Papiertrommeln in den Händen bahnen wir uns unseren Weg zum Auto zurück. Das feste Fäustepaar unseres chinesischen Chauffeurs schwingt mit Ruderbewegung durch die neugierigen, lachenden und bettelnden Scharen durch, die noch niemals 260 oder doch nur ganz selten Europäer opfern, Kotau machen, Glücksgras und Samtblumen hinter das Hutband stecken gesehen haben.
Es ist heute ein günstiger Tag, um das berühmte Taoistenkloster Pei Yün Kuan zu besuchen. Es liegt etwas abseits von unserem Wege, im gelben Wüstensand, der Peking von drei Seiten umgibt, und besteht aus einem Komplex von herrlichen, gut erhaltenen Tempeln, für die die mächtige Taoistengemeinde Pekings sorgt. Der Garten, in dem das Kloster mit seinen Tempeln und Wohngebäuden liegt, ist wohl noch winterlich kahl, indes, die sonderbar geformten, zerklüfteten Felsen, die hier aufgestellt sind, die kleinen Wasserläufe, winzigen Brücken, Pavillons, die Bemalung der Holzstrukturen, der Gewölbegänge der Tempel, die fischgrüne und himmelblaue Farbe der glasierten Dächer bringen in das ganze Bild eine fröhliche und gesammelte Kraft, die wohltuend wirkt.
Kloster Pei Yün Kuan ist eines der besterhaltenen, weil wohlhabendsten Nordchinas. Seine Mönche sind sehr gut gekleidet und betteln kaum – jedenfalls nicht so aufdringlich wie die Mönche der Lamatempel, des tibetanischen Klosters im Norden der Stadt, dessen Insassen, wie bekannt ist, verhungern. Pei Yün Kuan ist weit berühmt wegen seines großen Reichtums an herrlichen Statuen heiliger Männer – besonders wegen seiner realistischen Laotsestatue, die aber den »alten Weisen« als noch jungen Mann zeigt, mit wohlgepflegtem Äußeren, hübschem Knebelbärtchen, entfernt an Sombart erinnernd, doch mit weitaus schlauerem Gesichtsausdruck.
In vielen Kapellen sind Götter und Heroen minderen Grades aufgestellt – aber die weitaus berühmteste Kapelle des Tempelbezirks ist jene, in der, in einem küchenähnlichen Raum auf erhöhtem Podest, von einem Fenster nur mäßig erhellt, drei breite, reglose Menschengestalten in weiten, bauschigen Gewändern hocken und dem Tode entgegenleben, Götterstatuen fast in der Pathetik ihrer überirdischen Versunkenheit. Es sind dies die drei überlebenden neunzigjährigen Priester der Taogemeinde.
Vor dem Podium gehen die Besucher leise auf Zehenspitzen vorüber, werfen Kupfermünzen auf die Matten, vor und zwischen die Falten der dunklen, schweren Priestergewänder der Alten. Auf einem Herd 261 nebenan qualmen, in ein Becken gepflanzt, Opferstäbchen. Man weiß nicht, sind sie zu Ehren der drei erstarrten Greise angezündet oder zum Preise der Gottheit, die die Seelen dieser drei so völlig in ihrem Bann hält und verschlungen hat, dieser Drei, in denen durch die mystische Kraft der Yogalehre das weltliche Leben bereits vollkommen aufgehört zu haben scheint, sich verinnerlicht in die Tiefen zurückgezogen hat. Seit Jahren sitzen sie da, vollkommen, vollkommen regungslos.
Lange stehe ich vor den Greisen. Ein Atemzug verschiebt von Zeit zu Zeit leise die Falten eines der drei Priestergewänder; die spitze Mütze auf dem Kopfe des mittleren von den dreien, als Silhouette vor dem Fenster im Hintergrund ausgeschnitten, wankt kaum merklich zur Seite, von einem Atemzug aus dem immer noch pochenden Herzen unter dem Talarberge bewegt. Sehen diese Augen, greifen diese Hände noch? Leben diese Menschen überhaupt, oder sind sie längst tot? Die Seele ist dem Körper weit, weit vorausgeeilt, das ist sicher. Sie zieht eine Funktion nach der anderen aus dem greisen Leben mit sich – in die Tiefe, in die Tiefe.
Draußen in dem Hofe, beim Tor, gewahren wir zwei Erdlöcher, viereckig ausgemauerte Zisternen. An einem Gerüst in ihrer Mitte hängt ein silbernes klingendes Glöckchen. Dahinter sitzt im Schatten ein Mönch, reglos auch er, aber mit lebhaftem Blick dem Flug der Kupfermünzen folgend, die von oben, vom Pflasterrand, von zwei Seiten her, über die Brüstung gelehnte Gläubige oder Andächtige hinunterwerfen. Auch mein Freund, der chinesierte Europäer, betreibt dieses Würfelbudenspiel mit Ausdauer und Geschicklichkeit. Denn: an heiligen Tagen mittels Kupfermünzen das Glöckchen zum Klingeln zu bringen, bedeutet Glück! Man wirft solange Kupfermünzen gegen das Glöckchen, bis man es trifft und in Schwingung versetzt. Der Mönch in der Nische hinter dem Glöckchen sendet zuweilen einen Blick in die Höhe, die Gläubigen, Glückbegierigen ermunternd.
Dieses Glücksspiel oder Glückversuchen ist überhaupt eine der Hauptfunktionen des Gläubigen, der in einem chinesischen Tempel eintritt. Die Gunst der Götter wird durch den frommen Betrug erreicht, daß man in den Opferbecken Silber- und Goldgeld – aber aus Papier! – verbrennt, oft große Mengen, ganze Bündel, ja Körbe voll 262 Silber- und Goldtaels aus Papier! Dann, wenn man dieses Opfer vollführt hat, wirft man Steine, Kiesel, die die Form von Schiffchen haben, mit einem kleinen Schwung, kurzen Knall auf den Boden vor sich hin; Orakel des Hinfallens: wird man gute Geschäfte machen, wird man glückliche Zufälle erleben in der nächsten Zeit, ist einem die Gunst der Gottheit sicher oder nicht . . .?
Im übrigen verwandelt die zunehmende Aufklärung oder Revolutionierung, das Materiellerwerden des drängenden Daseins die Tempel in entscheidender Form. Viele sind überhaupt gar keine Tempel mehr, sondern Lunaparks, in denen Teehäuser, Spielhäuser, Verkaufsstände, Photographenbuden inmitten hübscher, kunstvoll angelegter chinesischer Gärten, mit vielfach gewundenen Wasserläufen, hochgeschwungenen Brücken, zierlichen und zierlich bemalten Pavillons, seltsam verzackten Felsenstücken und Bosketten von Zwergbäumen um eine uralte verfallende Pagode herum errichtet sind. Die Mönche, Wärter dieser Pagoden, nähren sich kümmerlich von Almosen, vom Verkauf des Silberpapiergeldes, der Sandelholzstöckchen, von den spärlichen Kupfermünzen, die in die Opferbecken fliegen, und auch von nahrhafteren Opferspenden, die sie zuweilen vor den Götterbildern vorfinden, kleinen verzuckerten Mehlklößen, gebratenen und mit roter Farbe, der Glücksfarbe, bemalten Hühnern und Ferkeln.
Ich sah Tempel, in denen die beweihräucherten Heiligen des Ortes überhaupt nur mehr als Backschischmaschine, als Lockmittel für die Fremden gelten konnten; gierige Priester lugten aus den Pforten des Tempels heraus, die sie sofort hermetisch verschlossen, wenn von fern ein Fremder herannahte – der dann den Priester bestechen mußte, damit er das Tor öffne.
Im Lamatempel, am Ende der durch die Tatarenstadt Pekings nordwärts gezogenen Straße, wohnte ich einmal der Zeremonie des Gottesdienstes bei. Die armen Lamas! – –
Den Lamas, die aus Tibet und der Mongolei in Peking zusammengeströmt sind, geht es nicht gut. Oft tönen laute Hilferufe durch die chinesische Welt: 7000 Lamas hungern in Peking. Man kann den riesigen Komplex von Gebäuden, aus denen der Lamatempel besteht, kaum mehr erhalten. Pagodendächer, wunderbar geschnitzte und 263 bemalte, stürzen ein. Die beiden großen Nilpferde aus Holz, die überlebensgroßen Denkmäler der Lebensretter des Kaisers, haben Sprünge im Leibe. Von den unzähligen, jahrhundertelang hier verqualmenden Joßstäben geschwärzt, ist die 30 m hohe Buddhastatue kaum noch zu erkennen. Die Gedenktafeln der Kaiser und Gelehrten, die gewaltig aufragenden, dreierlei Schriftzeichen tragenden Marmortafeln auf der steinernen Schildkröte, die friedlichernsten Steingestalten der Heiligen, die sich aus der vollentfalteten granitnen Lotosblume in die Höhe recken, zerbröckeln und fallen dem Vergessen anheim. –
Um vier Uhr nachmittags schleichen aus ihren Wohnhäusern gelbgekleidete Mönche, ältere, jüngere und ganz junge Knaben, zum Zentralaltar herbei. Sie tragen seltsame gelbbraune Raupenhelme auf den rasierten Schädeln, kauern nieder auf Bänken um den Altar und beginnen mit monotonem Gemurmel und Singsang ihren von häufigem Händeklatschen unterbrochenen Gottesdienst. Ziehen die Lamas die Raupenhelme vom Kopfe, so wird auf den graublauen Schädeln ein Gesprenkel ekelhafter Narben sichtbar, die dem oberflächlichen Beschauer als Symptome von Unsauberkeit gelten können. Aber man kann bald erfahren, was diese Narben zu bedeuten haben.
Zur Weihe des Buddhapriesters gehört neben Beten und Klausur die Brennprobe. Auf dem glattgeschorenen und rasierten Schädel des Novizen werden zwölf Holzkohlenstifte in zwei Reihen befestigt und angezündet. Sie brennen allmählich bis zur Haut nieder, brennen auch dann noch fort, brennen sich in die Haut ein, in den Schädelknochen. Wer diese Probe nicht aushält, ist für seinen Beruf ungeeignet und darf nicht Lama werden. Der Sinn dieser Tortur ist wohl: daß der in Gott eingegangene oder verflüchtigte Geist sich ein einigermaßen fühlloses körperliches Gebäude schaffen muß, sonst kann er den irdischen Versuchungen, Lust und Schmerz, nicht widerstehen.
Die revolutionären Gruppen junger Chinesen räumen allmählich – sehr zum Schaden der Schönheit des Landes und des Kults – mit den heiligen Stätten Chinas auf. In manchen Orten, wie Kueilin, hat die reformistische Partei die Götter aus den Tempeln geworfen, wunderbare alte Buddhastatuen zu Brennholz zerhackt. Allerorten hat man aus Tempeln Kasernen und Polizeibaracken gemacht, stellenweise unter parodistischen Zeremonien die Buddhas einfach ins Wasser geworfen oder auf den Misthaufen gestülpt. Das nüchterne, starke und wandlungsfähige Chinesenvolk, das die neue Zeit bewußt und mit schlauem Verstande erlebt, hat ja in den alten Formen seiner Religion auch niemals so sehr die metaphysischen Bindungen verspürt, wie es die mit seiner Religion verknüpften ethischen Begriffe verstanden hat, nach bestem Wissen befolgt oder mit großem Raffinement umgeht.
Sehr bezeichnend ist es, daß eine ganze Anzahl gerade der wichtigsten Tempel Chinas einfach nur Walhallen von weisen, würdigen und im Leben bewährten Männern vorstellen: die sog. Genientempel, Tempel, in denen fünfhundert oder mehr lebensgroße, mit Goldfarbe bemalte Holzfiguren von Schülern Buddhas, angesehenen Mitbürgern, Liebhabern des Rechts, der schönen Künste, der Literatur, der Schulen, der Kinder, in langen Reihen, einer neben den anderen, hingesetzt sind. Man gewahrt hier brave, solide, heitere und behäbige Bürgergesichter, neckisch und liebenswürdig, mit allen Attributen ihres Berufes, ihres inneren und äußeren Bürgerdaseins verewigt, und denkt sich, daß das doch eine stärkere Verknüpfung von wirklichem Dasein unter Menschen ist, als es eine metaphysische Bindung der Religion, in der das Schwergewicht auf einer unbekannten und uns immer schwerer erklärlichen »Gnade« beruht, sein kann.
Auch in dem herrlichen, wunderbar erhaltenen Konfuzius-Tempel in Peking findet sich dieser Gedanke bestätigt. Diesen Tempel hat die Republik zu ihrem weltlichen Gotteshaus bestimmt. Er erhebt sich in der Nähe des verfallenden Lamatempels im Nordosten der Tatarenstadt. Hier, in der wunderbaren roten Halle, die Jüan Schi Kai restaurieren ließ (man kann an dem Gesamtbild dieser Kultstätte am deutlichsten wahrnehmen und ermessen, wie herrlich die Tempel Chinas in der Vergangenheit gewesen sein mögen!), sind keine Statuen mehr, sondern nur kleine Holzsäulen mit Namen aufgestellt. Die größte in der Mitte des Raumes trägt den Namen des alten Meisters Konfuzius, ihm zur Seite zwei kleinere, die Namen seiner Lieblingsschüler Menzius und Yen Tzu tragen. Dann folgen in Abständen an den Seiten je sechs. Diese Namen bilden also Gegenstand und Symbol für die Verehrung, die der chinesische Mensch seinen gottähnlichen Heroen zollt.
265 Wunderbar ist auch die im Tempelbezirk des Konfuzius stehende Halle der Klassiker – hier gewahrt man, in große aufrechte Steintafeln gemeißelt, die klassischen Schriften der schon lange zu Heiligen emporgestiegenen Philosophen.
Wie wäre es, wollte man in europäischen Kultstätten Kant, Nietzsche, Hegel, Spencer, Bergson in Stein gemeißelt in einer Kirche, einer Kultstätte verehren? In dieser Hinsicht wie in manchen anderen sind uns die Chinesen, wie mich dünken will, überlegen und voraus. –
Nur an einer Stelle außer dieser dem Konfuzius geweihten sah ich noch den Kultbesitz des Volkes in voller Herrlichkeit erhalten und bewahrt. Es war in dem kleinen, in der Yangtseprovinz gelegenen Sootschau. Dort ist ein altehrwürdiges Kloster gelegen, das in der Geschichte Chinas zu Vorzeiten eine bedeutsame Rolle gespielt hat. Die Stadt, eine typische Provinzstadt Chinas, weist an der Peripherie einige schöne Pagoden auf. Das Kloster selber aber, mit seinen goldenen Buddhas, seinem wundervoll geschnitzten Himmelsberg hinter dem Hauptaltar, mit seinen fünfhundert goldenen Figuren im Seitenflügel, beherbergt neben den Mönchen, die hier das Heiligtum verwalten, eine ganze Garnison fröhlicher und wohlgenährter Soldaten. Sie vertragen sich mit den Mönchen ganz gut. Es ist das einzige Kloster oder fast das einzige, in dem ich nicht angebettelt wurde. Ich glaube, es waren Wu-Soldaten, die hier hausten. Es mag aber auch eine versprengte Abteilung von Tschang-Soldaten gewesen sein – gleichviel: Mönche und Soldaten haben das Kloster und seine Schätze in bewunderungswürdiger Sauberkeit und Frische erhalten.
In den Westbergen, die sich am Rande der Wüste vor Peking hinziehen, kahl, zerklüftet und abgestorben, tragisch umweht vom Hauche der untergegangenen Kultur, die sich in der Sandtiefe der Gobi-Ebene verbirgt – in der Herrlichkeit, dem erschütternden Zusammenklang von Landschaft, Architektur und Traditionsbesitz der Westberge erhebt sich ein indisch geformter Tempel aus Marmor über endlos steil in die Höhe führenden Treppen. Auf dem höchsten Grat, in der letzten verborgenen Kapelle, ruht ein Mensch, dessen Name wie die Namen jener auf den roten Holztafeln Verewigten, dessen Vermächtnis wie die 266 Schrift der heiligen Philosophenbücher, dessen irdisches Andenken wie das der Erhabensten, Gütigsten und Gottähnlichsten, jener vielmal fünfhundert Genien rings im Land, von den heutigen Chinesen geliebt, verehrt und in den Himmel gehoben ist: Sun Yat Sen.
Die Kapelle, auf dem Grat der Westberge gelegen, blickt weit über die wundersamen Höhenzüge der zerklüfteten Landschaft, weit nach der Stadt in der dunstigen Ferne hinüber, diesem Peking, das eine heilige Stadt genannt werden kann: Jerusalem, Jerusalem des himmlischen Reiches der Mitte. Die mit naiven Papierfähnchen, Papierblumen, Lichtbildern verzierte Kapelle, in der der Sarg des Schöpfers der chinesischen Revolution ruht, ist ein Wallfahrtsort geworden, der den Kultstätten Chinas den Rang streitig gemacht hat, sie mit der Macht irdischer Religion vereinigt zu einem Denkmal des heutigen Glaubens und der heutigen Form der Gläubigkeit erhöht. Die indischen Türme auf dem chinesischen Tempelbau, bedeutsame Landschaft, Nähe der gewaltigsten Stadt des Ostens, Blumen, Felsen, Gebirgsgelände, erhaben lachender Buddha, Torgötter am Fuße der Treppenflucht – eine kleine kristallhelle Quelle, die unter dem Grabe aus dem Felsen entspringt und in Kaskaden die Berglehne hinab sich ergießt – wer faßt das Symbol, die unendliche Herrlichkeit dieser Gedanken der Natur und der Andacht des Menschen vor dem Schöpfer!
Die Westberge bergen noch andere Schätze Chinas, des untergegangenen China: hier steht der Sommerpalast, errichtet an der Stelle der von den europäischen Barbaren »zur Strafe« verbrannten und zerstörten uralten Palastschätze, er zeigt wie ein Gegenbeispiel von irdischer Machtvollkommenheit die Spuren, die die Letzten aus der Mandschudynastie in ihrem Lande hinterlassen haben. Symmetrisch an eine Berglehne gebaut, führen sanft ansteigende Stufen zu einer Halle empor, die über den Teich hinwegblickt: Nischen im Gestein, kleinere und größere Tempel, Pagoden, Pavillons, gedeckte Hänge zeichnen harmonische Flügel und Arabesken auf die Lehne des Berges. Unten laufen lange Galerien zwischen Berg und See dahin. Dies alles ist bunt, kunstvoll und mit unendlicher Zartheit entworfen und ohne ausdrücklichen Prunk doch das Gebilde einer eigenmächtigen Willkür verkündend. Hier glitt die Sänfte jener berüchtigten Kaiserin-Witwe Hsü Tsi leise, unmerklich den Berg hinauf, Stolperte einer von den 267 Sänftenträgern, so wurde er eine Stunde darauf im Beisein der Kaiserin geköpft. Auf leisen Sohlen folgte die Schar der Höflinge der alten bösen Kanaille. Unerhörte Pracht entfaltete sich an der Berglehne, über die die sanften Winde vom Wasser herüberstreichen. Den Tee nahm man in dem berühmten Marmorschiff unten auf dem Wasser ein. Dieses Marmorschiff ist ein Gebilde von ausgesprochener Scheußlichkeit. Es reicht mit seinem Marmorfundament tief in den See hinunter und ahmt an der Wasseroberfläche das Schiffsrad eines altmodischen Flußdampfers nach – aus Marmor! Das Marmorboot, diese Geschmacksverirrung, Machtprobe, kostete ja, wie man weiß, China seine Kriegsflotte. Denn als nach den Bemühungen der Heeresverwaltung, aus Steuern, die das arme Land schwer belasteten, die guten Millionen für Kriegsschiffe, Torpedoboote, Zerstörer und Truppentransportschiffe zusammengebracht waren, klaute die alte Hexe mit ihren langnägligen Fingern die ganze Summe, für die sie sich dann das marmorne Monstrum meißeln ließ. Man kann als Pazifist eine solche Verwendung von Geldern für Zerstörer nur gut heißen, immerhin beweist das Schimmel ansetzende, im See festgebaute Fahrzeug, wie faul es im Staate China war, ehe Sun Yat Sen, dessen Grab vom Berge auch über diesen Sommerpalast herabblickt, sein erlösendes Wort über das erwachende Land rief.
Erhaben und großartig wie die Straße, die durch Tempel, Pagoden, Paläste mancher Art zu dem Grabe Sun Yat Sens in den Westbergen führt, ist ein anderer Weg, aus dem Mittelpunkt der Kaiserstadt Peking hinaus zum südlichen Tor nach einer Kultstätte, wie sie die Welt nicht wieder besitzt.
Ein dreifaches marmornes Terrassenrund, konzentrisch übereinandergeschichtet, in dessen Mittelpunkt der Kaiser, als Sohn des Himmels allein unter allen Sterblichen zu diesem Amt befugt und geboren, einmal im Jahre den Himmel anbetete. Es war neben Neujahr das größte Fest der Chinesenheit, in der eben verflossenen, noch in der Erinnerung junger Menschen lebenden Zeit, da sich das Schicksal des Landes wendete.
Aus der Verbotenen Stadt, die sich heute in eine gegen Eintrittsgeld zugängliche verwandelt hat – aus der im Mittelpunkt der seltsam quadratförmig angelegten Hauptstadt Peking gelegenen, von 268 einem viereckigen Graben und Wall umgebenen Kaiserstadt, führt die gewaltige Straße hinaus in das südliche Gelände. An jenem festlichen Tag des Himmelsopfers wallte auf dem breiten schnurgeraden Weg eine Prozession von irrsinnig machtbewußten, machterfüllten, in wahnwitzige Kostbarkeit goldstrotzender Gewänder gehüllten Würdenträgern und Hofschranzen durch die gelben Tore des verbotenen Palastbezirkes, das rote Tor Tien Men, das die Kaiserstadt erschließt, durch die verstorbene, versunkene, menschenleere Chinesenstadt Pekings. Wohin waren die Millionen geraten, die diese Stadt bevölkerten? Verscheucht, vertrieben, unter Androhung von Todesstrafe in ihre Häuser und Schlupfwinkel zurückgestoßen für die Dauer der erhabenen Wallfahrt des Himmelssohnes zu seinem Gott. Lady Godiva fällt einem ein, hier aber war es Unkeuschheit, – zynisch übermütige, sich Gottähnlichkeit anmaßende irdische Macht.
Heute ist das Bereich des Himmelsaltars dem Verfall geweiht, entheiligt das ungeheure Gebiet um den Altar und den hochgebauten Tempel, zu profanen Zwecken geschändet. Antennen der chinesischen staatlichen Radiostation ragen hier zum Himmel empor. Man kann sie von dem Himmelsaltar aus spitz in die Lüfte stechen sehen. Das ist die neue Zeit, die das Geheimnis des Himmels ihm entrissen hat, nicht durch Gebet, nicht durch Metaphysik, sondern durch die Maschine, den rechnenden Verstand, nüchterne Erfahrung. Nüchtern? Himmelgeboren, metaphysisch, unergründbar auch sie!
Der Altar besteht, wie erwähnt, aus drei ungeheuren Marmorterrassen. Drei Absätze zu je neun Stufen führen zum inneren Kreis der obersten Stufe, dem Mittelpunkt der runden Erde und des runden Himmels. Wer auf diesem mittleren Marmorkreis steht, den Himmel über sich betrachtend, die Zahlen und Geheimnisse zu seinen Füßen, die ihn mit den Gesetzen des Irdischen verbinden, fühlt instinktiv, daß mit dem Zerbrechen der irdischen Gewalt des Kaiserreichs auch die Zeit der Tempel versunken ist.
Sichtlich versunken entschwindet, in Vergessenheit und Vergangenheit, die Verbotene Stadt im Mittelpunkt der Kaiserstadt Peking. Dieses von Gräben und Wall umgebene, gelbe, marmorne, bronzene Viereck hütete jahrhundertelang das Geheimnis der höchsten 269 irdischen Gewalt. Marmorbrücken, hochgeschweift, führen über künstliche kleine Kanäle. Marmorhöfe, ungeheuere baumlose Flächen breiten sich aus, zwischen den Palästen mit ihren herrlich bemalten und lackierten Säulendecken, die von gelbglänzenden Ziegeln überdacht sind – gelb, die Farbe des Kaisers, der weltlichen Macht. Vor den Palästen stehen mächtige bronzene Opferbecken, herrlich ornamentiert und gegossen. Zwischen den Drachen, Löwen, die die Tore der Paläste bewachen, schlendern gelangweilt die Hüter, zur Zeit Soldaten der zweiten Armee Feng Yü Siangs auf und ab, schneuzen sich in die Finger, klopfen sich gegenseitig den Rücken warm, haben an den Hüften die breiten tatarischen Krummsäbel in grell gelben Lederfutteralen baumeln. Eiszapfen hängen von den gelben Dächern. Hier und dort ist eine Ecke des Ziegeldaches eingestürzt. Man kann für einen Dollar einen der schön ornamentierten Dachziegel erstehen und unter dem Mantel versteckt heimtragen.
Hier war der Palast der Kaiserin. Hier der der Prinzen. Diese Galerie beherbergte das Gefolge. Hier eine Kapelle, dort ein Schlafgemach. In jenem Palast der Audienzsaal, in jenem anderen der Raum, darin der Kaiser sich zur Wallfahrt nach dem Himmelsaltar ankleiden ließ. Durch morsche Holzgitter und durchlöcherte Papierfenster blickt man ins kahle Innere dieses, jenes Raumes. Und wenn man sein Eintrittsgeld bezahlt, darf man in diese Halle, jenen Saal eintreten.
Thron, Altar, Lebenszepter, Krönungsmäntel, Teppiche, gestickte Wandbehänge, wunderbare Wandschirme mit aus Elfenbein, Perlmutter, Edelsteinen und Jade eingelegten Landschaften; die zart geschwungenen hellgrauen, blaugrauen, seegrünen, goldgelben, eidottergelben, abendwolkengelben Porzellanvasen; überlebensgroße realistische Darstellungen von Menschen und Tieren auf Reispapier, Behänge gezeichnet, dünne Tuschkontur, sanft lasiertes, plastisch hingehauchtes Fleisch, Kaiser, Staatsmänner und Philosophen, Bildnisse von Lieblingspferden aus dem kaiserlichen Marstall; das seltsame, wundersame Gewirr der kunstvoll aus cloisonniertem Metall, Jadeblättchen, Perlen, Korallenknospen, emaillierten Blumenkelchen, kapriziös zusammengefügten Bäumchen, Sträuchlein unter Glas – Tausende unerhörter, unbeschreiblicher Wunderwerke, über das ganze weite Gebiet der Verbotenen Palaststadt zerstreute Herrlichkeiten sind jetzt in zwei, 270 drei Paläste zusammengetragen, die ein Museum der uralten bewunderungswürdigen Kunst Chinas geworden sind.
Viele Schätze sind seit dem Ausbruch der Revolution verschollen, verschwunden, durch heimliche Kanäle aus der Verbotenen Stadt in die diffuse Tatarenstadt, aus dieser wer weiß wohin in die Welt geraten. Die verarmten Mandschuprinzen leben, so sagt man, heimlich vom Verkauf der von der Volksregierung beschlagnahmten Schätze. Korrupte Beamte gehen ihnen dabei an die Hand. Aber das wundersame einmalige Erlebnis der Verbotenen Stadt, dieser baumlosen aus Marmor, Goldgelb und Purpur errichteten Stätte einer für immer versunkenen Macht, das erschütternde Erlebnis dieser sinister verödeten Flächen, Höfe, Brücken, der Dimensionen, über die das Auge schweift, die den Atem benehmen, – sie raubt kein Menschenwille, keine Verschlagenheit, Korruption. –
Dreigeteilt sind die Marmortreppen, die zu den Palästen emporführen. Treppen in eigentlichem Sinne sind nur die seitlichen Aufgänge. Sie fassen eine schräg emporgleitende Marmortafel ein, die, wunderbar ornamentiert, mit Wolken, Schlangen, Drachen und phantastischen Gebilden von Ornament gewordenen Fabelwesen, an die Mondsteinpforten indischer Tempelstätten erinnern. Über die Treppe rechts und links ließen sich die Machthaber auf ihren Sänften tragen, die mittlere schräge Platte aber, die mit solch unendlicher Kunst und Zartheit gemeißelte schräge Marmorplatte, war die Geistertreppe. Über sie schwebten unsichtbar die Geister der verstorbenen Kaiser, der verstorbenen Machthaber, der verstorbenen Philosophen, Asketen, Weisen, Staatsmänner und Genien von den Höfen empor in die Paläste, aus den Räumen der Paläste hinab in die Höfe. Ruhelos irrt der Gespensterschwarm der Vergangenheit, jetzt gebannt, über die Marmorplatte auf und nieder . . .
Die Geistertreppe!
Wunderbares, altes, auf ewig versunkenes China!
Um den Bezirk der Verbotenen Stadt zischt und schäumt der Verkehr des Millionen beherbergenden Peking. Von ragenden roten Mauern umgeben die Tatarenstadt, um das kleine Viereck der Verbotenen 271 ein großes Viereck zeichnend, und dann weiter, diffus um dieses große Viereck ins Land hineinreichend zu den Westbergen, lang nach dem südlichen Wüstenstrich hinuntergereckt, mit riesigen Toren, dräuenden Festungsbauten hoch in die Luft: die Chinesenstadt des mächtigen geheimnisvollen urewig lebenden Peking. Pagoden erheben sich hier und dort in der weißbläulichen Winteratmosphäre. Von einer, die in der Form einer Flasche erbaut zwischen drei kleinen künstlichen Teichen unmittelbar im Westen vor der Verbotenen Stadt sich erhebt, ist die Struktur der Stadt deutlich zu überblicken. Von diesem erhöhten Punkt aus betrachtet ist Peking ein methodisch in Würfel zerteiltes, von zahllosen Mauern in kleine Stücke eingefaßtes Gebilde. Wären die Mauern, die Vierecke nicht so einförmig gelbgrau, hie und da von winterlich mattem Grün übersprenkelt, man könnte von einem Schachbrett sprechen, so methodisch ist die Stadt errichtet. Gelegentlich nur wird die Symmetrik der Wälle, Mauern, Türme und schnurgeraden Straßenzüge, das Kreuz und Quer des Stadtplanes unterbrochen durch Hügel, durch jene künstlichen Teiche, die mit Inseln, Pavillons, hochgeschwungenen Brücken die Ruhe des Gesamtbildes durchbrechen.
Hier ist der Winterpalast mit seinen drei Seen. Im Inselpavillon des mittleren wohnt jetzt der Große Lama aus Tibet. Nördlich von der Flaschenpagode ist der sog. Kohlenhügel aufgeschüttet, ein künstlicher Berg mit Pagode, Tempel und reichem Baumbestand, der die Verbotene Stadt, Wohnstätte des Kaisers und seiner Familie, gegen die bösen Geister des Nordens schützen sollte. Der Norden gilt dem Chinesen überhaupt als die unheilbringende Himmelsrichtung. Von dort kommt alles Ungemach, der Winter, die Sandstürme aus der Wüste, dort im Norden ist eine Welt unter Wüstensand verschüttet. Von dort wird die Zerstörung dem Reiche nahen und seiner Herrlichkeit: Peking, der heiligen Stadt, die sich gegen Barbaren ringsum durch Wälle, Türme und Tore geschützt hat wie Jerusalem.
Das chinesische Haus schützt durch seine Lage, seine spezifische Bauart die Einwohner ebenso bewußt gegen den Einfluß böser Geister, die von außen das Haus umkreisen, wie die Stadt es durch diesen künstlich aufgeworfenen und getürmten »Kohlenhügel« tut. Der 272 sonderbarste Bestandteil des chinesischen Hauses, der dem Fremden zuerst auffällt, ist eine Wand, die sich unmittelbar hinter dem Tor erhebt und dem von außen Nahenden den Einblick ins Innere von Haus und Hof verwehrt. Diese Mauer hinter dem Tor ist zumeist mit Sternbildern bemalt und gesprenkelt, es ist die Gespenstermauer, die die bösen Einflüsse auf den Straßen marodierender Geister aufhalten und diese vor dem Eindringen zurückschrecken soll. Die Lage des chinesischen Hauses ist durch Gesetze der Himmelsrichtung diktiert, seine innere Struktur durch Aberglauben, Vorschriften aus alter Zeit, von denen man nicht weiß, sind sie religiösen Ursprunges oder von Erfahrungstatsachen vorgeschrieben, vorgezeichnet. Eine einzige Vorschrift der Tradition, die bei dem Bau des Hauses außer acht gelassen wurde, vermag die Geister derartig zu erzürnen, daß Unheil und Tod sich über die Bewohner, die an ihrem Schicksal keine Schuld zu tragen wähnen, niedersenkt. (Eine falsch angelegte, der Tradition widersprechend laufende Straße kann in China leicht zu Todfeindschaft und Vernichtungskämpfen zwischen Dörfern und Städten führen, die eine solche Straße verbindet.) Sicherlich sind die Proportionen und Dimensionen der Stadttore von ähnlichen okkulten Gesetzen der Masse und des Gleichgewichts festgesetzt, wie man sie z. B. in den Geheimschriften über die Pyramiden Ägyptens, die gotischen Bauten Frankreichs, Deutschlands und Spaniens vorgefunden hat (das Tor von Notre-Dame!).
Und damit ist das Charakteristische von Peking gegeben: die Atmosphäre des Geheimnisvollen, die um diese äußerst heutige und von heutigstem Leben erfüllte Stadt webt. Ja – wie das heutige Jerusalem, in dem sich ja auch ein Gegenwartsschicksal uralten Volkes erfüllt, birgt Peking die Schwere bis in nebelhafte Vorzeit zurückreichender Glaubenskräfte.
Zwischen den sich in rechten Winkeln schneidenden kleinen und großen Straßen der Tatarenstadt, in den regellos gekrümmten Bazarstraßen der südlichen Chinesenstadt – welch ein Gewimmel Asiens, Gemisch von seltsamen halb- und ganzbarbarischen Stämmen, Horden, Rassen, aus Tibet, aus der Mongolei. Die derbknochigen Gesellen mit ihrem öligen Haar, spitzen, gelbbraunen wattierten Mänteln, Mützen 273 und Schnabelschuhen, wie in Dardjiling. Dromedar-Karawanen ziehen durch die Tore herein; die langfelligen Tiere schleppen Kohlensäcke aus den Bergen in die Stadt. Zwischen den in stumpfes Grau, Blau und Schwarz gekleideten Bürgern und Kulis, den Rikschas und Automobilen schieben, stoßen Wasserträger ihre knirschenden Einradkarren vorwärts. Mit raschen Pferdchen bespannte Wägelchen rollen daher: Polizisten – zwischen ihnen, die Arme auf dem Rücken zusammengebunden, ein verwegener Bursche. Die Stadtpolizei mit ihren breiten, gelben Schwertern versieht ihren Dienst. Trupps der gutgekleideten, munteren und wohlgenährten Besatzung, der Zweiten Armee marschieren, christliche Hymnen im Chor singend, breitbeinig durch die Straßen. Vor den Häusern der Vororte kleine Kinder auf dem Schoß ihrer Mütter, Gesichtlein, Wänglein karminrot geschminkt, mit grellen Tupfen bemalt; welche tragen Halsbänder wie Hunde – vor Hunden ängsten sich die bösen Geister, sie werden die Kinderchen in Ruhe lassen! An einer Straßenkreuzung der Straßenbarbier seift einem Alten den Kopf ein, rasiert ihm Haupthaar und Bart weg, putzt ihm mit kleinen Zangen, Schwämmchen und Stäbchen Ohren, Nasenlöcher und sogar das Innere der Augenlider. Hochzeitszüge mit zirkusmäßig uniformierten grellen und lauten Kapellen vorn und hinten drängen sich durch die belebten Avenuen der Stadt. Prunkvolle Leichenzüge, wie ich sie in keinem anderen Orte Chinas sah, schwer und wuchtig durch den mächtigen Verkehr der Hatamen-Straße, Trambahnen, Wagenverkehr aufhaltend, Fußgängermassen zu beiden Seiten des Weges aufstauend. Vierundsechzig Träger schleppen das große bunte Gebäude des Sarges – vierundsechzig nach den heiligen Formeln des Zauberbuches Itsching. Die großen schweren Stangen, Baumstämme, auf denen der Sargbau ruht, schwanken auf den Schultern der Träger und dringen unwiderstehlich voraus in die Menge, in die Seitengassen ein. Hie und da geschieht es, und das hat seine guten Gründe, daß die Träger eines solchen Sargbaues mit ihren Stangen wild in ein kleines Haus, in die Mauer eines Hauses, in die Gespensterwand eines Hauses einbrechen, Wand, Mauer, Haus demolierend. Man darf gegen sie nicht vorgehen, denn es ist ja ein Totenzug. Manche Blutrache wird auf solche Weise geübt.
Hier vereint sich der unbekannte Osten, die versunkene Kultur des 274 Wüstenostens, mit dem zivilisierten, von europäischen Einflüssen verwandelten Küstenrand Hongkong, Schanghai, Tientsin, Dairen. Die Zivilisation Europas, Amerikas streckt nur widerstrebend und zögernd ihre tastenden Finger aus nach dem Inneren der Chinesenstadt. Dafür ist, in der Mitte zwischen der nördlichen Tatarenstadt und der südlichen Chinesenstadt Pekings, ein Gebiet ausgespart, das, ein Fremdkörper im Fleische der Hauptstadt der Republik, der ehrwürdigen Stadt des Chinesenvolkes, wie eine Art Schamien daliegt, von einer hohen Mauer umgeben, aus der Schießscharten nach allen Seiten hinauslugen über ein künstlich niedergelegtes Glacis – weite Schußflächen, die um dieses Gebiet, das Gesandtschaftsviertel, geschaffen wurden dadurch, daß man verkehrsreiche Straßen ringsherum zerstört, einfach vom Erdboden wegrasiert hat.