Arthur Holitscher
Das unruhige Asien
Arthur Holitscher

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Ein Nachmittag in Macao

Was soll man zu Macao sagen, diesem portugiesischen Städtchen, vierzig Meilen westlich von Hongkong, an der Inselmündung des Tschukiang gelegen, zu diesem berüchtigten Plätzchen mit dem nach Kartenmischen und Chipsgeklapper klappernden Namen, das nachweisbar die älteste Fremdenkolonie, Niederlassung oder Eroberung in dem großen, hilflosen China vorstellt?

Sicherlich war zuerst der Abenteurergeist, der unersättliche Drang nach dem Neuen, Ungekannten, das sublime Lebenselement der Gefahr da, ehe sich die seßhaften, im Westen Europas verbliebenen Machthaber ihrer bedienten, um sie für Raub, Plünderung, tückischen Mord auszunutzen. Diese Portugiesen, die sich hier vor einem halben Jahrtausend, auf öder, von Piraten umschwärmter Landzunge niedersetzten, angeblich, um ihre naßgewordene Ladung ein bißchen an der Sonne zu trocknen, sind jedenfalls als ganze Kerle anzusprechen, denn da saßen sie nun plötzlich, mitten im Meer, auf dem östlichen Kontinent von einem unbekannten, rätselhaften Volk umbrandet, nicht anders als Sindbad auf der schreckhaftesten seiner Inseln, und sind bis auf den heutigen Tag nicht weggespült worden!

Auf einer Anhöhe über dem Städtchen steht eine Steinkulisse, die Renaissancefassade der längst abgebrannten Pauls-Kathedrale; an der Spitze der Landzunge aber gewahrt man einen kurzen dicken Turm, der seit fünfhundert Jahren ungestört und mit von Zeit zu Zeit verbesserten optischen Mitteln Strahlen aussendet, der erste Leuchtturm, der über dem chinesischen Meer sein Licht kreisen ließ.

Wenn man in den niedlichen Hafen einfährt, in dem alles putzig und spielzeughaft nett ist, gerät das Zwerchfell in angenehme Erschütterung. Denn es stehen tatsächlich zwei lebensgroße Kriegsschiffe der portugiesischen Republik da, an Bojen gebunden, sie 203 haben ihre Flaggen gehißt: blau und rot, vertikal geteilt, in der Mitte mit einem Medaillon, darin allerhand Heraldisches wimmelt, und sie haben, diese Miniaturungetüme, ihre Kanonen auf die Fleischerläden und Fischweiberstände der bunten Uferreihe angelegt, um wahrhaftigen Gottes zu schießen, wenn China ihnen ihre Landzunge abzwicken sollte!

Außerdem liegen da etliche Dutzend Sampane, Fischerbarken und Frachtkähne, die ebenfalls mit Kanonen gespickt sind; ein Boot hat ganze acht Stück nach allen Seiten gezückt, gegen die Seeräuber, die ihm die Fische und Kokosnüsse wegnehmen wollten und das Boot dazu. Die Barken sind uralt, über die Mündungen der Geschütze sind Kappen aus Wachsleinwand gezogen, aber es stimmt: die Gewässer des Tschu-kiang, d. h. des Perlflusses, sind von allerhand Gesindel bis auf den heutigen Tag unsicher gemacht, sogar unser Schiff, ein völlig seefester, ausgewachsener Küstenfahrer, mit dem wir aus Hongkong hergefahren sind, war mit eng vergittertem Deck, runden Eisentürmen und Schießscharten gesichert, hinter den Schießscharten spazierten blaubärtige indische Sikhs herum, Revolver, Schießeisen, Maschinengewehre waren auf das Wasser, die Inselufer, nicht zuletzt aber auf die Passagiere selbst gerichtet, denn es war vorgekommen, daß allem Anschein nach harmlose Passagiere mitten auf der Fahrt dem Kapitän und Maschinisten sowie den Mitreisenden plötzlich »Hände hoch!« ins Gesicht brüllten und dann Besitz vom Schiff und der Kasse genommen hatten. –

Unten im Städtchen knallt es beträchtlich. Das aber hat seine ganz plausible Ursache. Seit Hongkong Macao seinen Rang als Seehafen abgelaufen hat, konzentriert Macao seine industrielle Tätigkeit auf die Herstellung von Knallbonbons, Neujahrscrackers, allerlei geräuschvolles Feuerwerk, das ein wesentlicher Bedarfsartikel des licht- und lärmlüsternen Chinesen ist. (Kein unbedenklicher Erwerbszweig! Wenige Tage nach meinem Besuch fliegt in Macao eine Crackerfaktorei in die Luft – vierhundert Tote.)

 

Crackers heißen auf Portugiesisch Pivetes; Barbier Barbeiro; Schuster Sapateiro; das ist hier an der portugiesischen Spitze Chinas zu lernen. Straßennamen: Rua do Infante; Travesso de Mercadores; 204 Pateo de Tercena; Calcada de Arzavem – Gedichte von Straßennamen, herrlich! die kleine, schmutzige Rinnsale der ärmlichen Chinesenstadt mit der Muttersprache Camões' übertünchen. (Camões war eine Zeitlang hierher verbannt, schrieb in einer Höhle vor Macao die Lusiaden.)

Man bemerkt auch gute, runde, dicke portugiesische Soldaten, Khakihosen um ihre zu kurz geratenen Beine; sie verständigen sich mit den Chinesen auf freundliche Weise, durch zehn Finger vor die Nase Halten, Mienenspiel und schließlich durch kleine Nickelmünzen, die der Chinese grinsend einsteckt. Die Portugiesen zahlen ihre »Kolonialtruppe«, scheint es, recht gut, das Einvernehmen mit der eingeborenen Bevölkerung soll nichts zu wünschen übriglassen. –

Im übrigen gibt es eine Uferstraße, Praja genannt, die samt dem Stadtpark, in den sie mündet, in jedem kleinen Küstennest des lateinischen Europas gelegen sein könnte, und eine Hauptstraße mit Arkaden, die, da ich nie in Portugal war, mich an Verona erinnert.

All dies kann man, in einer Rikscha dahinrollend, in einer halben Stunde gründlich gesehen haben. Wozu fährt man aber nach Macao, wenn man dort keine dringenden Geschäfte zu erledigen, Fische oder Crackers zu kaufen hat? Der Name der Stadt gibt Antwort: Macao, das Spiel, diese Stadt ist eine einzige Spielhölle!

In drei großen Läden der Hauptstraße, unweit vom Senat, rufen pathetische Anreißer in einem liturgisch klingenden Singsang Lose für die nächste Woche stattfindende Lotterie aus. Die Läden sind voll von allerhand armseligem Volk, das dem Ausrufer die Zettel aus der Hand reißt. Die Zettel kosten einen Vierteldollar mexikanischer Währung, die Ziehung vollzieht sich, wie in Italien, unter den äußeren Formen eines Volksfestes. –

Die Portugiesen beziehen erkleckliche Einkünfte aus dem Laster ihrer Kolonie. Wenn sie den Verkauf von Mah Jongg-Würfeln besteuert haben, muß sich ihr Gewinn auf Millionen belaufen! Wenn ich sage, daß ich durch ein paar Gäßchen gegangen bin, die von einem in den Häusern vor sich gehenden Mah Jongg-Geklapper buchstäblich bis zur Betäubung erfüllt waren, wird mir's keiner glauben, der nicht in Macao gewesen ist. Es ist aber so. Einige Tore standen offen, man sah schwelende Joßstäbchen vor golden aufgeputzten Ahnenaltären, 205 und davor hantierten um einen Tisch junge Mädchen und Wasserpfeife rauchende alte Frauen mit allen zehn Fingern in dem Bambuswürfelhaufen. (Nach Ladenschluß kann man übrigens dasselbe Geknatter in den Bazarstraßen Hongkongs, Cantons, Schanghais hören. Wo nicht Mah Jongg gespielt wird, spielt man mit Würfeln, Münzen, Elfenbeinblättchen, die chinesische Karten vorstellen, die Chinesen sind ein Spielervolk.)

 

Die letzten Stunden vor der Abfahrt meines Dampfers verbringe ich in einem der Fan Tan-Häuser, in der Nähe des Landungsplatzes.

Fan Tan ist das beliebte, berüchtigte Glücksspiel der Chinesen. Ein primitives Spiel: 1, 2, 3, 4 – man kann auch auf eine Ecke, das heißt 1 und 4 oder 2 und 3 setzen.

An einem langen Tisch sitzen die Kassierer, die die Sätze mit Metallplaquen, Elfenbeinstäben, roten und schwarzen Kugeln bezeichnen. Sie bewegen sich kaum, nur die Augen wandern im Kreis, die Hände aber sind in fortwährender, bedächtiger Tätigkeit, mit langsamen, zarten Gebärden, die ich an den Händen der Jadeschnitzer, der Elfenbeindreher beobachtet habe. Hie und da schneuzen sie sich oder beugen sich von ihrem erhöhten Sitz, um umständlich auszuspucken, – sonst aber sind es Götzen, versteinert, in der ehernen Gleichmäßigkeit der Regeln. Eine völlig geheimnisvolle Figur ist der Spielleiter, das Schicksal, der Geist und Stadtgott Macaos. Auf erhöhtem Sessel sitzt er und hat auf dem Tisch vor sich einen großen Haufen blanker, abgenutzter runder Nickelplättchen aufgestapelt. Beginnt ein Spiel, so greift er langsam, unwiderruflich, mit beiden Händen in diesen Haufen, hebt ein Häufchen auf, legt es beiseite, eine umgestülpte Schale darauf, um dann, sobald die Sätze gelegt sind und die Kassierer in melancholischem Ton auf Chinesisch »Rien ne va plus« gerufen haben, die Schale sanft und endgültig von dem Häufchen zu entfernen. Sodann beginnt er die Münzen mittels eines Stabes langsam und äußerst methodisch aus dem Haufen an sich heranzuschieben. Bleiben zuletzt vier übrig, so hat diese Zahl gewonnen, und zwar das Vierfache des Einsatzes, 1 und 4 aber das Doppelte, usf. Es ist ein primitives Spiel, man kann es in kürzester Zeit erlernt und dabei seine Barschaft vervierfacht oder eingebüßt haben.

206 Das Interessante aber an Fan Tan ist nicht das Spiel selber, sondern der Kerl, der sich unweigerlich neben dem Spielleiter aufgepflanzt hat und bereits einige Sekunden, nachdem die Schale von dem Häufchen entfernt worden ist, mit geübtem Adlerblick, der schon fast der Blick eines Hellsehers ist, das Endresultat erfaßt und uns, die wir auf der Galerie sitzen, mit seinen Fingern gezeigt hat: 1 oder 4, 2 oder 3 hat gewonnen! Wie der Bursche das zuwege bringt, ist mir unerfindlich. Es muß eines von den seltenen eingeborenen Talenten sein. Nur ein geringer Schritt weiter, und er hat die Zahl noch vor »Rien ne va plus« erraten und wird mit der Zeit zum Stadtgott erhöht.

 

Soldaten, Frauen und Europäer sitzen auf der viereckigen Galerie, die in ihrem Ausschnitt genau der Form des Spieltisches unten im Saal angepaßt ist, um den sich die Plebs von der Straße herandrängt.

Dies hier ist:

»Yü Lings First Class Gambling House«.

Nach einigem Suchen – jedes dritte Haus Macaos ist ein First Class Gambling House! – fiel ich in diese Hölle. Oben auf der Galerie, über dem Tisch, sitze ich an der Brüstung, neben mir eine chinesische Spielratte, etwas weiter weg zwei junge Europäer mit einer vor Spiellust und Geilheit verkrampften französischen Kokotte in ihrer Mitte. Wir alle spielen mit Ernst und Hingabe. Jeder hat vom Büfett Yü Lings eine kleine Tasse mit Konfekt und eine mit gerösteten Lotosblumenkernen vor sich hingestellt bekommen. Es gehört zum guten Ton, daß man die Lotosschalen nicht auf den Spieltisch hinunterspuckt.

Beginnt ein Spiel, so schwenkt der Galerie-Croupier ein an langer Schnur baumelndes Bastkörbchen mit geschicktem Schwung an die Brüstung zu dem Spieler hinüber, der es im Flug erfaßt, seinen Einsatz hineinlegt und dem Croupier dann mit den Fingern anzeigt, auf welche Zahl er zu setzen wünscht.

Der Croupier wiederholt dann in melancholischem Ton:

»To Tolla Namba Tli!«

(das heißt »zwei Dollar auf Nummer drei!«) singt darauf etwas Melancholisches zum Kassierer in den Saal hinunter und läßt das Körbchen 207 an der langen Schnur auf den Spieltisch schweben. Hat dann »Namba Tli« gewonnen, so kommen im Körbchen acht Dollar heraufgeschwebt. –

Diese Häuser sind allen zugänglich, nur Kindern nicht. Es ist ein unaufhörliches Kommen und Gehen. Hinter mir ist mein Rikschakuli hereingekommen, ich sehe von oben zu, wie er spielt, und er grinst zu mir herauf, sooft er etwas gewinnt.

Die ganze Stadt eine Spielhölle! Macao! Ich glaube indes nicht, daß die Bevölkerung darum verworfener ist als in irgendeiner anderen Hafenstadt. Es kann, wer da mag, ins First class gambling house herein und aus ihm wieder auf die Straße hinaus. Es gibt nicht viel Mord und Totschlag darum. Die Lust an dem Verbotenen würzt den Genuß nicht (beim Opiumrauchen nebenan verhält es sich anders). Sogar eine gewisse Spielerethik entwickelt sich an solchen Orten. Man vertraut, wenn man für eine Zeit anderwärts beschäftigt ist, dem Kassierer einen Betrag an und findet ihn nach seiner Rückkehr vor, vergrößert, vermindert oder auch gar nicht.

 

Wie ich Yü Lings Haus verlasse – die drei Europäer spielen weiter, das Weib, ihre Brüste an die Brüstung gequetscht, wie der Teufel! – bin ich so ziemlich blank. Ich habe noch etwa zwanzig Minuten Zeit bis zur Abfahrt meines Schiffes. In den Gassen dunkelt es bereits. Die rötlichen Joßstäbchen vor den Hausaltären der Mah Jongg-Spielerinnen sind glimmernde Feuerfünkchen in der Finsternis.

Sonderbar – woher die vielen blinden Bettlermädchen, die an die Häuser gelehnt in den Gassen hocken, singend zu einem Saitenspiel, das ihre armen dünnen Finger rühren! Schon an dem siebenten armen Kind komme ich vorüber. –

Plötzlich schrecke ich auf: nicht möglich! Es kann doch nicht schon sechs sein?

Sechs dumpfe Schläge der Domglocke, in schwebenden Wellen über die kleine Stadt. Ich ziehe die Uhr – es ist erst halb. Ich sehe, wie einige Chinesen stehenbleiben, sich bekreuzen. In einem Konfektladen die portugiesische Verkäuferin schlägt ein Kreuz, senkt den Kopf.

Auf dem Schiff erfahre ich dann: die sechs Schläge waren die »Agonia«, ein alter Brauch; liegt in der Stadt ein Christenmensch im 208 Sterben, so eilt ein Freund oder Familienangehöriger zum Domküster, und der läutet die schwere Glocke; wer in der Stadt die sechs Schläge vernimmt, betet ein Stoßgebet für die arme Seele, die aus diesem verworrenen Erdental empor zum himmlischen Hafen zu entschlüpfen sich bereit macht.

 


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