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Das Leben hat mich gelehrt, ersten Eindrücken unbedingt zu trauen, auch wenn es Eindrücke sind, die der Anblick scheinbar geringfügiger Dinge hinterlassen hat. Dies gilt nicht nur für Individuen, sondern auch für Städte, Länder, Völker.
Über die allerersten, ästhetisch-skurrilen Erlebnisse nach meiner Ankunft in China habe ich im Hongkong-Abschnitt einige Worte gesagt; die Pole: Hochzeit, Begräbnis. Zwei Wahrnehmungen aber, die mir zuerst unwesentlich erschienen, halte ich jetzt, nachdem ich mich den zweiten Monat in China umsehe, für wesentlich und entscheidend.
In Hongkong, besonders aber in Canton fiel es mir auf: in kleinen Läden der Bazarstraßen, in die nur selten ein Kunde sich verirrte, saßen oft zehn oder zwölf Chinesen herum, die Wasserpfeife rauchend, oder in einem Aschentopf umstierend, schwätzend, spuckend, müßig; am Abend aber hockten alle um eine Reisschüssel, dicht beisammen, um mittels Stäbchen den Reis rasch in sich hineinzuschaufeln; dann, 233 wenn die Rolläden zu und der Arbeitstag um war, hörte man auf die Straße heraus das wilde Geklimper und Geklapper der Mah-Jongg-Würfel, ein heftiges Geräusch, das darauf schließen ließ, daß die ganze müßige Bande drinnen im Laden weiter versammelt geblieben war.
Was taten die zehn, zwölf Faulpelze den ganzen lieben Tag? Selten oder nie kam ein Käufer in den kleinen Laden, um einen Pantoffel oder einen Schlüsselring oder ein kleines Jadeohrgehänge oder eine Messingpfeife zu kaufen: den dürftigen Kram, der in dem Laden feilgehalten wurde.
Und der andere Eindruck, besonders in dem für China charakteristischen Canton: ganze Straßenzüge mit gleichförmigen Läden, Tür an Tür die Seidenhändler, Tür an Tür die Elfenbeinschnitzer, noch andere Straßen: Tür an Tür die Fächermaler, usw. Jedes Gewerbe lokalisiert auf eine, zwei, drei kurze oder lange, enge Straßen, weiß Gott nicht sehr vorteilhaft in bezug auf das Heranziehen von Käufern, denn die Konkurrenz unter den Nachbarn war ja grimmig evident!
Mit diesen Wahrnehmungen hatte ich, wie mir später offenbar wurde, die beiden wichtigsten und entscheidendsten Wesenselemente der chinesischen Gesellschaftsordnung berührt. Die zwölf Müßiggänger, die in den kleinen Läden herumgingen, waren eine Familie – die Familie. Die Konkurrenten Tür an Tür in der engen Gasse repräsentierten: die Gilde.
Kein Mensch kam in den Laden, um zu kaufen. Die Familie schaufelte demzufolge aus dem gemeinsamen Reistopf täglich weniger Reis heraus. Die Gildenstraße war auch nicht sehr durchflutet, oft war ich der einzige, der, von gierig erwartungsvollen Blicken aus allen Läden verfolgt, durch die Straße schlenderte (ohne zu kaufen).
Die Familie und die Gilde!
Die Umwandlung, eben durch den Umstand, daß niemand in die Läden tritt, der Reistopf leerer und leerer wird, die Schaukästen mehr und mehr verstauben – das Problem der Umwandlung, d. h. die zunehmende Erschütterung der Grundpfeiler, auf denen sich das jahrtausendalte Gesellschaftsgefüge Chinas erhebt! –
Die Familie ist die primitivste Grundlage der chinesischen Gesellschaft. Aus ihr erst entsteht die Gilde. Die Verbindung zwischen Familie und Gilde wird offensichtlich, wenn man erfährt, daß bestimmte Kunstzweige, Gewerbearten jahrhundertelang sich in einer Familie fortgeerbt haben, daß z. B. die Zubereitung eines bestimmten Lacks und seine Verwendung Geheimnis einer einzigen Familie gebildet haben, die dann in der Gilde ihre überwiegende Macht behaupten durfte; daß auch gewisse geistige Funktionen, hervorragende Fähigkeiten sich oft an eine Familientradition knüpften und daß kommunale und staatliche Funktionäre vermöge ihrer Familientradition einen Vorsprung bei der Besetzung wichtiger Stellen im Staate behielten.
Man erzählte mir, daß, so wie ein Laden gleich eine ganze Familie beherbergt, ob die Einkünfte dies ertragen oder nicht, bis in die neueste Zeit hinein auch öffentliche Ämter unter diesem Familienprinzip des chinesischen Sittenkodex besetzt werden. Der Nepotismus treibt inmitten der beträchtlichen Korruption des chinesischen Gemeinschaftslebens sonderbare Blüten. Tritt z. B. eine Regierung ab – eine von den ephemeren Provinzial- oder Zentralregierungen –, so verschwindet mit dem Minister gleich das ganze Ministerium. Brüder, Vettern, Neffen und ihre Kindeskinder verlassen fluchtartig ihre Ämter, die dann sofort von dem neuen Minister mit seiner gesamten Sippe gefüllt werden. –
Wo die Stadt aufhört, wo sie anfängt, ringsum auf den Feldern: kleine und große Maulwurfshügel – die Gräber der Familien. Große Hügel: Väter, Mütter. Ein Gewimmel von kleinen Hügeln: Kinder, entfernte, arme Verwandte. Aber immer die ganze Familie beisammen. Schmucklos die meisten dieser Hügel, aber doch gepflegt, denn die Geister der Ahnen, die Geister der Abgeschiedenen schweben ja flimmernd über dem Sand, dem Gras, dem Baumrund, über die Steinkrone hin. Indes: wenn man, um leben zu können, in immer engerem Kreise um diese Hügel herumpflügt, um mehr Bohnen, Kraut, Gemüse für die tägliche Nahrung aus dem Boden herauszuholen – sucht man dagegen aus jenen kleinen übervölkerten Kramläden hinaus, in immer weiterem Umkreis, Arbeit außerhalb des ererbten Gewerbes für die Familienmitglieder zu beschaffen, die die schmaler werdende Ration des gemeinsamen Reistopfes nicht mehr sättigen kann. Die neue Zeit, ihre Not rüttelt an den Grundfesten der chinesischen Gesellschaft. –
235 Das Gilden-, d. h. im Grunde das Gewerkschaftswesen ist in China uralt. Es reicht bis in frühe Jahrtausende v. Chr. zurück, in eine Zeit, die wir Europäer prähistorisch nennen müssen. (Hier ist nicht der Ort, die unendliche Reihe der Gesellschaftsformen vom reinsten Kommunismus hinunter bis zur tiefsten Feudalwirtschaft aufzuzählen, die China in seiner unerhört lehrreichen Geschichte aufzuweisen hat.)
Das Gesicht der chinesischen Gilde wird durch dieses kompakte Beisammensein, dieses Tür-an-Tür-Wohnen und Lauern der einzelnen Gewerbe und der sie Betreibenden bestimmt. Zur Pflicht der Gilde gehört von uralten Zeiten her: das Sauberhalten der Straße, das Fegen vor der eigenen Tür (und dabei in den Nachbarladen Hineinspionieren), gemeinsame Subventionierung der Schulen, Besoldung von Magistratspersonen und – Jagd nach Dieben. Springt ein Räuber aus einem Laden der engen Straße hervor, so ist jedes Mitglied der Gilde, das dieser Eskapade beiwohnt, verpflichtet, den Übeltäter auch unter Gefährdung des eigenen Lebens zu jagen, zu verfolgen und vornehmlich zu fangen. Entzieht sich ein Mitglied der Gilde dieser Pflicht, so verfällt es der Ächtung und Ärgerem. (Ob dieses alte Gildengesetz seit Bestehen einer organisierten Polizei Wandlung erfahren hat, ist mir nicht bekannt.)
Das enge Beisammensein der Konkurrenten hat aber noch einen andern Sinn: es soll verhüten, daß ein Gildenmitglied durch Preisabbau den Nachbarn unterbiete! Man kann sich gegenseitig in bezug auf seine Geschäftsmethoden besser kontrollieren, wenn man Tür an Tür wohnt, als wenn man über die ganze Stadt verstreut ist. Dabei ist selbstredend nur die untere Grenze des Warenpreises festgelegt. Verirrt sich ein Grünhorn von einem Europäer in die Straße, so schnellen die Preise automatisch in die Höhe, und die Nachbarn verständigen sich rasch über den Fisch, der in dem Netz der Gilde zappelt.
In der Konstitution der Gilde sind Löhne und Arbeitsstunden keineswegs einbegriffen oder festgelegt. Diese neuzeitlichen Errungenschaften sind dem Wesen der chinesischen Gilde fremd geblieben bis auf den heutigen Tag. Aber auch dieses Gebilde: der andere Pfeiler, auf dem das chinesische Gemeinschaftsleben ruht, die uralte Tradition 236 der Gilde, hat in den letzten Jahren einen entscheidenden Stoß erhalten, und zwar von Moskau her.
Seit die Russen den chinesischen Arbeiter zum Widerstand organisiert, seit sie dem chinesischen Arbeiter Selbstbewußtsein, Solidaritätsgefühl eingeflößt haben, manifestiert sich das uralte Prinzip des Zweckverbandes in den chinesischen Proletariern auf kraftvolle und entschiedene Art. Infolge der uralten Tradition der Gilde und des mit ihr eng verwandten Geheimbundes erweist sich der Chinese heute als Organisationsmaterial ersten Ranges. Tatsächlich hat der organisierte chinesische Arbeiter in kürzester Zeit, man kann sagen, in weniger als zwei Jahren, sich die Streiktechnik des westlichen Industrie- und Landproletariats angeeignet. Ehe ich von dem Einfluß benachbarter Körperschaften, z. B. der Studenten und der Intellektuellen, auf diese Neugestaltung der chinesischen Gesellschaft zu sprechen komme, will ich noch rasch einige merkwürdige Einzelheiten erwähnen, die das Gildenwesen Chinas mit einem Scheinwerfer zu beleuchten vermögen. –
In Schanghai, der mächtigsten Handelsstadt Chinas, gewahrt man auf der Straße Scharen, namenlose Kohorten von zerlumpten Bettlern. Manche von diesen Armseligsten – ich hatte ihresgleichen schon in Canton gesehen und erwähnte dies bereits, aber diese Schanghaier waren mit den Cantonesen ja kaum zu vergleichen – gingen in geradezu unglaublichen Gebilden von in kleinste Stücke zerfetzten Lumpen einher; Stricke, Bindfäden hielten zuweilen an bestimmten Körperteilen diese Flicken, Lumpen, Wattebäusche, Sackstreifen und das Zeitungspapier, das auf besonders elenden Gestalten die Stelle von Kleidung vertrat, notdürftig zusammen. An den Straßenecken des Chinesenviertels von Schanghai lagen Bettler auf dem Boden, die Wange in den Kot gepreßt, heulend, schluchzend, bellend, stundenlang. Manche hatten wachsbleiche, verhungerte Säuglinge nackt vor sich hingelegt, elendste Würmer, die vielleicht schon tot waren, als man ihrer ansichtig wurde, die aber sicher keine Kraft mehr hatten, den Tag zu überleben. Entsetzliche Krankheiten konnte man an solchen Gestalten studieren: Aussatz, fressende Flechte, Elefantiasis; penetranter, mefitischer Gestank strömte aus den verwesenden Körperteilen empor und verpestete die Atmosphäre auf Meterumkreis hin – nun genug davon. Wenn 237 Bettler, Männer, Frauen, Kinder der Rikscha nachliefen, mit ihrem klagend-drohenden Geschrei: Talai! Talai! (d. h. großer oder mächtiger Herr), zuckte die Hand sofort nach dem Geldbeutel, man warf, so viel man hatte, hinter sich, um die entsetzliche Schar loszuwerden, die sich an die Räder geheftet hatte.
Wovon lebten diese Ärmsten, Zerschmetterten? Ich erkundigte mich bei allen möglichen Eingeborenen, Ansässigen, und was ich da zu hören bekam, war eine der unerwartetsten Informationen, die dem Fremden in China zuteil werden konnten. –
Es gibt Bettlergilden. Gerade die Zerlumptesten sind die, die es am besten haben in der Gilde. Es gibt Obmänner, Funktionäre der Bettlergilde. Sie halten die Verbindung mit den Gilden der Gewerbetreibenden eng aufrecht, mit den Handwerkern, den kleinen und großen Kaufleuten. Macht sich ein Mitglied einer Kaufmannsgilde des Verbrechens der Preisunterbietung schuldig, so entsendet die Gilde einen Funktionär in das Quartier der Bettler, innerhalb vierundzwanzig Stunden hat sich vor dem Laden des Unterbieters der ganze wüste Lumpenhaufen der Bettlergilde mit Geschrei, Geschluchze, Gestank und Ungeziefergewimmel angesammelt, hingelagert und bleibt dort so lange liegen, die Kunden abschreckend, den ungetreuen Gildengenossen vor der ganzen Gasse bloßstellend, bis das Verbrechen gesühnt, die Strafe gezahlt, das heißt bis die Erpressung gelungen ist. Dann zieht die Bettlergilde, von der Kaufmannsgruppe, die den Auftrag gab, gut entlohnt, heim in das Bettlerhauptquartier, wo eine Nacht lang geschwelgt, gegessen, getrunken, Opium geraucht und geräuschvoll Mah Jongg gespielt wird bis in den späten Morgen hinein. Man sieht: in einem wohlgeordneten Gemeinwesen hat jeder Beruf seine besondere Funktion. Mit den Schanghaier Bettlern habe ich also, auch wenn die Lumpen das nackte Fleisch nur unvollkommen bedecken, kein so entschiedenes Mitleid mehr, nun, da ich mich nach Peking wende. –
Über die Geheimbünde Chinas nur wenige Worte. Sie gehören allen Zeitaltern der chinesischen Geschichte an. Ihre Bedeutung aber nimmt seit dem Opiumkrieg und dem Taipingaufstand, der die revolutionäre Bewegung des heutigen China einleitet, an Wichtigkeit für die Neugestaltung Chinas in entscheidender Weise zu.
238 Mit dem Opiumkrieg und der durch die Frechheit amerikanisch-englischer Missionare entfachten Taipingrebellion beginnt der bewußte aktive nationale Widerstand des Chinesenvolkes gegen die europäischen Bedrücker und Usurpatoren. Da 1860 die Chinesen von Taku aus die englischen und französischen Kriegsschiffe bombardierten, die zur Ratifizierung der China 1859 aufgezwungenen Verträge nach Tientsin hinaufschwammen, war die Richtung des Befreiungskrieges bereits vorgezeichnet. Nicht so sein Verlauf. Als die Mächte dem Bombardement der empörten Chinesen mit der brutalen, barbarischen Vernichtung des Sommerpalastes in Peking und seiner Schätze begegneten, wußten die Chinesen, was sie von europäischer Zivilisation zu halten hatten. Der unbeholfene Koloß China konnte sich aber der fremden Herrschaft nur schwer erwehren. Es erscheint rätselhaft, wenn man das energische, zähe und geschäftige Volk der Chinesen längere Zeit beobachtet hat, wieso es solch unverschämte Anmaßung, solch offenkundigen Raub der Westmächte so lange erdulden konnte. Die Lösung ist aber sofort bei der Hand, wenn man den Quellen der Kraft nachforscht, die seit dem siegreichen Verlauf der russischen Revolution den Widerstand unter den ungeheuren Massen Chinas organisiert und durchführt. –
Das zaristische Rußland hatte, schon zur Zeit der Taipingrebellion und jener Ereignisse um Taku, den Amurfetzen aus China losgerissen; 1864 ging durch den Aufstand Jakubs, eines Mohammedaners aus Kokand in Zentralasien, dem jetzigen Ferghan, Turkestan verloren; Japan annektierte die Liukiu-Inseln, verwickelte China in den kurzen, für China verhängnisvollen Krieg, der mit dem Verlust Koreas endete; die Franzosen rissen Annam und Tonking aus dem riesigen Reich an sich, die Engländer Burma; Deutschland biß das kleine Tsingtau ab, und all die anderen Raubmächte knabberten von der Küste kleine und große Brocken weg. China, das geheimnisvolle, weite, brodelnde Land, das übervölkerte, von Hungersnöten, Naturkatastrophen erschütterte China, war zu einer energischen Abwehr noch immer nicht fähig. Erst um 1900 herum machte sich die wilde Erbitterung der verzweifelten, vergewaltigten Massen gegen die frechen, in kanonenbespickten Reservationen lebenden Fremdlinge Luft: der Geheimbund der Boxer hielt den fremden Räubern mit energischem Ruck die Faust unter die Nase. –
239 1905 fiel die russische Festung Port Arthur, die in zehn Jahren viermal ihre Staatsangehörigkeit gewechselt hatte, und mit dem Sieg des asiatischen Volkes über das europäische war der Nimbus Europas in Asien verschwunden. China, das die Mandschurei besaß, hatte sich nun mit dem siegreichen Japan auseinanderzusetzen. Zu seinen westlichen Feinden gesellte sich das stamm- und geistesverwandte, aber in seinem Zivilisationstrieb dem Westen näher zugetane, vielleicht sogar verfallene Volk der Japaner.
Ebenso wichtig wie das Faktum, daß im Herbst 1911 durch eine Militärrevolte in Hankow die Dynastie der Mandschu in China gestürzt und die Republik ausgerufen wurde, ist dieses andere Ereignis: daß sich 1914, gleichzeitig mit der Kriegserklärung an Deutschland, Japan in Schantung festsetzte. Japan trat mit dieser Tat bewußt in die Reihe der fremden Usurpatoren ein, und nur die Nachahmung westlicher Methoden: z. B. der Boykott japanischer Waren, den China unternahm, vermochte für kurze Zeit die Spannung zwischen den beiden stammverwandten Völkern Ostasiens zu mindern. Die Erbitterung Chinas gegen Japan blieb latent vorhanden und ist seither nicht gewichen.
Von diesen Ereignissen führt eine gerade Linie zu der entscheidenden Katastrophe des 30. Mai 1925, der studentischen Demonstration in Schanghai wegen der Tötung eines chinesischen Arbeiters in einer japanischen Textilfabrik. Und nach diesem Massaker des 30. Mai, das durch die Roheit der englischen Polizisten Schanghais verursacht worden war, zu den Vorgängen vom 3. Juli 1925 in Canton. Beide Daten, das Schanghaier und das Cantonesische, bezeichnen den Wendepunkt in der Geschichte Chinas, in ihren Wirkungen und Perspektiven vielleicht einen Wendepunkt in der Geschichte der menschlichen Zivilisation überhaupt.
Die Beteiligung der Studenten an der nationalen und revolutionären Politik des heutigen China begann bezeichnenderweise mit einer ganz unpolitischen Demonstration. Sie war gegen einen neuen Unterrichtsminister gerichtet, der im Winter 1924 strengere Prüfungsmethoden einführen wollte als die in China allgemein üblichen. Dieser Aufmarsch 240 der Pekinger Studenten wurde von der Polizei unterdrückt. Ich weiß nicht, ob bei dem Zusammenstoß der Polizei mit den Studenten schon Blut geflossen ist. Fest steht, daß weitere Demonstrationen sich bereits gegen das Fremdenviertel in Peking, das sogenannte Legationsviertel, richteten, obzwar die Polizeikräfte, die gegen die Studenten aufgeboten waren, gewiß nicht aus jener Richtung gegen die Demonstranten marschiert kamen. Auf alle Fälle bleibt es charakteristisch, daß aus einer solchen im Grunde privaten Revolte der Studenten sich im Handumdrehen die gefährliche nationalistisch fremdenfeindliche und in ihrem weiteren Fortschreiten ausgesprochen bolschewistische Bewegung der Studentenschaft entwickelt hat. Schon in Schanghai, an jenem verhängnisvollen Maitage, blieben zerschossene Studenten unter den Arbeitern an der Ecke der Nankingstraße liegen – dort, wo einst das Denkmal der Empörung Chinas aufgerichtet werden wird. –
In Schanghai waren es die Arbeiter, jene erbitterten Arbeiter aus den japanischen Textilfabriken, die bei den Studenten um Hilfe für ihre Streikaktion nachsuchten. Die Schanghaier Studenten, die ihre nationalen und politischen Direktiven von der Pekinger Studentenunion erhielten, waren von den Cantoneser Strömungen der russischen Agitation beeinflußt. Nach dem Schanghaier Massenmord und dem unverantwortlichen Massaker harmlos aufmarschierender Studenten und Arbeiter durch die auf Schamien verbarrikadierten europäischen Truppen stand plötzlich die gesamte nationale Studentenunion des riesigen chinesischen Reiches vereint unter der revolutionären Parole Moskaus.
Woher stammt die chinesische Studentenschaft? Welches sind die Vorbedingungen ihrer Vereinigung mit der chinesischen Arbeiterschaft? Aus welchem Grunde kann sich die revolutionäre Bewegung in China auf diese beiden Elemente, den organisierten Stadtproletarier und die dominierende Klasse der Gebildeten Chinas, stützen?
Ich hatte in Schanghai unter erschwerenden Bedingungen einige Zusammenkünfte mit Studenten und Gewerkschaftsführern zu einer Zeit, da die Lokale der Studentenunion und der Trade-Union von der Polizei kontrolliert und die Organisation in gefährlicher Weise unterdrückt war. Ich gebe wieder, was ich von berufenen Vertretern der Arbeiterschaft und Studentenschaft gehört habe. In Schanghai verlebte ich nur wenige Wochen, konnte infolgedessen nicht alles genau 241 nachprüfen, was mir berichtet wurde. In Peking aber habe ich mir dann Ergänzungen zu diesen Informationen geholt. Doch auch dieser Komplex von Mitteilungen würde mich noch nicht ermächtigen, über eine so schwierige und gefährliche Bewegung, wie die der Studenten in China, Kompetentes auszusagen – wenn ich nicht durch Stichproben mit Menschen, Erfahrungen in bestimmten Kreisen Gewißheit erlangt hätte, daß das mir Erzählte auf Wahrheit beruht und nicht lediglich dem phantastischen Sinn von jungen revolutionären Köpfen zuzuschreiben ist.
Ein sehr wichtiger Faktor in der chinesischen Studentenschaft war von jeher die Fraktion der »Auslandsstudenten«, nämlich jener Studenten, die im Westen, in Europa und Amerika, aber auch im Osten, in Japan, ihre wissenschaftliche Ausbildung genossen hatten und mit Anschauungen dieser Länder, sozialen und kulturellen, beladen nach China zurückkehrten. Die Auslandsstudenten besaßen vor den Schanghaier Ereignissen bedeutenden Einfluß auf die Politik Chinas. Denn aus ihren Reihen nahm die Republik viele ihrer jüngeren Funktionäre, tatkräftige, gebildete, befähigte und mit den Methoden der maßgebenden ausländischen Völker vertraute Intellektuelle. Die Klubs dieser Auslandsstudenten waren wichtige Vereinigungspunkte, von denen Strömungen, Initiative und Stoßkraft ausgingen. Unter den Auslandsstudenten galten die aus Japan zurückgekehrten, schon aus Gründen des aktiven Widerstands gegen die überlegenen Stammverwandten, als besonders kräftige und zielbewußte, nationalistische, d. h. in dem besonderen Falle antijapanische Elemente. Sie waren jedenfalls konsequenter chinesisch-nationalistisch eingestellt als etwa die aus Amerika zurückgekehrten Auslandsstudenten, die, von der triumphierenden Macht Amerikas überwältigt, die amerikanischen Methoden des Industrialismus und des öffentlichen Lebens auf China anwenden und übertragen wollten. Sonderbarerweise stehen die aus Frankreich zurückgekehrten Auslandsstudenten im Geruch chauvinistischer Gesinnung – es gibt natürlich auch chinesische Faschisten! –, während ich unter den deutschsprechenden, an deutschen Schulen ausgebildeten Studenten und Professoren Chinas begeisterte und aktive Anhänger der russischen Freiheitsidee, wie sie in dem linken Flügel der Kuo Min Tang verkörpert ist, angetroffen habe.
242 Im großen ganzen hat, wie mir berichtet wurde, die Bedeutung der Auslandsstudenten seit jenem Schanghaier Maitag wesentlich abgenommen; insofern, als sich die Methoden des chinesischen nationalistischen Befreiungskampfes mehr aus den heimatlichen Bedingungen zu entfalten beginnen und Erfahrungen, die man in fremden Ländern gemacht hat, für den Verlauf der einheimischen Revolution nicht mehr entscheidend sind. Nur die radikalsten Elemente, d. h. jene, die die nationale Revolution des heutigen China in die proletarische des morgigen überzuleiten gedenken, haben Rang und Einfluß in der gesamten Studentenschaft und Arbeiterschaft Chinas.
Bezeichnenderweise stehen in der Spitzengruppe der revolutionären Studentenschaft auch Studenten der von ausländischen Quellen, besonders amerikanischen, gespeisten chinesischen Lehranstalten. Diesen jungen Menschen, denen in China eine fremde Art von Bildung beigebracht wurde, ist es im Laufe der letzten Jahre klar geworden, daß das, was man ihnen zumutet, im ausgesprochenen Gegensatz zu ihrer autochthonen hohen Kultur und jahrtausendealten Tradition steht; daß sie bewußt zu einem ausgesprochen antichinesischen Zweck mißbraucht werden und daß der gesamte Unterricht, zusammen mit der christlichen Weltanschauung, die ihnen beigebracht werden soll, keine andere Tendenz hat als die: aus ihnen gefügige Werkzeuge für den immer gewaltsamer herandringenden ausländischen Kapitalisten zu schaffen.
Natürlich haben die materiellen und geistigen Förderer dieser in China bestehenden ausländischen Lehranstalten das Menschenmögliche getan, um die renitente und rebellische Studentenschaft an sich zu fesseln. Sie haben in manchen Fällen, z. B. in dem Falle der St. John-Universität, zu radikalen Methoden gegriffen, Studenten ausgeschlossen, die nationalen Fahnen vom Dachfirst heruntergeholt, usw. Das alles aber hatte lediglich zur Folge, daß die englisch-amerikanisch-chinesischen Universitäten nun verlassen dastehen und daß die Studentenschaft, wie in einigen mir bekannten Fällen, aus ihnen geschlossen in rasch aufgerichtete nationale Lehrstätten übergegangen ist.
An national-chinesischen Universitäten, wie z. B. der cantonesischen, hat sich eine Spaltung ergeben, die nichtrevolutionären Professoren, die dem rechten Flügel der nationalen Partei angehörten, sind 243 kurzerhand aus dem Lehrkörper ausgestoßen worden und nur jene geblieben, die im Einverständnis mit der radikalen, prorussischen Studentenschaft direkte Verbindung mit den arbeitenden Massen erzielt haben.
Sehr einleuchtend war es, was ich auf meinem Heimwege in Moskau zu hören bekam, nämlich: daß die gegenwärtige Situation Chinas in bezug auf das Zusammenwirken der radikalen Studentenschaft und des im ersten Stadium der Organisation befindlichen Industrieproletariats auffallend an die frühe russische revolutionäre Bewegung, die Narodniki-Zeit zu Ende des vorigen Jahrhunderts, erinnere, d. h. an die Vorbereitungen zur großen Revolution und ihrem endgültigen Siege.
Die zentrale Studentenorganisation Chinas umfaßt ungefähr 80 000 Mitglieder. Die Studenten stammen zum größten Teil aus der mittleren und niederen Bourgeoisie, wenn man diesen Begriff überhaupt auf die ganz eigenartigen Formationen der chinesischen Gesellschaftsschichtungen anwenden kann. Schon in einem der vorigen Kapitel erwähnte ich, einen Ausspruch von Dr. C. C. Wu wiedergebend, daß es in China keinen Klassenkampf geben könne, weil es keine bestimmten Klassen gebe, daher involviert die Vereinigung der Studenten mit den Arbeitern auch kein Verlassen der eigenen Klasse und Hinüberschwenken zu einer sozial tiefer bewerteten, wie das in Europa bei Vereinigungen von Studenten und Arbeitern der Fall ist. Es ist jedenfalls eine homogenere Schicht, die sich heute auf organisatorischer Basis in China entwickelt, und die Trennung von Nationalismus und proletarischem Kampf ist daher nicht mehr ausgesprochen, nicht mehr evident. Besonders seit der Einfluß der Cantoneser auf die Kuo Min Tang-Partei maßgebend geworden ist, lenkte die Bewegung rasch in die Bahn der proletarischen Revolution ein.
Aus dem Widerstand gegen die Methoden in japanischen Fabriken Chinas, die allerdings grausamer und schroffer gegen die chinesische Arbeiterschaft waren als die in chinesischen Fabriken üblichen, hat sich die neue proletarische Form des Kampfes ergeben. Es wird aber nicht mehr gegen den japanischen Fabrikbesitzer allein gestreikt, sondern gegen den Fabrikbesitzer im allgemeinen. Die Parole dieses organisierten Widerstandes hat im Laufe eines Jahres die Zahl 244 der in Schanghai organisierten Industrieproletarier von 2000 (1924) auf 218 700 (im Januar 1926) anschwellen lassen.
Die Textilfabrikarbeiter, die die überwiegende Mehrzahl des arbeitenden Proletariats ausmachen (in Fabriken mit japanischen Besitzern und Vorarbeitern), empfingen einen Lohn, beginnend mit ungefähr 30 Cents (etwas mehr als 60 Pfennig), aufsteigend bis zu einem mexikanischen Dollar, d. h. 2 Mark. Kinderarbeit von zwölf Arbeitsstunden wird heute noch mit 20 Cents entlohnt. Durch Streiks und Lohnkämpfe haben die Arbeiter eine durchschnittliche Besserung von 50–75 Prozent durchsetzen können. Natürlich vereinigten sich die Arbeitgeber zu einem energischen Widerstand und erfreuten sich dabei der ausländischen Polizei als ihrer treuen Verbündeten.
Der erste große Streik des Jahres 1925 richtete sich gegen die Willkür der Textilfabrikanten, die ihren Arbeitern den Beitritt zur Gewerkschaft verweigern wollten, richtete sich auch gegen das heute noch übliche Schlagen der Arbeiter, gegen Kürzung der Löhne während des Streiks, gegen Verwendung von Spitzeln und Detektivs, gelben Streikbrechern und gegen das Verbot von Versammlungen. Innerhalb kurzer Zeit hat sich die Organisation der Arbeiter bis in das fernste Innere des Reiches verpflanzt. So kam plötzlich aus einer weit am oberen Yangtse gelegenen Fabrik die Nachricht, daß die gesamte Arbeiterschaft binnen vierundzwanzig Stunden in den Streik getreten war, weil ein Aufseher (Japaner) es den Arbeitern aus Zeitersparnisgründen verboten hatte, sich zur Mittagsmahlzeit niederzusetzen.
Das Zentralkomitee der Gewerkschaften befindet sich gegenwärtig in Canton. Von dort aus organisiert es das Landproletariat wie die Industriearbeiterschaft und gibt die Direktiven aus. Eine zusammenfassende Zentralorganisation von Industriearbeitern und Bauern besteht in China im Augenblick noch nicht. Das hat seinen Grund in landschaftlichen Erwägungen wie in der speziellen Formation der chinesischen Produktionsgebiete. Auch bei Anlässen wie: Arbeiterentlassungen, Schließung von Bureaus der Gewerkschaften, streikt die Schanghaier Arbeiterschaft mit steigendem Erfolg. Es machen sich in der Bewegung auch syndikalistische Methoden bemerkbar, Sabotage und Akte persönlichen Terrors. Die Arbeitslosen zu organisieren ist eine der Hauptaufgaben der Zentralstelle. Diese Arbeitslosen haben 245 sich in letzter Zeit, durch Lockspitzel angeworben und aufgehetzt, zu Überfällen auf Gewerkschaftsführer mißbrauchen lassen. Die Behörden standen bei solchen Anlässen untätig, wodurch es evident wurde, daß diese Überfälle den Arbeitgebern außerordentlich willkommen und von ihnen veranlaßt waren. Die Arbeitslosen, die sich solcher Überfälle schuldig gemacht hatten, wurden von ihrer eigenen Organisation ausgeschlossen.
Man kann in Schanghai wohl von einer Roten Internationale unter den Arbeitern sprechen, obzwar die kommunistische Partei, die von seiten der Regierung natürlich wild verfolgt wird, nur gering an Zahl ist. Immerhin verfügt sie bereits über eine kommunistische Jugendorganisation sowie über ein wöchentlich erscheinendes Organ. Immer mehr identifiziert sich die linke Kuo Min Tang mit den Tendenzen Moskaus. Überhaupt beruht das Problem Chinas (wie bereits erwähnt) auf dieser bedeutungsvollen Gleichzeitigkeit von grundverschiedenen, aus diametral entgegengesetzten Himmelsrichtungen auf das Reich der Mitte eindringenden Einflüssen: über Amerika und Japan entwickelt sich in China in steigendem Maße ein moderner Industrialismus mit allen Schärfen des Systems – aus Moskau kommt zu gleicher Zeit die Parole zur Bekämpfung dieses Systems durch den Arbeiter, der es trägt. Der chinesische Geist hat Resistenzkraft und Vitalität genug, um zwischen diesen beiden feindlichen Gewalten nicht zermalmt zu werden, sondern im Gegenteil: aus beiden Komponenten das notwendige Element des Fortschritts zu gewinnen. Ganz klar bewußt ist sich der chinesische Intellektuelle wie auch der russische Politiker, daß die zunehmende Stärke der Bewegung nicht so sehr den Triumph des Kommunismus in China bedeutet, sondern daß durch das Zusammenwirken Rußlands und Chinas die Vorstufe für die kommunistische Zukunftsära der Menschheit erklommen wird: nämlich die Schwächung und in der Folge die Vernichtung des heute bestehenden kolonialen Weltimperialismus. Nach Schamien und Hongkong werden Tientsin und Schanghai verdorren und abfallen. Es ist ein langwieriger Prozeß, aber er hat bereits mit Macht eingesetzt.
Mit einem Freunde, einem jungen chinesischen Schullehrer, der selber dem linken Flügel der Studentenschaft angehört und enge 246 Verbindung mit den verfolgten Gewerkschaftsführern aufrecht hält, besuchte ich eine im Besitz von Chinesen befindliche Baumwollspinnerei im Vorort Jeßfield vor Schanghai. 5000 Arbeiter arbeiten hier, davon 500 Kinder unter zehn Jahren, die (wie erwähnt) für einen zwölfstündigen Arbeitstag 20 Cents erhalten. Die Räume sind im allgemeinen sauber, doch ohne Sicherungen, ohne die in europäischen Fabriken üblichen und unerläßlichen Transmissionsnetze und ähnlichen Arbeiterschutz. Über den glitschrigen Boden eilten arme, zurückgebliebene Kreaturen, Kinder, blaß, übermüdet, mit entzündeten Augen. Viele schoben Körbe mit Spindeln bis oben beladen, stemmten ihre armen kleinen Körper gegen das schwere Gewicht. Wie aufgescheuchte Vögel flatterten sie aus einer Ecke auf, als sie unserer ansichtig wurden, und eilten zu ihren ratternden Arbeitsständen an den Spindeln und Webrahmen zurück. Erst als sie den uns begleitenden jungen chinesischen Vorarbeiter sahen, wurden sie mutiger, lächelten auch wohl – ein Freund! er führt Fremde, das ist es!
Man kann von den Chinesen keine angestrengte unausgesetzte Arbeitsleistung fordern und erwarten wie vielleicht von Japanern. Es liegt nicht im Wesen, nicht in der Natur des Chinesen, ernst und konsequent und wie eine Maschine bei einer mechanischen Arbeit zu verweilen. Nicht aus Gründen der Enervation, der Erschöpfung und Dekadenz wie bei den Indern, sondern mehr aus einer gegen den Industrialismus sich aufbäumenden Freiluftverfassung des chinesischen Körpers, der seelischen Struktur des Chinesen. Wenn ein wildgewordener Machthaber ihm verbietet, sich mit seinem Reistopf auf den Boden zu setzen, werden die Scherben bald um einen blutigen Kopf fliegen. Die Zeit ist vorbei. Sogar der systematischen Vergiftung des Volkswillens und der Volkskraft durch Opium, die die fremden Bedrücker, die »Raubvölker«, wie der Chinese sie nennt (und mit diesen die eigene korrupte Generalität!), seit einem Jahrhundert und noch länger systematisch unternommen haben, hat die Natur des Chinesen Widerstand geleistet, und an dem Eingang des neuen, revolutionären Jahrhunderts des erwachten China steht, ungebrochen, formidabel, breitbeinig und mit aufgestreiften Ärmeln über dem sehnigen Bizeps eine bisher tief verachtete, unbekannte, drohende und grandiose Gestalt: der Letzte der Letzten, der Erste der Ersten, der Kuli! 247