Arthur Holitscher
Das unruhige Asien
Arthur Holitscher

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Panorama der Stadt Canton

Vom Auswärtigen Amt der Cantonregierung wurde mir ein junger Chinese als Dolmetscher beigestellt, mit dem ich an vielen Orten, in Straßen und Häusern herumkam, die der Europäer von selber nicht aufzutreiben versteht.

Er war ein intelligenter Mensch, hatte studiert und bekleidete bei der Polizei einen höheren Rang, worauf er ganz besonders stolz zu sein schien. Einmal zeigte er mir in seiner Station (die, wie die meisten Polizei- und Militärbaracken, in einem mit Lampions und Girlanden festlich geschmückten ehemaligen Tempel untergebracht war) seine Uniform und streichelte sie verliebt, wie ein Bräutigam die Braut. Über Organisationen, Universität und Arbeit wußte er Bescheid, war auch sonst nicht übel beschlagen, aber auf eines verstand er sich nicht, 226 und das waren Zahlen. Als ich ihn einmal frug, wieviel Einwohner Canton habe, erwiderte er nach einigem Nachdenken:

»Thirtythousandmillionfivehundred.« –

Ich machte ihm begreiflich, daß das ein Unsinn sei, es solle wohl heißen 1,030,500. Er aber blieb dabei: dreißigtausendmillionfünfhundert. Als ich diese amüsante Kleinigkeit einem lange in China ansässigen Engländer erzählte und bemerkte, daß der junge Mensch wohl diese Zahl genannt habe, weil er des Englischen nicht mächtig sei, entgegnete der Cantoner: die Antwort sei typisch, die Chinesen seien in allem, was durch Zahlen ausgedrückt werden muß, phantastisch unkorrekt und unzuverlässig.

Sicher ist es, daß niemand die genaue Seelenzahl der ungeheuren Stadt kennt. Drei, vier Millionen, wurde mir gesagt. Ein gewaltiger Teil der Bevölkerung liegt, lebt und treibt sich auf dem Wasser herum, in den Sampans, großen Haus- und Frachtbooten, die im Perlfluß eine Stadt für sich bilden, und ist unkontrollierbar. Diese Sampans, die sich auf den Gewässern Cantons bis weit hinauf ins Land stauen, sehen Generationen aufkommen, Familien sich entwickeln, absterben, Menschenleben im Auf- und Niedergang, jahrhundertelang. Mit allerlei Fracht beladen, fahren sie stromauf, stromab, sie segeln oder werden gerudert, und zwar, wie schon erwähnt, zumeist von Frauen, die die schweren Ruder mit erstaunlicher Kraft führen. Es ist der erste Eindruck, den man von China empfängt – diese Sampanruderinnen. Sie stehen da, auf schwankendem Brett, haben eine kurze schwarze Zigarre, Tscheroot, im Munde, ihr Baby in einem offenen Sack auf den Rücken gebunden – das also schon vom Tag an, da es das Licht der Welt erblickt, den Rhythmus der schweren Fron in seinen Gelenken empfängt.

Frei und bunt ist das Leben auf dem Strom. Schwer, aber freibeuterisch und uneingeengt. Heute ist man da, morgen dort, man kann sich leicht verbergen, allerhand versteckte Gewerbe blühen in der Bootestadt. –

Die Uferseite Cantons, wie aller großen Hafenstädte Chinas, heißt »the Bund«. Am »Bund« Cantons, mit seinem gewaltigen Verkehr, seinen Hotels, Geschäftswolkenkratzern, Anlegebrücken und Verwaltungsgebäuden, reihen sich die Dampfer, Leichter, Frachtkähne zu 227 Tausenden aneinander an; hier spielt sich das Gewimmel der Sampans, das Treiben der übervölkerten Häuser- und Wasserstadt am stürmischsten ab. Dem in der Rikscha Vorüberfahrenden tönt von einzelnen Halteplätzen grelles Weibergeschrei entgegen: Ruderfrauen, die für ein paar Kupfermünzen nach dem anderen Ufer, der Fabrikstadt Honam, übersetzen, aber auch Dirnen, die auf die Sampans locken, in denen Teehäuser, Absteigequartiere, Singsanghallen, die niedere Joshiwara der Stadt eingerichtet ist.

Sampans liegen im Strom, auf denen Hochzeitsgelage abgehalten werden; auf Sampans versammelt sich die Trauergemeinde, um zum Andenken an den Verstorbenen Papiergebilde, von innen beleuchtete, die die Form von Pferden, Menschen, Häusern und Schiffen haben, zu verbrennen – Opferbrände, uralter Brauch. – Unaufhörlich schwimmen kleine Boote herum mit schreienden, klingelnden Hausierern, die dem Wasservolk Tee, Kuchen, Gemüse, allerlei Kram verkaufen. Die Motorboote der Konsulate, Barken der Schiffahrtsgesellschaften, Wampoo-Kanonenboote bahnen sich ihren Weg durch die Sampanstadt, die bei niederem Wasserstand im Uferschlamm zu versacken scheint. Dann legt man Bretter von Bord zu Bord, und es entstehen plötzlich Straßen, Gassen und Brückenwege.

Die Flußpolizei pirscht eifrig nach Piraten. Dieses letztere Gewerbe steht hoch im Schwung. Raub, Diebstahl, Überfall mit und ohne Gewaltanwendung bildet überhaupt ein wesentliches Charakteristikum dieser Stadt, der gesamten südlichen Provinz. Auch auf unserem Schiff, das den Verkehr von Hongkong aus besorgte, war, wie auf jenem nach Macao fahrenden, die Abteilung, in der die chinesischen Passagiere untergebracht waren, mit Gittern tüchtig abgesperrt, von Sikhs bewacht. –

Neben dem romantischen Beruf des Seeräubers bewährt sich in Canton (wie in anderen Städten Chinas) besonders das uralte Gewerbe der Menschenentführung, des »Kidnapping«. Zur Zeit meines Aufenthalts in Canton wurde einmal eine ganze Schule, zweiundfünfzig Knaben samt ihren fünf Lehrern, gekidnappt. Drei Jungen, die die Räuber unterwegs verloren hatten, kamen in die Stadt zurückgelaufen und brachten die Kunde von dem Ereignis mit. Das Lösegeld beträgt oft viele zehntausend Dollar für jedes gekidnappte Kind oder jeden 228 entführten Erwachsenen (Europäer werden in den seltensten Fällen entführt). Kann die Familie das Geld nicht aufbringen, so kommt erst die Nase, dann eine Hand des Geraubten an, kleine Aufmunterung zum Bezahlen. Schließlich breitet sich Schweigen über einen Toten. Selten ruft man die Polizei zur Hilfe, so groß ist die Angst vor den Räubern, so straff ihre Organisation. Die wirren, inselreichen Gewässer, die Stadt Canton selbst beherbergen Tausende von Kidnappern, berufsmäßigen Piraten.

Das Wahrzeichen dieser Stadt – von der Blumenpagode berichte ich in anderem Zusammenhang – sind enorme, klotzige Türme, die aus dem Gewimmel der untersetzten Häuser des Bazarviertels und der alten Stadt, hoch und düster, viereckig, fensterlos und fest in die Höhe ragen. Von der obersten Galerie der Pagode kann man ein Dutzend solcher Türme in der Runde erkennen. Diese Zwingburgen sind aber menschenfreundliche Institute: Leihhäuser, nur eben wie Festungen gebaut, mit Donjons, doppelten Mauern, einbruchsicher gegen Piraten, Räuber und Banden geschützt, der einzige Zugang, ein niederes, schmales Tor, stark bewachtDas Leihhaus spielt im wirtschaftlichen Leben des Chinesen eine bedeutsame Rolle. Es ist sozusagen die Bank, die dem kleinen Mann sein Betriebskapital vorstreckt; im Sommer bewahrt es ihm seine Wintergarderobe mottensicher auf und gibt ihm dafür noch Kredit, so daß er heil durch die Jahreszeit durchkommt. Besonders der Landmann benutzt das Leihhaus, um seine Ernte einzubringen..

Der Banditenplage, die, neben dem verwandten Raubmilitarismus, dem Chinesen seit Urzeiten als unabwendbares Schicksal die Existenz erschwert und zum Teil auch vernichtet, sucht die progressive Cantonregierung mit aller Energie zu Leibe zu gehen. Ob es ihr gelingen wird, bleibt zweifelhaft; zu tief wurzelt das Übel im Wesen dieses merkwürdig komplizierten Volkes. –

 

In das Bazarviertel, die berühmten engen Gassen der Elfenbeinschnitzer, der Jadehändler, Fächermaler und der Seidenläden, darf man nach Sonnenuntergang nicht gehen, sonst sieht man nichts als Eisenstangen vor hermetisch verschlossenen Gewölben. Kommt man aber am Tage durch – welche Freude, diese Handwerkskünstler zu beobachten, wie sie, mit den primitivsten Werkzeugen, in unendlich 229 feinem zarten, oft kaum wahrnehmbaren Gelenkspiel ihrer dünnen Finger Gegenstände von berückender Anmut verfertigen. Jade ist ein spröder Stein, und je kostbarer er ist, um so vorsichtiger muß der Meißel mit ihm verfahren; auch sind die Formen der Schmuckstücke, die aus Jade verfertigt werden, beschränkt, es ist ja ein heiliger Stein, vielleicht darf er zu profanen Zwecken von gewissen Grenzen nicht abweichen. Die kleinen geschnitzten Elfenbeinkugeln, in denen sich fünf bis sechs immer kleinere bewegen und drehen, alle gleich zierlich und minutiös verziert, Wunderwerke der Drechselkunst, versinnbildlichen auch in bestimmter Weise die Welt, wie die Zwiebel, in deren Innerstem der Sinn, das Losgelöste, Bewegliche, Kreisende und doch Gebundene gefunden wird. – Hier in Canton werden unter anderem auch jene winzigen Tonfigürchen geformt, die Typen und Gestalten aus dem Volk, der Geschichte, der Sage darstellen, mit mikroskopisch winzigen Einzelheiten der Körperbewegung, des Mienenspiels, des Ausdrucks, den Körper und Gewand annehmen, wenn Wind oder Wasser gegen sie schlagen! Die Pinselstriche über das Reispapier der Fächer! Die flinken Nadeln der Seidenschalstickerinnen! Das Werken von Schnitzelmesser, Feile, Bohrer und Goldplättchen über das Rankengewirr, die Drachenzier der filigrandünnen Holzgitter, Wandverschalungen!

Zuweilen trat ich in einen Laden der Seidenhändlerstraße ein, bat die Besitzer, mir ein kurzes Verweilen in dem Laden zu gestatten, und habe dann die intensivste Augenweide genossen: im Fond des dunklen Magazinraums erhob sich eine Wand, aus wunderbarstem, mit Gold und Emailornamenten verzierten Sandelholz geschnitzt und aufgebaut, ein helles Oval darin – der Durchblick auf ein Blumenboskett im Lichthof, in drei Farben: heliotrop, orange, hellgrün vor einer elfenbeinweißen Hausmauer.

Vor diesem Märchengarten aber hatten die Seidenhändler, die Seidenhändlerfamilie – denn immer ist es die ganze Sippe, die in solch einem Laden lebt, handelt, haust, ob das Geschäft es verträgt oder nicht –, ein Schlaraffennest an Bequemlichkeit und Behagen aufgebaut. Breite Liegestühle, mit weichen Kissen belegt, standen da, kleine schöngeschnitzte Tische aus Ebenholz, mit wunderbaren Marmorplatten geschmückt, jenem flockigen und fleckigen Marmor, den man in Südchina schlägt und der in seiner Färbung und Maserung 230 Wolken, Berge, ganze Landschaften nachahmt; auf den Tischchen Wasserpfeife, Teeschalen, Eßgerät, Lackdosen für Tabak, Konfekt, Rechenmaschine – eine hohe schmale Eisentreppe führte nebenan in die oberen Wohnräume, der Chinese verläßt ungern sein Haus, besonders in dieser gefährlichen Gegend – kommt des Nachts der ungebetene Gast, so findet er die gesamte Familie beisammen, die in solch einem von außen unscheinbaren Haus beisammen wohnt, schläft, aus dem gemeinsamen Reistopf mit Stäbchen rasch das Futter herausschaufelt, Mah Jongg spielt und den Gewinn des Ladens oder den Verlust teilt. –

Nachts – da marschiert wohl über den »Bund« ein Zug mit Fahnen daher, über den von unzähligen Glühbirnen, prächtig flimmernden chinesischen Feuerbuchstaben, Triumphpforten, Girlanden, bunten Lichtblumen, Drachen und Rädern magisch beleuchteten »Bund«. Weiße Fahnen und wilde Rufe; rechts und links knallen auf das Pflaster explodierende Crackers nieder, das lieben sie besonders in ihrer kindlichen Vitalität. Was gibt es? Politische Manifestanten, Studenten, Arbeiter, Bürger der aufgeregten Stadt.

Gleichzeitig begegnest du einem Gänsemarsch ernst und breitbeinig daherstampfender Proletariergestalten – diese sind an ihrer Fahne erkennbar, an den Kokarden, die sie aufgesteckt haben – es ist die Patrouille des Streikkomitees. Sie geht stumm und finster über den »Bund«, verschwindet in einer der Seitenstraßen. –

 

Bettler drängen sich an die Rikscha heran, unglaubliche zerfetzte Gestalten, schmutzig und in Lumpen (aber es stellt sich ja bald heraus, daß diese fast methodisch zerrissenen Gewänder aus Säcken, alten Steppdecken, Bastmatten, Zeitungspapier und weiß Gott welchem Zeug noch zusammengestoppelt, mit Stricken festgebunden um die nackten Körper: Uniformen vorstellen, Uniformen der Bettlerzunft! Hierüber später). Viele unter ihnen tragen, deutlich erkennbar, mongolische Züge; im Lande herumirrendes, sein Leben lang von Ort zu Ort wanderndes, arbeitsscheues, mit seinem Lose leidlich zufriedenes Volk. Sie stecken dir, mit dem Lauf des Rikschakulis Schritt haltend, ihre Holzschale so lange unter die Nase – »Talai – è, Talai – é!« bis sie deinen Copper aufgefangen haben – gleich darauf sind dir zehn, 231 zwanzig, eine ganze Horde auf den Fersen! Lauf, Kuli, lauf – sie haben entdeckt, daß der Hwannaku, der Hund von einem Fremden, ein Grünhorn ist – er hat Almosen gegeben! – für die Dauer deines Aufenthaltes in dieser Stadt bist du gezeichnet! –

Was sind die typischen Gerüche, Geräusche Cantons? Oft geschieht es, daß ich aus dem Schlaf emporfahre und habe mich erinnert, geheimnisvoll hat mir der Traum Chikago, San Franzisko, Venedig, Stockholm vorgegaukelt – an Canton wird mich Gestank von verfaultem Holz, Knoblauch und Schafsgedärm erinnern und das grauenvolle Räuspern, Husten und Spucken, in dem die Chinesen, so will mir scheinen, jedem anderen Volk der Erde überlegen sind. Das chinesische Räuspern dauert in der Regel zehn bis fünfzehn Sekunden lang an. Der Schleim wird dabei aus der Tiefe, etwa einen halben Meter weit, mittels Luftdrucks in die Höhe gepumpt. Diese Prozedur ist im Umkreis von einigen Metern zu hören, d. h. im Straßenlärm; in geschlossenen Räumen, Theatern usw. natürlich verstärkt und in weiterem Radius. Unwillkürlich ahmt die eigene Lunge, Luftröhre, Kehlkopf den ganzen Vorgang nach, um das Endergebnis zu beschleunigen – aufatmend konstatierst du schließlich, daß es erreicht ist: klatsch, ist dir die chinesische Auster vor die Füße geflogen! –

Indes, auch harmonischere Geräusche sind zu unterscheiden, und diese sind es, die die eigentliche Musik der menschenüberreichen, tobend lebendigen, Tag und Nacht glimmenden, glitzernden, glühenden Stadt ausmachen. Die Kulis, die an dicken Bambusstäben schwere Kisten, Säcke voll Reis, Kohle, Zement aus den Leichterschiffen in die Magazine am »Bund« schleppen, die an Stricken, tief in die nackte Schulter, den nackten Rücken, die nackte Brust schneidenden Stricken, hoch beladene Karren vorwärtsziehen – alle singen sie ihren rhythmisch dem Trabe oder dem langsamen Tempo der schweren Mühe angepaßten, klagenden, monotonen, zuweilen wild modulierten Gesang. Du hast ja diesen Gesang der Beladenen schon in Dardjiling gehört. Hier aber singt ihn die Stadt. Der beladene, belastete, überanstrengte Körper des Volkes schafft sich sein Ventil, erleichtert sich irgendwie sein Los durch diesen Gesang. Oft klingt er ganz irrsinnig, unnatürlich gequetscht, wie das Gekreisch eines ungeölten Rades. Oft klingt er aber aufreizend, endet in einem Schrei, als habe der 232 überlastete Bambus den schleppenden Körper entzweigebrochen, der scharfe, schneidende Strick die Kehle zerwürgt. Von Tagesanbruch bis in die späte Nacht tönt der Gesang der schweren Arbeit durch die Straßen Cantons.

Nach Mitternacht dringt das Geklapper des Nachtwächters, der die Runde um Tungschans Häuser und Hütten macht, in den Schlaf des Gerechten.

Und um das Morgengrauen wecken ihn die Hornsignale der Garnison, drüben in der Soldatenstadt am linken Ufer des Perlflusses. Schrill und eigenwillig verscheuchen sie den letzten Rest von Ruhe und Schlaf von der geschäftigen, stürmisch bewegten, ewig jungen Stadt, die sich zu regen beginnt, rasch besinnt, frisch und kräftig den neuen Tag anfaßt – während dort, am Ende des »Bundes«, jenseits der schmalen Wasserader, die die beiden Brücken vom Körper der Stadt eher trennt, als daß sie sie mit ihm verbände, Schamien, das verdorrte, allein weiter schläft, in der Betäubung seiner abgeschnürten, blutleeren Agonie, die die dampfenden, ohnmächtigen Kriegsschiffe auf dem Perlfluß vergeblich bewachen. –

 


 << zurück weiter >>