Alfred von Hedenstjerna
Allerlei Leute – Erster Band
Alfred von Hedenstjerna

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IX.

Von Amtswegen

Bange und unruhig liefen die Diener auf Hjelmskog durch einander, leichenblaß saß die Baronin im Salon. Thränen standen in ihren scharfen, schwarzen Augen, und die grauen Streifen in dem dunklen Haar hatten in einer Woche beinahe überhand genommen. Die kleine Ellen lag vor einem Fauteuil und bohrte das Haupt in die Kissen; ihr gelbes Haar war in Unordnung, lautes Schluchzen und ein Ausdruck wilder Verzweiflung, die sich auch in einer Kinderstimme wiedergeben kann, erstickten ihr Gemurmel: »Sie stirbt! Sie stirbt!«

Der alte Baron war tief erschüttert. Er sah um zehn Jahre älter aus, und als er Pastor Magnusson auf der Treppe entgegenkam, bemerkte dieser, daß die Augen des Alten rothgeweint waren.

»Danke für Ihre Bereitwilligkeit, Pastor! Sie kommen in ein Trauerhaus. Gott, daß ich einen solchen Tag erleben mußte!«

Der kleine, gewöhnlich so gemessene und gezierte Mann brach in krampfhaftes Weinen ans.

Arvid selbst war bleich, und die großen Augen sahen in dem schneeweißen Gesichte wie gemalt aus.

»Es steht schlecht mit Fräulein Gerda, hörte ich.«

»Ihr Leben ist in Gefahr, meines Lieblings Leben! Oh, Pastor, wenn Sie wüßten, was das sagen will!«

Die Augen des Pastors blitzten, und er griff hastig mit der Hand in die Halsbinde, als fürchte er zu ersticken. Die beiden Männer blickten einander in's Auge. Nur der Junge wußte, wie getheilt die Sorge war.

»Sie haben mich rufen lassen, Herr Baron?«

»Ja, sie ist so ... die Krankheit und die Gefahr ... die Schwäche, sehen Sie ... Gott weiß, was sie eigentlich will ... kurz, Gerda wünschte mit Jemand zu sprechen ... über ... ja, Sie verstehen ... sie bedarf des Trostes, das arme Kind.«

Arvid's bleiche Züge verdunkelten sich. Er war also von Amtes wegen gerufen worden.

»Ja, gerade ausgesagt, mein bester Pastor, wie große Achtung ich auch vor Ihnen habe, so hätte ich doch einen älteren Geistlichen gerufen, wenn mir ein solcher zu Gebote gestanden hätte ... Sie nehmen mir's doch nicht übel?«

Der Pastor verneigte sich.

»Noch ein Wort! Es ist Typhus. Sie sind wohl nicht ...«

»Ich bitte Sie, Herr Baron.«

So sollte er sie wiedersehen!

Erst schwankte er wie ein Trunkener; die Nähe der Geliebten, die dumpfige Luft und das gedämpfte Licht des zum Krankenzimmer eingerichteten Jungfrauenstübchens, die vielen, kleinen, eleganten, kaum erkennbaren Gegenstände, mit denen das Zimmer vollgepfropft war, alles machte ihn schwindlig. Später sah er nur das leidende, abgezehrte Gesicht auf dem Spitzenkissen, dessen Blässe noch durch die rothe Decke gehoben wurde. Es war ein verhältnißmäßig ruhiger Augenblick, die Fieberrosen waren verschwunden und die Verheerungen der Krankheit traten unverhüllt hervor.

Und doch war sie schöner, sah sie weiblicher, feiner aus als je zuvor. Der kräftige, befehlende Zug um den etwas grob geschnittenen Mund war verschwunden und die sonst so blitzenden Augen blickten milde und bittend.

Arvid griff krampfhaft nach der vergoldeten Lehne eines kleinen Phantasiestuhles.

»Ist das der Pastor, Papa?«

Großer Gott, wie matt ihre Stimme klang!

»Ja, Gerda.«

»Geh, Anna, und Du, Papa ... sprich ein Bischen mit Mama. Ihre Verzweiflung thut mir so weh hier ...«

Sie legte ihre breite, weiße, jetzt so dünne und abgezehrte Hand auf's Herz.

Arvid schob den Stuhl, von dem die Kammerjungfer eben aufgestanden war, näher und sank wie vernichtet darauf nieder.

»Ich danke Ihnen, daß Sie so schnell kamen. Danke! Hören Sie nun, Sie haben wohl nicht das – ... ich meine die Communionsgeräthe bei sich?«

»Nein ... verzeihen Sie, das war ...«

»Danke! Das zeigt mir, daß Sie mich verstanden haben ... Es ist nicht Todesfurcht ... und ich bin in Wahrheit nicht vorbereitet ... ich würde nicht wagen, so das Abendmahl zu nehmen. So viel Gottesfurcht habe ich, obgleich ich leider nicht viel gedacht habe ...«

Arvid wollte Etwas sagen, aber fühlte so deutlich, daß seine Verzweiflung beim ersten Wort jeden Damm durchbrechen würde.

»Ich bin in dieser Woche um Jahre gealtert, Herr Pastor. Ich habe so viel gegrübelt, o so viel ... mein armer Kopf!«

»Sie dürfen sich nicht anstrengen.«

»Ich muß sprechen! Ich habe in diesen langen, qualvollen Nächten gegrübelt. Vieles, was mir vorher so groß schien, ist zusammengeschrumpft und so unendlich klein geworden, und was mir vorher so unbedeutend vorkam, das ist gewachsen und will mich erdrücken ... jetzt ... – es ist mir gerade, als sei Etwas in mir zerbrochen, sehen Sie ...«

Arvid stand auf und nahm am Schreibtisch Platz, wo der Schatten der Fensterdraperie ihr den Anblick seines Gesichtes entzog.

»Es kommt bisweilen vor, daß Gott, wenn er uns in unserem gewöhnlichen Leben nicht richtig fassen kann, uns aus unserem Familien- und Gesellschaftskreise herausreißt, uns so zu sagen für sich selbst in Beschlag nimmt und auf dem sorgenschweren Lager, in den langen Stunden der Pein das in unser Herz gießt, was wir in den Tagen der Gesundheit, in den Augenblicken der Freude nicht in uns aufnehmen wollten. Die Selbstprüfung ...«

Er brach ab. Sie sah so müde aus und schien gar nicht auf das zu hören, was er sagte. Als er schwieg, schlug sie die matten Augen auf.

»Verzeihen Sie, wie sagten Sie?«

Arvid senkte das Haupt. Ach, an diesem Krankenbette hatte er gewiß nichts zu geben ...

»Es ist nicht Todesfurcht, sehen Sie. Manchmal denke ich, es müßte so süß sein, einzuschlummern, Alles, Alles hinter sich zu lassen und mit losgelöstem Geiste weit, weit fortzuschweben. Eher wollte ich ... möchte ich es Lebensfurcht nennen. Ich meine, wenn ich wieder gesund würde, könnte ich doch nie wieder froh und glücklich werden; ich fühle, daß mein Leben zerstört ist.«

Arvid's Gesicht zuckte. Er nahm den Stuhl am Bette wieder ein.

»Wenn dies Gefühl nicht nur die natürliche Folge der Schmerzen und der körperlichen Schwäche ist, so kenne ich nur drei Verhältnisse im Leben, durch die ich mir dasselbe erklären kann.«

»Ja so, nun verstehen Sie endlich, wie ich es gemeint habe! Nun wann, glauben Sie, empfindet man so?«

»Was mich betrifft, so würde ich solche Gefühle hegen, wenn ich Etwas begangen hätte, was mir den Glauben an mich selbst, die Achtung vor meinem besserem Ich rauben müßte; Etwas, das, wäre mir auch Gottes und der Menschen Vergebung sicher, doch mein ganzes Leben hindurch nicht aufhören würde, mich zu ängstigen. Ich glaube auch, daß man so empfindet, wenn Jemand, den man liebt mit ganzer ... Jemand, dem man recht innig gut ist, fortgerafft wird und eine Lücke reißt, die weder Zeit noch ...«

Er blickte sie an. Jetzt war sie nicht mehr müde und gleichgültig. Die braunen Augen bohrten sich in die seinen.

»Und das Dritte?«

»Ja, wenn man sich in seiner Lebensaufgabe geirrt hat, wenn man einen Weg eingeschlagen, der, wie gut er an und für sich auch sein mag, doch nicht der rechte war, und man einsieht, daß es zur Umkehr zu spät ist. Wenn man einen, für's ganze Leben entscheidenden Beschluß gefaßt hat und dann findet, daß man sich geirrt hat, daß es ein Fehler war.«

Sie hatte das Gesicht halb abgewandt und lag schweigend da, während ihre Brust sich leise unter dem wiederkehrenden Fieber hob, das sie für ein paar Stunden verlassen hatte.

Die Uhr auf der kleinen, geschnitzten Commode tickte so laut in dem tiefen Schweigen. Arvid ließ den Blick in dem dämmerigen Raume umherschweifen. Er betrachtete jeden Gegenstand mit gierigem Interesse. Hier hatte sie im Fieberschlafe gelegen, sie, die seinem Leben alles Glück genommen, hier hatte sie der Jungfrau Rosenträume geträumt, von hier würde sie in's Brautgemach gehen oder ...

Die dunklen Augen leuchteten auf. Denk', wenn sie statt dessen in's Grab ginge! Wenn der verhaßte Andere verurtheilt bliebe, zu entbehren, auf ewig zu entsagen, wie er selbst, der arme Landpfarrer! Würde ihn dann die Trauer um sie weniger niederdrücken? Vielleicht ... aber sie ... der Schleier des Todes über diesem stolzen Blick, die Vergänglichkeit über dieser herrlichen ...

Zum ersten Male saß er am Siechbette eines jungen Weibes, in dem er etwas Anderes als den leidenden Nächsten sah ...

»Und wie lange kann man irre gehen, ehe es unwiderruflich zu spät ist?«

Sie hatte ihm hastig das Gesicht zugewandt und betrachtete ihn forschend.

Der Pastor fuhr zusammen. Seine Gedanken weilten in der Ferne; sie hatten die Schranken der Gegenwart und der Wirklichkeit durchbrochen und weilten auf Arcadiens immergrünen Rasenplätzen.

»So weit, Fräulein Gerda, bis es zwischen der Ehre und der Lebensfreude kein Compromiß mehr giebt.«

Sie verbarg das Gesicht in den Händen, und klare Perlen glänzten zwischen den weißen Fingern.

Es fuhr wie ein Blitz durch Arvid's Seele. Großer Gott, stand es so!

Und als er sich erhob, um zu gehen – um sie nicht zu sehr zu ermüden, wie er sagte – und als er die abgezehrte, knochige Hand zum Abschied drückte, blickte er tief in das theure Antlitz und sagte:

»Doch die Gesetze der Ehre und die Vorschriften der Convenienz sind, wie Sie wissen, Fräulein Gerda, nicht alle Zeit gleichbedeutend. Das Urtheil des Gewissens ist ein Ding, das Urtheil der Welt ist ein ander Ding. Falsche Scham hat schon Manchen, der noch den rechten Weg hätte finden können, dorthin getrieben, wo die schwachen Seelen ...«

Er verstummte.

»... Die schwachen Seelen?«

»... tief fallen oder ... Hand an ihre körperliche Hülle legen.«

Sie bohrte das glühende Gesicht tief, tief in die Kissen, und die eingesunkenen Wangen brannten, da ihr klar wurde, daß sie nicht mehr allein die Hüterin des Geheimnisses war, das ihr unter ihrem Leiden zur Erkenntniß gekommen war, des Geheimnisses, daß Gerda Stalsköld's klarer Kopf den falschen Weg eingeschlagen hatte, als er glaubte, ohne Begleitung des Herzens, fest und sicher auf dem von Gold und Rang gebahnten Wege zum Traualtar, durch's eheliche Leben in Leid und Freud' vorwärts schreiten zu können.


Als sie endlich wieder aufblickte, war sie allein.


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