Alfred von Hedenstjerna
Allerlei Leute – Erster Band
Alfred von Hedenstjerna

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Durch Eis und Schnee

Die schmalspurige Zweigbahn war nur elf Meilen lang. Sie hatte drei Locomotivführer und schlechte Einnahmen. So ging es nicht an, diesen viel zum Leben zu geben, da der Director selbst mit blankgescheuerten Aermeln herumlaufen mußte und seine Frau Handschuhe auf Provision verkaufte.

Ungefähr in der Mitte der Linie lag eine kleine, kleine Stadt, wohin das Scharlachfieber zwei Mal im Jahre kam, aber die neueste Mode erst ein ganzes Jahr später, nachdem sie in Stockholm abgelegt worden war. In der schmalsten Straße dieser kleinen Stadt, in einem freundlichen, gelbangestrichenen Häuschen, das durch stets blankgeputzte Augen von Ausschußglas in die Welt blickte und üppige Geranien als Augenlider hatte, wohnte Zugführer Lindahl von der schmalspurigen Eisenbahn. Und hinter den Geranien neigte sich das hübsche, bleiche Antlitz seines lieben, kleinen Weibes über endlose Leinensäume, und um die Füße der Nähmaschine spielte ihr dreijähriger, blauäugiger Gustav. Wenn die Mama das Schwungrad der Maschine einölte und es herumsausen ließ, stand Gustav keck und breitbeinig dabei, streckte sein rundliches Händchen aus und commandirte: »Zug ab!«

Es war nun vier Jahre her, seit Papa und Mama zusammengekuppelt wurden und zusammen »Zug ab!« in's Leben fuhren. Richtung und Fahrplan kannte man freilich nicht vorher, doch es scheint, als ob der Zug nur wenig Güter mit sich führte, gut um die Kurven kam, aber sich lange, lange aufhalten mußte, ehe er eine Wasserstation auf der Fahrt erreichte. Aber vorwärts ging es doch, denn die Liebe fuhr mit und feuerte treu an, wenn die Nahrungssorge die Linie undeutlich machen wollte.

Lindahl wurde von seiner Verwandtschaft geradezu als verrückt betrachtet, als er bei der Schmalspurigen eintrat. Er hatte ja die Prima des Gymnasiums durchgemacht und hätte vielleicht in fünfundzwanzig Jahren eine wirklich feine Stellung einnehmen können, wenn er studirt hätte. Aber Lindahl hatte zu tief in die liebevollen Augen von Fahnjunker Blomvall's munterer Maria gesehen, und fühlte, daß er nur eine Stelle brauche, die ihm schnellen, wenn auch knappen Verdienst verschaffe. So war es gekommen, daß diese Beiden und noch ein Kleiner dazu in zwei Zimmern des freundlichen, gelben Hauses mit den Geranien wohnten. Es war dort niedrig, aber gemüthlich und warm.

Die Wange wurde rußbedeckt und die Brust kalt in dem Schneetreiben draußen auf der Bahn, aber hier drinnen thaute sie auf in Maria's runden Armen und an Gustav's liebem, goldblondem Köpfchen, das sich so dicht an Papa's Lederwamms schmiegte, wenn er Abends heimkam.

Lindahl mußte einen Tag den Zug nach Süden bis zur Endstation führen und ihn am Abend wieder zurückbringen. Den folgenden Tag war er dann dienstfrei, und in seiner Sehnsucht nach diesem Augenblick stieg er mit Lust und Liebe auf sein Dampfroß und freute sich wie ein Kind über jedes Abfahrtssignal; es brachte ihn ja dem Kleinen und Maria näher.

Darum wunderte sich auch der Bahnhofsinspector, als er den Führer eines Morgens bleich und düster, mit schwarzen Ringen unter den Augen auf die Maschine steigen sah.

»Fehlt Ihnen Etwas, Herr Lindahl?«

»Unser kleiner Gustav wird wohl sterben müssen, Herr Inspektor.« Und damit ging der Zug ab.

Die ganze Woche war es hartes Frostwetter gewesen. Heute schneite es wieder und stürmte dazu. Der Zug kam auf jeder Station zu spät an, bei jeder wurde es später und später, und als man umkehrte, war es ungewiß, ob man die kleine Stadt Abends überhaupt noch erreichen würde. Es glückte, und mit einer Verspätung von zwei Stunden fuhr der kleine Zug in die Station ein. Er sah, wie ein Spielzeug aus, wie alles Material auf unseren schmalspurigen Zweigbahnen. Mit einem »Gott sei Dank!« sprang Lindahl hastig auf den Perron und wollte heim eilen zu den Seinen.

»Lindahl!«

»Herr Inspector?«

»Wir sitzen in einer verteufelten Klemme. Der Mittagszug nach Norden mußte ein und einen halben Kilometer von hier wegen einer gewaltigen Schneewehe die Fahrt einstellen. Nun haben fünfzig Mann das Geleise dort freigeschaufelt und es ist jetzt möglich, den Zug durchzubringen. Er muß nun abgehen, aber Jensen liegt besinnungslos und der Doctor hat Typhus constatirt. Er hat ihn sich bei diesem Hundewetter auf der Maschine geholt. Sie müssen den Zug übernehmen.«

»Was, jetzt – zur Nacht? – Herr Inspector – ich bin erkältet – überanstrengt – ich habe keine übermenschlichen Kräfte.«

»Es ist hart, das weiß ich; aber im Reglement steht Nichts von »Ueberanstrengung«. Sind Sie so krank, daß die Sicherheit der Passagiere und des Materials in Frage gestellt wird, wenn ich Sie fahren lasse?«

»Vielleicht nicht – aber Herr Inspector – mein kleiner Gustav stirbt gewiß in dieser Nacht – wenn es nicht schon geschehen ist –«

»Es thut mir leid, Lindahl, aber über kranke Kinder steht gewiß kein Wort im Reglement. Können Sie fahren oder nicht?«

»Wann soll der Zug abgehen, Herr Inspector?«

»Sieben Uhr fünfzehn.«

»Karlsson, anheizen! In zehn Minuten bin ich zurück.«

Zu Hause stand es schlecht. Feucht klebten die blonden Locken an der Stirn des kleinen Gustav, es rasselte im Halse und die kleinen Hände mit den Grübchen waren krampfhaft geballt. Die Brust hob sich mühsam und der Blick war so angstvoll, wie der eines verwundeten Vogels. – Der Mutter Thränen waren versiegt; bleich, mit fest zusammengepreßten Lippen trocknete sie den Fieberschweiß von den Wangen ihres Lieblings. Aber als der Vater kam, brach es wieder los, bebend und schluchzend hing sie an seinem Halse und rief: »Er stirbt! er stirbt! Aber er darf nicht sterben, er kann nicht sterben! Der Doctor sagt, es sei kaum ein Schimmer von Hoffnung. Aber Gott kann nicht so grausam sein! Gusti, hier ist Papa, er bleibt nun die Nacht über bei seinem lieben Jungen. Gusti, Du kennst doch Deinen Papa wieder?« Mühsam theilten sich die blutunterlaufenen Augenlider, das Rasseln verstummte einen Augenblick, der Schatten eines Lächelns fuhr über die Wangen und die kleinen Lippen stammelten: »Lieber Papa, Du sollst an Gusti's Bette sitzen!« – –

Wieder stand er auf der klappernden Maschine, wieder ging es durch Eis und Schnee. Er wußte nicht, wie er sich aus Maria's Armen losgemacht hatte und auf die Locomotive gekommen war. Aber nun stand er da und sein Blick heftete sich fest auf die Schneewehen im Geleise. Die Schaufeln durchschneiden eilig die weißen Hügel und werfen weiße Wolken nach jeder Seite. So, gerade so gefühllos schneidet der Schmerz in seine Brust ein. Wie kalt es dort unten ist in dem harten Boden unter dem tiefen Schnee! Und dort soll sein kleiner Gustav bald gebettet werden, tief, tief hinein! Nie sollte er wieder spielen: »Zug ab!« nie wieder würden seine kleinen Schritte auf dem Fußboden erschallen, wenn er den Papa die Thür öffnen hörte. Nie würde er sein: »Guten Abend, lieber Papa!« wieder zwitschern. O! –

»Was giebt's?«

»Nichts, Karlsson!«

»Es kam mir so vor, als ob Sie so unheimlich aufschrien, Herr Lindahl.«

»Stehen Sie nicht da und träumen. Ich sage ja kein Wort. Nachheizen!«

Bei der nächsten Station stieg der einzige Passagier des Zuges aus. Der dicke Herr fuhr erster Classe und im Biberpelz. Sein Schlitten hielt am Perron und der Kutscher empfing ihn. Der Zug war nur kurz und so hörte und sah der Führer Alles.

»Wie steht's zu Hause, Blomqvist?« sagte der dicke Erstclassige.

»Alles wohl, gnädiger Herr!«

»Meine Frau und Kinder gesund?«

»Jawohl. Alle gesund!«

Es schnitt dem Führer in's Herz. Der dort im Biberpelz und dem eigenen, bedeckten Schlitten, reich, froh und zufrieden, eilte in sein warmes, schönes Heim. Ihn würden Weib und Kinder gesund und froh empfangen und ihm jubelnd die Arme öffnen; wahrend er, der arme, halberfrorene Zugführer auf der kalten Maschine morgen nur ein gebrochenes Weib und eine starre, kleine Leiche im Korbwagen finden würde.

Weiter durch Schneewehen und Nordwind. Letzte Station! mehr Kohlen! Erst am folgenden Tage sollte der Zug zurückgehen, um als Zug Nr. 3 wieder die regelmäßigen Fahrten nach dem Schneesturm aufzunehmen. So lautet die telegraphische Ordre.

Die Naturgewalten hatten ausgetobt und feierten Sabbath. Ein weißes Tuch lag über ihrem Altar ausgebreitet und die Sonne strahlte vom Firmament. Schneediamanten glitzerten auf den dunkelgrünen Tannen, die sich unter der Last beugten, die Bahnlinie lag frei und offen da, und an den Fenstern, an denen man vorbeieilte, saßen frohe und zufriedene Menschen, schauten den kleinen Spielzeugzug an und freuten sich, daß die Züge nun wieder wie gewöhnlich gingen. Der Führer wandte sich hastig zur Seite. Zwei große Thränen rollten langsam die schwarzen Wangen nieder. Schnitt der Wind heute auch so scharf? O – nein – da saß nur eine Frau mit ihrem kleinen Jungen auf dem Schoße an dem Fenster der kleinen Hütte dort an der Bahnlinie. Endlich – da! Er will keinen der Kameraden auf der Station fragen, wie es steht, er will es nur von den einzigen Lippen auf der Erde hören, die ihm die Bitterkeit mildern können, und so stürmt er nach Hause, ohne mit Jemand zu reden.

In dem gelben Hause hingen die feinen, weißen Gardinen wie gewöhnlich und die Geranien standen wie immer dahinter. Es schien ihm, als ob sie ihm zunickten: »Klein Gustav ist todt! Klein Gustav ist todt!« Er flog die Treppe hinauf und riß die Thür auf. Maria fiel ihm schluchzend, aber unter Thränen jubelnd um den Hals, und im Korbwagen saß Klein-Gustav bleich und schwach, aber frei von Schmerzen und dem Leben wiedergegeben! Er spielte mit einem kleinen, rothen Zeuglappen an einer kleinen Stange und lallte: »Zug ab, Zug ab, lieber Papa!«


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