Alfred von Hedenstjerna
Allerlei Leute – Erster Band
Alfred von Hedenstjerna

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Die große Schwester

Es war ein außergewöhnlich schöner Herbst gewesen, nachdem der Sommer noch länger verweilt hatte, als er sonst zu thun pflegt. Doch im October schlug plötzlich und unerwartet das Wetter um, und ehe man an Doppelfenster oder Winterüberzieher denken konnte, war der Winter da. Das ist die Zeit der Lungenentzündungen und da starb Secretair Bark.

Herr und Frau Bark hatten auch einen schönen Lebensherbst gehabt, nachdem ihr Sommer von Frost und Wolkenbrüchen verheert worden war. Sie hatten einander zu früh gehören wollen, während der Frühling ihnen noch lächelte, und die Folge davon war Noth und Mangel gewesen. Der Kampf mit diesen Beiden hatte ihren Hochsommer ausgefüllt. Aber nun war der Kampf zu Ende und die ärgste Armuth über die Schwelle des Heims hinausgedrängt und die Herbstsonne schien lächelnd auf die Köpfe, die mittlerweile ergraut waren. Doch auch hier kam der Umschlag, ehe man noch von dem Kampfe um den Lebensunterhalt hatte aufathmen können; und der Tod – ein Gläubiger, an den man nicht gedacht, obgleich man ihm mit der gesundheitsschädlichen Arbeit langer Nächte Zinsen bezahlt hatte – kam und holte Secretair Bark, ohne sich um Mama's Thränen und Annie's und Viva's Jammer zu kümmern.

Doch obwohl der Tod sich nie bewegen läßt, seinen erhobenen Arm zurückzuhalten, so sieht man doch manchmal selbst den Knochenmann weich werden. Er hält dann freilich nicht mit dem Todesstreiche inne, aber er trifft oft da wieder, wo er Zwei sieht, die einander zu viel gewesen sind, um sich trennen zu können.

Und deshalb folgte Frau Bark auch jetzt ihrem Wilhelm und ließ Annie und Viva einsam zurück.

Annie war die große Schwester mit kräftiger Gestalt, hohem Wuchs, schönen, energischen und doch harmonischen Zügen, die wie in Marmor gemeißelt schienen, braunem, welligem Haar über einer hohen Stirn und zwei großen, dunklen Augen, die selten lächelten. Sie hatte Papa's und Mama's sorgenvollste Zeit schon mit erlebt; ihre frühesten Erinnerungen waren Thränen über vertragene Kleider, die nicht durch neue ersetzt werden konnten, Weihnachtsabende ohne Feststimmung, schlaflose Nächte der Miethe wegen. Daher war sie so frühreif, war sie schon mit vierzehn Jahren ein denkendes Weib, daher lächelten die großen, dunklen Augen so selten.

Viva war die kleine Schwester, und Keiner im ganzen Stadtviertel wußte, wie sie eigentlich hieß. Doch wenn zwei Füße, kleiner als alle anderen, eine kleine, zarte, graziöse Gestalt, beweglicher als alle anderen, über das Trottoir nach der Schule trugen, dann streckten die Mütter die Köpfe aus dem Fenster und lächelten und murmelten: »Viva!« Und wenn eine Stimme, klangvoller als alle anderen, und ein krauses Lockengewirr, gelber als Gold, auf dem Spielplatze waren, dann schrieen die Knaben in wildem Entzücken: »Viva, Viva!« Und als Mama todt war und das Aschenbrödelfüßchen ruhte, die goldenen Locken vom Weinen erschütterten, und ein rosiges, verweintes Gesichtchen sich in der Sophaecke verbarg, da schlang die große Schwester die Arme fest um den Leib der kleinen Elfe, küßte sie und flüsterte: »Meine Viva!«

So mußte sie doch wohl Viva heißen, obwohl sie nicht so getauft sein konnte.

Die große Schwester war zwanzig, die kleine Schwester vierzehn Jahre alt, als sie allein in der Welt standen.

Tante Erika kam und wollte Viva zu sich nehmen. Sie hielt es für ihre Pflicht, eine schwere Pflicht, und meinte, Annie könnte sich wohl als Lehrerin eine Stelle suchen.

Doch die große Schwester sagte Nein und zog die noch immer weinende Viva an sich. Sie erklärte, daß sie Beide zusammenleben und arbeiten und – wenn es so sein müsse – auch zusammen hungern wollten.

Tante Erika zog sich zurück mit bedenklichem Kopfschütteln und dem süßen Gefühl treuer und kostenloser Pflichterfüllung. Ein paar Wochen später stand auf einem kleinen Schild in der feinsten Straße der Stadt: »Annie Bark, Modistin.« Annie war gerade keine Anfängerin in dieser Branche, denn dann wäre es wohl niemals gegangen. Sie hatte mehrere Herbste hindurch, wenn besonders viel zu thun war, in Frau Svensson's Schneideratelier gearbeitet; sie hatte Geschmack und auch flinke Finger.

Es reichte zum Leben. Es reichte auch zum Schulgeld für Viva, so daß diese viel gelehrter wurde und Chopin viel besser vortragen konnte, als die große Schwester. Es reichte sogar zu einem Sparpfennig für ein Marmorkreuz auf einem Granitsockel für das Grab der Eltern. Und, das Beste von Allem, es reichte zu einem sorgenlosen, sicheren Heim, so daß die große Schwester die kleine bei sich behalten konnte, so daß die Beiden, die einander Alles waren, jeden Abend nach beendeter Tagesarbeit in demselben reizenden Stübchen zur Ruhe gehen konnten, wo Annie oft noch stundenlang Viva's ruhigen, gleichmäßigen Athemzügen lauschte und noch manchmal mitten in der Nacht Licht anzündete, um das kleine, lichte, reine Kinderantlitz mit dem wunderbar schönen Händchen unter der Wange zu betrachten.

Da kam er!

Er war Extraordinarius am Gymnasium, hatte fünfzehnhundert Mark Gehalt und wenig Schulden. Und dann hatte er einen prächtigen Bariton und ein gutes, jugendliches Herz, das aus Augen blickte, die häßlicher hätten sein können. Und er war im Allgemeinen lebensfroh und noch froher, wenn er die beiden Fräulein Bark auf den Abendgesellschaften beim Director traf oder wenn er Cravatten- und Manschettenknöpfe brauchte, die es auch in Annie Bark's Modegeschäft gab, und am allerfrohesten, als es sich herausstellte, daß das Geschäft eine solche Ausdehnung gewonnen hatte, daß Annie Bark die nöthige Zeit zum Führen der Bücher und Ausschreiben der Rechnungen nur mühsam der Arbeit mit den Hüten und Halskrausen abstehlen konnte.

Und so kam er denn alle Nachmittage, wenn er mit der Schule fertig war, und schrieb mit seiner zierlichsten Handschrift die Eintragungen in Fräulein Annie's Hauptbuch und schickte den Damen in Skogstad so schön geschriebene Rechnungen, daß sie ganz verblüfft waren.

Aber je länger er schrieb, desto mehr schien es, als käme Sonnenschein in Annie's dunkles, schönes Marmorgesicht, und die stolzen Augen lächelten öfter als früher, und die Lippen kräuselten sich wie die Wellen des Sees im Abendwinde, wenn der Magister etwas Lustiges sagte; und damit war er auch nicht sparsam, das muß man ihm lassen.

Und Viva war ja nur noch ein Kind.

Das Ansehen der Firma Annie Bark war so gut und fest, daß, so unerhört es auch klingen mag, die bösen Jungen sich im Zaum hielten und Niemand ein herabsetzendes Wort über die Leiterin der Firma sagte, obgleich sowohl das Kassenbuch wie das Hauptbuch von einem baritonsingenden Magister geführt wurde.

Doch da entstand ein Conto, das Keiner sah.

Eines Vormittags, als alle Bücher in Ordnung waren und keine Rechnungen ausgeschrieben zu werden brauchten, kam er. Aber er hatte frei, weil die Klassenzimmer gescheuert wurden, und er war im besten Anzuge und dabei roth wie ein Mädchen. Sein Bariton schlug beinahe in's Falsett über, als er sagte:

»Fräulein Annie, ich ...«

»Nein, sieh, willkommen! Nehmen Sie Platz, Herr Doctor! Haben Sie die Fächer im Schaufenster gesehen? Sind sie nicht reizend?«

»Ja, aber es handelt sich um Etwas, das ich Ihnen lange, lange habe sagen wollen, Fräulein Annie ...«


Still doch, Du närrisches Herz! Er kommt ja jetzt. O, er kommt, und die Liebe wird ihr Zauberlicht über lange, mühevolle Jahre, über Müdigkeit und Traurigkeit werfen.


»Ich möchte Sie so herzlich gern um Etwas bitten, Etwas sehr ... unendlich ... ich meine etwas sehr Großes ...«


Nicken nicht die Hüte vor Freuden von ihren Stöcken? Strahlen nicht die Fächer in Goldglanz? Aber stille doch! Es kommt ja jetzt!


»Sie wissen, Herr Doctor, wenn es im meiner Macht steht, so ...«

»Ja, ich weiß, ob aber wohl dies? Ob auch nun, da ich das Höchste, Lieblichste, Theuerste von Allem begehre?«


O, wie bist Du dumm, Du Lieber, Theurer! Siehst Du mein Sehnen nicht! Wozu Worte, wo Du nur die Arme zu öffnen brauchst! Wenn nur Viva nicht gerade jetzt hereinstürmt! Sie ist so ein unverständiges Kind. Wenn sie doch nur noch ein Bischen warten wollte. O, wie glücklich werden wir alle Drei leben! Immer zusammen ...


»Was in aller Welt wollen Sie denn haben, Herr Doctor«, fragte sie und versuchte zu lächeln.

Da stand er auf, ergriff ihre Hand und flüsterte mit bebender Stimme:

»Geben Sie mir Viva!«

* * *

Es ist Juni und der Sommer ist gekommen. Es ist Juni und die Schulzeit ist zu Ende. Der Magister ist fest angestellt worden, und auf dem Hotel weht eine Fahne. Die Sonne lächelt, und die große Schwester giebt Viva die Hochzeit, eine große Hochzeit mit allen Finessen, Brautjungfern und Trauzeugen. Doch die große Schwester selbst will nicht Brautjungfer sein. Wie würde das auch aussehen, ist sie ja doch so viel älter als die Braut. Lachend hat sie erklärt, daß sie nur als »Brautmutter« fungiren will. Und darum kommt sie auch nun in schwarzer Seide mit Juwelen und sieht herrlich und stattlich aus. Ja, Juwelen! Der Schwager hat selbst den letzten Abschluß in den Büchern gemacht und dort den Beweis gefunden, daß die Firma Annie Bark sich das erlauben kann. Sie kann sich auch erlauben, die neue Wohnung des Gymnasiallehrers geschmackvoll zu möbliren. Viva hat eine prächtige Aussteuer bekommen, obgleich ihre beiden Eltern arm waren.

Schwarze Seide am Hochzeitstage der Schwester! O, wenn die Fünfundzwanzigjährige wüßte, welche raffinirte Coquetterie darin liegt, wenn sich eine reife Frau etwas »älter« kleidet, als sie ist. Es ist, als spielten die Amoretten in den Falten des Kleides Versteck, als wären die Grazien auf der Maskerade.

Aber Annie hatte sich nicht aus Coquetterie so gekleidet. Sie kam sich selbst so alt und mütterlich vor, und eine andere Kleidung würde ihr widerstrebt haben.

Sie war eine prächtige, stattliche Wirthin, obgleich sie zum ersten Male in ihrem Leben als solche auftrat. Die Gäste sahen sie beinahe mehr an als die Braut, die doch in ihrem weißen Kleide lieblicher, kindlicher, elfenhafter, als je zuvor aussah; und der Oberlehrer der Mathematik, der Junggeselle war, besann sich darauf, daß vor der Firma Annie Bark in der Zifferncolonne eine runde, hübsche Zahl stand, und gab sich selbst das Versprechen, recht fleißig in dem Hause seines jungen Collegen, des neuen Gymnasiallehrers, zu verkehren.

Da herrschte Jubel und Freude, da waren Reden und Gesang, Trinksprüche und Hochzeitsgedichte. Zuletzt ergriff der überglückliche Bräutigam sein Glas und hielt eine warme und hübsche Rede auf die theure, edle Schwester seiner geliebten Viva. Dankte ihr für Alles, was sie Viva und ihnen Beiden gewesen war, und versprach es, ihr damit lohnen zu wollen, daß er ihrem beiderseitigen Liebling den Lebensweg so licht und glücklich machte, wie es in menschlichem Vermögen stehe.

Und Annie lächelte, schloß Viva in die Arme und klopfte dem Schwager munter und kameradschaftlich auf die Schulter; und der Oberlehrer der Geschichte, der in freien Stunden auch Philosoph war, murmelte: »Welch' göttliche Schwiegermutter!«


Die Fahne ist herabgezogen und die Hotelräume haben sich geleert. Auf den Straßen von Skogstad sieht man nur noch die Nachtpolizisten. Die Kirchenuhr schlägt Eins. Die Fenster sind dunkel und Skogstad schläft hinter heruntergelassenen Rouleaux. Ein einziges Fenster ist noch hell. Das ist in dem neuen Heim des jungen Paares. Da sitzt der junge Ehemann auf der Chaiselongue mit Viva auf dem Knie; und die Wangen der jungen Frau glühen immer heißer, ihre Brust hebt sich immer höher, während ungeschickte, liebe, große, bebende Finger Kranz und Schleier lösen ...

Aber draußen auf dem Kirchhofe, die Arme um ein Marmorkreuz auf einem Sockel von schwedischem Granit geschlungen, kniet eine dunkle Gestalt, drückt die brennende Stirn gegen den kalten Stein und flüstert: »Papa, Mama, nun ist Viva glücklich! Die große Schwester hat Alles für sie gethan, Alles, was sie konnte!« Doch als sie nach Hause kommt und zum ersten Mal seit achtzehn Jahren das eiserne Bett der kleinen Schwester zusammengeschoben und ungemacht stehen sieht, da fühlt sie sich einsam, so einsam wie nie zuvor, da bohrt sie ihr stolzes, dunkles Haupt, in dessen Zügen die Welt niemals triumphirend getäuschte Hoffnung und zertrümmertes Glück würde lesen können, tief in die weißen Kissen und stöhnt unter krampfhaftem Weinen: »Meine Viva, warum hast Du mir ihn genommen!«


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