Alfred von Hedenstjerna
Allerlei Leute – Erster Band
Alfred von Hedenstjerna

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Pettersson & Co.

Drunten am Hafen, nicht an dem engen, schmutzigen Fischerhafen, sondern an dem größeren, hellen, freundlichen, wo die ordentlichen Schiffe anlegten, hatte die Firma Pettersson & Co. ihr Haus. Es war ein großer, alterthümlicher Bürgerpalast mit kleinen Fenstern und engem Vorplatz, einer Steintreppe, Comptoir und En gros-Geschäft links, Ladengeschäft rechts vom Eingange; und darüber lag die Familienwohnung, aus der die Herren Pettersson seit mehr als hundert Jahren in die Welt gegangen waren.

Zuerst kamen sie die große Treppe hinunter und auf den Markt. Da saßen sie noch auf dem Arm der Amme und blickten mit großen blauen, stets blauen Kinderaugen neugierig umher unter kleinen, coquetten Mützen und aus der Umhüllung niedlicher Babymäntel, die die Pettersson'schen Frauen stets reizender und hübscher machen ließen, als alle anderen Mütter der Stadt.

Und das ganze Comptoir- und Ladenpersonal, von dem alten, grauhaarigen Procuristen bis zu dem Laufjungen mit roten Fingern und verfrorener Nase, blickte durch die kleinen, bleigefaßten Scheiben hinaus und dachte: »Da haben wir den kleinen, zukünftigen Chef des Hauses Pettersson & Co.«

Später stürmten sie auf eigenen Beinen die Treppe hinunter, fröhliche, hurtige Schulknaben mit sonnigem Blick und Büchern unter dem Arm. Die Kameraden, die Lehrer, die Schiffer und die Kuchenfrauen, Alle sahen in ihnen den künftigen Chef der Firma Pettersson & Co. Denn daß ein Kind aus dem großen, grauen Hause am Hafen etwas Anderes werden könnte, eine andere Bahn als der Vater und Großvater betreten würde, daran dachte man ebensowenig wie, daß die Sonne vergessen könnte, des Morgens aufzugehen.

Aber die jüngeren Söhne?

Es gab keine jüngeren Söhne! Höchstens einmal eine kleine Schwester, die sich, wenn sie das passende Alter erreicht hatte, stets mit dem Erben einer anderen alten und wirklich soliden Firma verheirathete. Aber das Haus Pettersson & Co hatte immer nur einen männlichen Erben.

Die Jahre gingen hin. Aus dem Schulknaben wurde ein Mann. Eines schönen Tages wurden Comptoir und Laden gefegt, die Fensterscheiben von Staub und Spinnenweben gereinigt, oben in der Familienwohnung neue Gardinen aufgesteckt, und die alten, schweren, kunstreich gearbeiteten, perlfarbenen, goldbroncirten Ebenholzmöbel prunkten mit neuen Bezügen. Blumen in allen Vasen, Sonnenschein in aller Augen und eine große, schöne Guirlande über der Eingangsthür. Und dieselbe alte, dunkle, häßliche, liebe Treppe hinauf, über die er als Kind getragen und als Jüngling geeilt war, kam nun Herr Pettersson Junior mit seinem Weibe. Und wenn es der jungen Frau in dem steifen, sonderbaren Hause ein Bischen ängstlich und beklommen zu Muthe wurde, so wurde sie doch drinnen im großen Saale wieder warm und froh, wenn vier alte, treue Arme sie umfingen und vier frohe, herzensgute Augen ihr entgegenlächelten: »Willkommen, liebe Tochter!«

Und zu seiner Zeit wurden die Fenster weiß verhängt und Tannenzweige lagen vor der Thür. Die Schiffe flaggten auf Halbmast, die Kirchenglocken läuteten und der Leichenwagen kam, um Pettersson junior zum letzten großen Buchschluß abzuholen. Da war denn stets ein junger, kräftiger Chef hinter dem Pulte und in der Kinderstube oder auf der Schulbank ein Bübchen, das die Thronfolge der Firma sicherte, und so konnte denn Großvater ruhig durch die Gitterpforte des Kirchhofes fahren.

Eine junge, eben verheirathete Frau Pettersson Junior stand einmal auf dem Markte und betrachtete das Haus.

»Aber Karl, weshalb hat das Geschäft kein Schild?«

Pettersson Junior lächelte und richtete sich um ein paar Zoll auf: »Mein alter Großvater erinnerte sich, gehört zu haben, daß da einmal ein Schild gewesen sein soll. Aber jetzt, Luise, ist es sehr lange her, daß unser Geschäft eines Schildes bedurfte.«

Wer war Co.? Das wußte Niemand. Nie war mehr als ein Wille, eine leitende Hand in der Firma gewesen; selbst Pettersson Junior hatte eher nichts im Geschäft zu sagen, bis der Prediger die Factura auf den Senior bekommen hatte. Co. war gewiß nur ein Phantasiegeschöpf des ersten Pettersson.

Es war ein altes, frommes und ehrenhaftes Geschlecht, das vorwurfsfrei lebte, seinen Nächsten liebte, seines Gleichen hochachtete, auf Gott, der ihm immer geholfen hatte, traute und sich auf das Hauptbuch, das stets Ueberschuß zeigte, verließ. Ein Bayard, ein Gottfried von Bouillon hielt sein Schild und seinen Namen nicht reiner als die Pettersson's ihre Firma, und es war ebenso unmöglich, in Pettersson's Contocorrent einen Fehler zu entdecken, wie ein mathematisches Axiom umzustoßen. Und der Reichthum wuchs, und immer mehr Schiffe brachten von allen Enden der Welt ihre Waaren in das große, graue Haus an dem kleinen Hafen, hoch oben im Norden.


Da kam das Entsetzliche. Schlag auf Schlag folgte ein Unglück dem anderen; keine Klugheit, keine Vorsicht half; zwei Jahre rissen ein, was Jahrhunderte erbaut hatten; der Reichthum schmolz wie ein Gletscher unter der Lava; das ganze Land war in einer Krisis, und das alte, graue Haus erbebte in seinen Grundfesten.

Andere Häuser erbebten noch mehr, ja drohten mit Einsturz. Aber deren Chefs waren vernünftige Männer, die mit 50, 30 und 25 Procent »accordirten«, und nach sechs Monaten standen sie ebenso herrlich und solide da wie je zuvor.

Aber Pettersson & Co. wollten nicht »accordiren«. Mit zitternder Hand notirte der alte Procurist den einen Unglücksschlag, den einen Verlust nach dem anderen; lange, schlaflose Nächte hindurch saß Pettersson senior am Pulte, bis die Augen trübe und das Haar weiß wurde. Und die Ziffern des Hauptbuches reihten sich immer gleichmäßiger zu einer Leichenprocession, deren schwarze Glieder Pettersson & Co.'s Millionen zu Grabe trugen.

Eine Nacht hatten die beiden Alten hindurch gearbeitet, und der dämmernde Herbstmorgen begann grau in's Comptoirfenster zu scheinen. Der Chef fühlte einen leichten Schlag auf seiner Schulter. Er blickte auf. Es war Stark, der alte Procurist.

»Was wünschen Sie, Herr Stark?«

»Ich möchte nur wissen, Herr Pettersson, ob Sie erfahren haben, daß Andersson & Ringman 75 Procent geben?«

»Ja, ich weiß es; wir werden, soweit es uns betrifft, darauf eingehen. Wollten Sie das wissen?«

»Nein ... ja ... hm ... könnten wir nicht auch ... verzeihen Sie, Herr Pettersson, ich meine es nicht böse ... 75 Procent bieten; ich fürchte ...«

Ein Beben durchfuhr die gebeugte Gestalt des Chefs. So war dies Wort denn nun zum ersten Mal in Pettersson & Co.'s Comptoir ausgesprochen worden! Seine Augen blitzten; doch im nächsten Augenblick wies er auf die Bücher und sagte sanft, aber bestimmt: »Bitte, kümmern Sie sich um Ihre Arbeit, Herr Stark!«

Dann fiel es ihm ein, daß er doch wohl zu strenge gegen den Alten gewesen war; er stand auf, klopfte ihm auf die Schulter und sagte: »Nehmen Sie's nicht übel, Herr Stark; aber Pettersson & Co. werden sich niemals zu einem Accord verstehen!«

»Verzeihen Sie ... aber ... aber ... denken Sie an Herrn Heinrich, Herr Pettersson!«

Der Chef senkte das Haupt. Heinrich! Das war sein einziger Sohn, der Junior und künftige Chef der Firma. Sollte er aus diesem lieben, alten Hause gehen, wie der Sperling von der ausgedroschenen Aehre! – Er löschte die Lampe aus, nickte Stark zu und ging in die obere Wohnung.

Vielleicht war es kindisch, so fest an der alten, fleckenlosen Firma zu halten? Er hatte ja selbst bei Anderen so unerhört verloren. Was denn, wenn er nun selbst nicht bis zum letzten Heller bezahlen konnte! Er wußte, daß Niemand Etwas darüber sagen, daß kein verächtliches Wort darüber auf der Börse fallen und er selbst mit gesicherter persönlicher Achtung aus der Prüfung hervorgehen würde. Und dann wäre das Geschäft für Heinrich gerettet ...

Herr Pettersson trat in den großen Saal. Die Octobersonne ging eben auf und warf ihren matten Schein auf alle die alten Herren Pettersson, die feierlich und steif unter Glas und Rahmen saßen, ausgenommen die beiden letzten, die in Oel prangten. Das war der Ahnensaal des Patriziers; sie alle trugen keinen klingenden Namen und kein glänzendes Wappen, aber ihre Worte waren echt wie Gold gewesen, ihr Handschlag sicherer wie Pfand und Verschreibung.

Da hinten links saß der Aelteste von ihnen, ein magerer, langhaariger, alter Bauer in schwarzer Kreide. Das war der Stammvater. Er hatte mit dem Bündel auf dem Rücken und 50 Thalern in der Tasche angefangen. Im Vergleich mit den späteren Chefs der Firma war er ja nur simpel, aber der Urenkel, der vor ihm stand, glaubte in seinen großen, ehrlichen Augen zu lesen: »Volle valuta bekommen und quittirt. Karl Pettersson.«

Später wurden die Ahnen feiner. Mit Frack und Wasaorden. Doch das machte nichts, aus jedem Blicke leuchtete es wie eine Mahnung: »Mein Sohn, bezahle bis auf den letzten Heller! Pettersson & Co. werden sich niemals zu einem Accord verstehen!«

Und Pettersson H Co. accordirten nicht, aber sie – wickelten ab. Sechs Monate lang saßen der Chef und der Procurist Tag und Nacht im Comptoir, und als Alles beinahe abgeschlossen, die letzte Factura liquidirt, das letzte Conto-Corrent durchgesehen und für richtig befunden, das liebe, alte, graue Haus mit den goldbroncirten, perlfarbenen und Ebenholzmöbeln in andere Hände übergegangen, Nero, Sultan und das Coupé verkauft waren, blieben 6000 Mark und Möbel zu zwei kleinen Zimmern in der Vorstadt übrig.

Der alte Stark schlug das Hauptbuch zu und legte die letzte Tagespost in's Correspondenzfach. Seine Lippen zuckten, und als der Chef einmal fortsah, wandte er sich nach dem Fenster und wischte sich verstohlen die Augen. Die neuen Miether sollten um 12 Uhr kommen, und das Comptoir mußte bis dahin ausgeräumt sein.

Der Chef nahm seinen Hut und öffnete die Thür:

»Warten Sie hier einen kleinen Augenblick auf mich, Herr Stark!«

Der Procurist wartete, und bald kam der Chef zurück. Er hatte etwas Besonderes auf dem Herzen, das konnte man deutlich sehen, denn er hustete ein paar Mal, ehe er anfing:

»Es ist bei unserer Firma stets Brauch gewesen, für die Zukunft treuer Diener zu sorgen. Leider habe ich für unsere anderen Gehülfen nichts thun können; doch sie haben gute Zeugnisse erhalten und sind junge, gesunde Männer, so geht es ihnen trotzdem gut, wie ich hoffe. Sie dagegen, Herr Stark, haben sich bei uns verbraucht, und in dieser letzten schweren Zeit ist es vielleicht mein größter Kummer gewesen, daß ich Ihnen vielleicht Ihre Treue gar nicht würde vergelten können. Es ist und kann ja nicht wie in den Glanzzeiten der Firma geschehen, aber nehmen Sie meinen herzlichsten Dank und diese Leibrente, die ich für 4000 Mark gekauft habe. Sie sind alt, lieber Freund, so vergrößert sich Ihre Einnahme mit jedem Jahr und das Capital verzinst sich besser, als wenn ich Ihnen ein Sparkassenbuch auf dieselbe Summe gegeben hätte, und Sie stehen ja allein in der Welt ...«

»Herr Pettersson, ich ... ich ... ich kann nicht! Denken Sie an sich selbst, an Ihre Frau und Herrn Heinrich!«

»Was, Herr Stark? Es ist hier im Comptoir nie Sitte gewesen, daß sich Jemand den Dispositionen seines Chefs widersetzt. Aber ich konnte es mir wohl denken, daß Sie sich sperren würden und deshalb habe ich die Sache so arrangirt, daß sich Nichts mehr daran ändern läßt. Vor fünfzehn Jahren kaufte ich für mich und meine Frau kleine Leibrenten, die uns vor Noth schützen, und ich hoffe für andere Geschäftsleute copiren und Bücher führen zu können. Die letzten 2000 hat Heinrich bekommen. Es ist nicht viel für den Erben von Pettersson & Co., aber morgen reist er nach Amerika und wird vielleicht eines Tages zurückkommen und das alte Geschäft mit dem guten Namen und der unbefleckten Firma wieder aufrichten.«


Draußen in der Vorstadt in zwei kleinen Zimmern sitzen der Chef des Hauses Pettersson & Co. und seine ihm unter allen Wechselfällen des Lebens treu zur Seite gebliebene Gattin. Von der Welt vergessen, sind sie einander Alles, und manchmal schweifen die Gedanken weit hinüber zu dem geliebten Sohn im fernen Westen, der viele und lange Briefe schreibt voll frischen Muthes bei aller Arbeit und voll Hoffnung, obgleich es mit der Erwerbung des Grundcapitals zur Wiedererrichtung der Firma nur langsam geht. Pettersson senior sitzt im vorderen Zimmer über Bücher und Rechnungen gebeugt und arbeitet vom Morgen bis zum Abend für Andere. Das ist schwer genug, und manchmal, wenn er seine Alte wirklich sicher in der Küche weiß, seufzt er tief auf. Aber am Abende, wenn der Rücken gar zu weh thut und selbst die schärfste Brille nicht mehr verschlägt, dann öffnet sich leise die Thür und ein grauer, theurer, lächelnder Frauenkopf guckt durch die Spalte.

Dann wartet ein Theetischchen mit zwei alten, seltenen Tassen im Hinterzimmer, dann hat die kleine Mama ihren Strickstrumpf bei Seite gelegt und die Pfeife gestopft, dann ist es warm und hell um sie herum und in den beiden alten Herzen, dann fahren die Gedanken so schnell über den atlantischen Ocean zu dem Junior der Firma, dann fühlen sie Beide, daß Unglück, Kummer und Sorge keine Macht über zwei Herzen haben, die, so alt und gebrechlich sie auch sind, doch noch immer im gleichen Tacte schlagen.

Und auf dem Borde über der Garderobenthür stehen ehrwürdige, alte Bücher in starkem, dickem Einband; Bücher mit ehrlichen Ziffern, mit regelrecht abgeschlossenem Conto, mit dem stummen, arithmetischen Beweis, daß in der Firma nie ein Betrug verübt worden ist, in der Firma Pettersson & Co.


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