Alfred von Hedenstjerna
Allerlei Leute – Erster Band
Alfred von Hedenstjerna

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Die Hindernisse der Liebe.

Es war ein junger, munterer Bursche, der die landwirthschaftliche Academie zu Alnarp durchgemacht hatte, er besaß treuherzige, schielende, blaue Augen, doppelsohlige, lange Stulpstiefel und eine Anstellung als Inspector beim Rittergutsbesitzer Gyllenborst auf Lündåhra.

Sie war ein junges, heiteres Mädchen, das auf der Haushaltsschule gewesen war, hatte ein blaucarrirtes Alltagskleid, eine kleine, nette Figur, rothe Wangen, appetitliche Lippen und eine Anstellung als Stütze bei der Gutsbesitzerin Gyllenborst.

Er hieß Karl Andersson und sie Lotte Jönsson. – Des eleganten Buches wegen möchte ich gern, daß sie einen feineren Namen besäßen, aber was kann ich wohl dabei thun!

Sie sahen sich täglich, und es wäre ein Wunder gewesen, wenn sie sich nicht in einander verliebt hätten. Aber heutzutage thut unser Herr keine Wunder mehr, und deshalb liebten sie sich auch mit der ganzen Kraft ihrer jungen, unverdorbenen Herzen. Doch sie hatten nie Gelegenheit, es einander zu gestehen, und wenn Lottchen am Herde stand und ihre zischenden Braten in der Pfanne umdrehte, dann war ihr oft zu Muth, als hätte sie ihr eigenes, sehnendes, liebendes Herzchen umgedreht.

So weh thut es, meine Herrschaften, wenn man Etwas von einer Person des anderen Geschlechtes hält.

Sobald man liebt, liegt es im menschlichen Instinkt, zu versuchen, dem Gegenstande seiner Liebe durch seine besten und stärksten Seiten zu imponiren. Herr Andersson untersuchte sich selbst. Sein mündlicher Vortrag war schwach; die Augensprache war bei seinem windschiefen Sehapparat ein zweischneidiges Schwert, das, wenn es bei Tische angewandt wurde – der einzigen Stelle, wo man sicher täglich zusammentraf – ebensogut vorbeischlagen und die Erzieherin oder Frau Gyllenborst treffen konnte. Seine Hände waren groß und roth, und seine Stimme eignete sich nicht für Gesang.

Aber die Füße – die waren just Herrn Andersson's stärkste Seite. Er trug, wie gesagt, hohe Stiefel, konnte täglich, ohne müde zu werden, sechzig Kilometer marschiren und saß Lotte bei Tisch gerade gegenüber. Welches Feld für zarte und liebevolle Fußcourschneiderei! Und so trat er denn in Gottes Namen zu, mitten zwischen Bouillon und Hecht, mit der äußersten Zehspitze, zärtlich, fragend, liebevoll ...

»Au! der Tausend! mein Leichdorn! Halten Sie die Füße still, Herr!« tobte Gutsbesitzer Gyllenborst.

Ach, man muß auch ein Bischen Topograph sein, wenn man sich auf Fußcourschneiderei einlassen will!

Auf Lündåhra waren viele schöne Pferde und einige allerliebste kleine Füllen. Herr Andersson liebte Pferde, und sowie er einen freien Moment hatte, stand er stets in der Stallthür und betrachtete die prächtigen Thiere. Es war, als würde sein Herzweh hierdurch etwas gelindert, ohne daß ich jedoch deshalb behaupten will, daß auch die elegantesten Kutschpferde der Welt als Surrogat für Lottchen dem Herzen eines rechtschaffenen Andersson passen würden.

Wenn nun Fräulein Jönsson Herrn Andersson wie ein Fragezeichen in der Stallthür stehen sah, eilte sie jedes Mal, schnell wie ein Gedankenstrich, zum Borde, wo die Köchin übriggebliebene, trockene Brodrinden aufzubewahren pflegte, sammelte diese in die Schürze und schlug ebenfalls den Weg nach dem Stalle ein, um die kleinen, süßen Thiere zu füttern.

»Jetzt oder nie!« dachte der Inspektor jedes Mal, wenn er das blaucarrirte Kleid sich leicht über die geharkten Wege und das sprießende Gras entgegenkommen sah. Aber gerade wenn er ihr sein Herz eröffnen wollte, während sie zusammen Felix oder Frey fütterten, stieg entweder einer der Knechte vom Heuboden herunter, oder das Milchmädchen wollte in der Häckselkiste nach Eiern suchen oder Frau Gyllenborst rief: »Liebe Jönsson, wo ist das neue Zwölfbundsweberschiff?« oder der Gutsbesitzer schrie: »Andersson, werden wir heute Gerste säen?«

Dann bewölkte sich Lottchens Stirn und Herr Andersson murmelte ein »Pfui Teufel!« und Amor zerdrückte eine Thräne im Auge, schüttelte die Flügel, sprang in die Geschirrkammer und versteckte sich dort.

Ein Mal war das Glück ihnen gewogen. Niemand störte sie. Lotte lehnte sich behaglich an die Füllenkette mit ihrem runden, weißen Arm um Frey's Hals; die Brodrinden waren ausgetheilt, zwei Herzen schlugen im Tact, die Pulse brannten, die Augen glänzten; die alten Pferde zermalmten frisch ihr Häcksel, die jungen beschnupperten sich gegenseitig die Ohren, die Vögel sangen in der Eberesche vor dem Fenster, Herr Andersson faßte Lotte's Hand, beugte sich zu ihr nieder und begann: »Ach, Fräulein Lotte, ich habe lange geda ...«

Weiter sollte er auch dies Mal nicht kommen, denn plötzlich zwang ihn eine gewaltige Kraft von hinten einen Halbkreis in der Luft zu beschreiben, und ehe er sich's versah, lag er vornüber auf dem Stallfußboden.

Eine neue Mahnung für Alle, die ihrem Herzen im Stalle Luft machen wollen, den Stallwidder vorher einzuschließen.

Wieder verging eine Woche nach der andern, und die Liebe in den Herzen der beiden Jungen wuchs wie die Spargel um Johannis. Lotte pfefferte das Blancmanger und Andersson ließ den Klee halbtrocken einfahren.

Doch an einem warmen Sonntage im August ging die Sonne lächelnd über Lündåhra auf. Alle wollten zur Kirche fahren, bis auf Lotte, die schnell entsetzliche Zahnschmerzen bekam, und Herrn Andersson, der zu Hause bleiben wollte, damit die Tagelöhnerkinder nicht alle Kirschen stehlen könnten.

Am Vormittage so gegen zehn Uhr steuerten zwei blankgewichste Reitstiefel vom besten Roßleder ihren Kurs durch den Park nach dem See, und zehn Minuten später trippelten zwei nette, kleine Kalbslederschuhe auf demselben Wege dahin. Sie trafen sich unter einer schattigen Ulme, und zum hundertsten Male dachte Herr Andersson: »Jetzt oder nie!«

Armer, durch und durch ehrlicher Junge! Er bebte von Kopf zu Fuß, und alles Blut in seinem ganzen Körper schien sich durch die Ohrläppchen hinausdrängen zu wollen.

Arme, nette, neunzehnjährige Kleine! Die Brust hob sich und schwoll wie ein Daunenkissen und die kleinen, sonnenverbrannten Finger zitterten heftig.

»O, Fräulein Jönsson, wie habe ich mich nach dieser Gelegenheit gesehnt, um Ihnen zu sagen, wie ich Sie lie ...«

»Hoffentlich störe ich nicht?« fragte die Erzieherin süßsauer und stieg mit langen Schritten, aufgerafftem Kleide und häßlich geformten Enkeln aus dem thaufeuchten Grase hinter den Büschen hervor.

»Ich – ich dachte, Sie wären mit zur Kirche, Fräulein?« stotterte der Inspector.

»Nein, ich bekam ebenfalls zufällig schreckliche Zahnschmerzen. Guten Morgen, meine Herrschaften! Viel Vergnügen!« und damit verschwand sie.

Als Herr Andersson sich nach Lotte umsah, war auch sie verschwunden, als wäre sie ein Schattenbild oder der Fond der Stockholmer Hochschule. Inspectorenherzen müßten eigentlich ebenso gut wie Dampfkessel ein Manometer haben, das den höchsten zulässigen Druck anzeigt, und darüber hinaus dürfte das unbarmherzige Geschick einen Inspektor durchaus nicht pressen.

Der August verging und der September kam. Der Mondschein im September ist beinahe noch schöner als der traditionelle im August, und eines Abends, als Lotte die Wäsche abgezählt, die Preißelbeeren gewogen, vier Kücken gepflückt und alle Blechsachen verwahrt hatte, meinte sie berechtigt zu sein, sich auf eine Gartenbank setzen und ein Bischen schwärmen zu dürfen. Der untrügliche Instinkt der Liebe führte Herrn Andersson, der im Garten herumspazirte, um ein Bischen zu rauchen, zu derselben Bank unter einem großen Apfelbaum. Muthiger als je zuvor, in der stillen Abenddämmerung, die mit ihrem Nebelschleier sein verlegenes Gesicht mitleidig verhüllte, begann er von Neuem: »O, Lotte, endlich darf ich Ihnen einmal sagen, wie grenzenlos ich Sie lie ...«

Es sauste wie ein Wirbelwind durch die heftig rauschenden Zweige des Apfelbaumes, Tausende von kleinen, runden Körpern regneten auf die Beiden hernieder und oben aus dem Baume erschallte munteres Lachen.

Es ist doch wirklich recht hart, daß ein armer Inspector, der den lieben langen Tag hindurch im Schweiße seines Angesichts gearbeitet hat, sich nicht, wenn der Abend hereinbricht, in der stillen, friedlichen Natur der Geliebten seines Herzens erklären kann, ohne erst nachsehen zu müssen, ob nicht die Buben seines Principals im Apfelbaum sitzen und Unfug betreiben.

Herr Andersson faßte einen großen Entschluß. Am 24. October wollte er bei Gyllenborst's abgehen, um selbst eine kleine Pachtung zu übernehmen. Bis dahin wollte er keinen neuen Versuch machen, Lotte unter vier Augen zu treffen. Dann aber, wenn er sein Gehalt bekommen, Bücher und Inventar abgeliefert und der ganzen Familie für den angenehmen Aufenthalt gedankt hatte, wollte er offen, ruhig und ernst sagen: »Frau Gyllenborst! Kann ich wohl Fräulein Jönssen sehen? Ich habe ein paar Worte mit ihr allein zu sprechen!«

Und dann wollte er ebenso ruhig und ernst die Hand der Geliebten ergreifen, ihr in's Auge sehen und sagen:

»Lotte, Du weißt, daß ich Dich liebe! Willst Du auch ein Bischen von mir halten?«

Auf diese Art würde Alles schön und gut werden. Welcher Narr er war, daß er nicht früher daran gedacht hatte.

Der vierundzwanzigste October kam. Herr Andersson strich sein Gehalt ein, lieferte Bücher und Inventar ab, dankte den Gyllenborst'schen Herrschaften für die angenehme Zeit, die er bei ihnen verlebt hatte, wandte sich darauf zu Frau Gyllenborst und sagte mit ganz ordentlicher, obgleich etwas bebender Stimme:

»Frau Gyllenborst! Darf ich fragen, wo ich wohl Fräulein Jönsson treffen kann? Ich möchte gern ... es ist ... Etwas ... ich möchte ... sie gern ... hm ... sprechen ... hm ... allein.«

Die Gutsbesitzerin lächelte:

»Das thut mir sehr leid, denn ich habe Fräulein Jönsson erlaubt, gestern Nachmittag mit der Bahn nach Nässjö zu fahren, um ihren kranken Bruder zu besuchen.«

»Wann kommt – sie – wieder?« flüsterte der arme Andersson.

»Das weiß ich nicht genau. Wenn es mit dem Bruder sehr schlecht steht, hat sie Erlaubniß, einige Tage dort zu bleiben.«

Halb bewußtlos taumelte Herr Andersson aus dem Zimmer in den Wagen, der ihn zur Eisenbahnstation führte, kaufte sich ein Billet, stieg in den Zug, drückte sich tief in eine Ecke, zog sein blaucarrirtes, baumwollenes Taschentuch heraus, schneuzte sich und – weinte, weinte zum ersten Mal seit seinem vierzehnten Jahre, wo seine Mutter am Nervenfieber starb.

In X. begegnete der ankommende Schnellzug Nr. 137, mit dem Herr Andersson reiste, dem abgehenden Personenzuge Nr. 142. Gerade wenn Nr. 137 in den Bahnhof fuhr, sollte der andere abgehen. Manchmal sausten die beiden Züge an einander vorbei, manchmal standen sie noch 15 bis 20 Secunden neben einander.

Nr. 137 dampfte mit Herrn Andersson an Bord in den Bahnhof X. ein. Schnaubend, mit geöffneter Bremse und in Ordnung zur Abfahrt stand Nr. 142 da.

Himmel! Lotte's blauer Shawl im Damencoupé dritter Classe! Wenn man verliebt ist, soll man die Mitreisenden, das Zugpersonal und die Anstandsregeln als nicht vorhanden betrachten. Herr Andersson sprang auf das Trittbrett seines Wagens, beugte sich nach dem blauen Shawl in Nr. 142 hinüber und rief mit einer Stimme, die von jahrelanger Sehnsucht, grenzenloser Liebe und Unruhe bebte: »Lotte, willst Du meine Frau werden?«

Erschreckt über die muntere Verwunderung der Mitreisenden, die zum Glück nur in geringer Anzahl vorhanden waren, durchzuckte Lotte ein Viertelgedanke, sich nach gewöhnlicher Mädchenweise zu zieren, aber blitzartig stand es klar vor ihrer jungfräulichen Seele, daß es nun zugreifen hieß, wenn nicht ihr ganzes Lebensglück in Trümmer gehen sollte, und deshalb erwiederte sie erröthend, einfach, schnell und treuherzig: »Ja, Karl!«

»Steig' sofort aus!« rief Herr Andersson.

Und sie that es.

Hand in Hand eilten sie in den Wartesaal erster Classe, und dort sank Lottchen an das treue Herz, das sich so lange und innig nach ihr gesehnt hatte.

Doch das junge, freundliche, liebliche, in seinen innersten Herzensnerven erschütterte Mädchen fuhr plötzlich in den Armen des Liebsten zusammen, schlug die schönen, feuchten Augen auf und rief in schüchterner, unbeschreiblicher Verwirrung aus: »Mein Koffer!«

Aber Herr Andersson antwortete ihr nicht.

Was gehen wohl alle Koffer, Reisetaschen und Nachtsäcke des ganzen Weltalls einen Inspector an, der liebt und weiß, daß er wieder geliebt wird!


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