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Ich habe oft darüber nachgedacht, wie wohl die Welt aussehen würde, wenn Jeder seine Lebensaufgabe – hoch oder niedrig – so gut erfüllte wie Mamsell Christine.
Vielleicht wäre das nicht gut. Es würde so gut hinieden sein, daß selbst die Allerfrömmsten in Versuchung kämen, zu vergessen sich hier fortzusehnen. Man würde die Engel mit den weißen Flügeln über ihren Schwestern in grauen Haaren und Wollkleidern vergessen.
Als Tante Christine noch sehr jung war, war Etwas in ihrem Herzen zersprungen. Sie war so gesund, so kräftig, so jubelnd froh; sie hatte ein Herz, das schnell pochte und mit den kleinen flinken Füßen in häßlichen Kalblederschuhen Tact hielt, und je schneller das Weberschiffchen sauste, desto lauter sang und trillerte sie. Damals baute sie im Stillen, schön und ungesehen von Allen, Etwas, das nachher in Trümmer ging.
Sie baute ein hübsches, einstöckiges Häuschen, hinter Birken und Linden, ein Heim, das eine liebende, nie ermüdende Frauenhand in Ordnung hielt. Und dabei war ein großes, sonnenverbranntes Antlitz, das von Gesundheit, Glück und Arbeitsschweiß glänzte, ein Antlitz, das die kleine Frau froh machte, wenn es kam, und dem ihre warmen Blicke folgten, wenn es verschwand, und das so ruhig, so gut und männlich treuherzig aussah, wenn es auf ihren Knieen ruhte. Und die kleine Frau war Mamsell Christine selbst, und er war – ja, das ist ja einerlei, wer er war; er ist ja stets derselbe für junge Mädchenherzen, trägt er nun Gardeuniform oder Inspectorjoppe.
Eines schönen Tages wurde alles Dieses zertrümmert. Das einstöckige Häuschen wurde niedergerissen und die Hängebirken verwelkten. Das ganze Puppenhaus war zerschlagen und seine Herrin von Schmerz gebeugt.
Weder Sturm, noch Blitz, noch Feuersbrunst verheerten es. Was hätten sie auch gegen ein Heim vermocht, das bisher nur von einem sehnenden Mädchenherzen erbaut war! Es war nur eine weiche, weiße Frauenhand, die das theure, sonnenverbrannte Gesicht an eine andere Brust als die ihre zog. Von allen Wundfiebern ist das des Herzens das schwerste, denn die ganze Welt ist sein Krankenzimmer und alle unkundigen Finger berühren die Wunde, und Freunde und Feinde fordern, daß man dabei aussehen soll, als befände man sich wirklich gut. Mamsell Christine trocknete ihre Augen und zog den Verband ihrer Wunde fester und genoß die gewöhnliche, wehmüthige Freude des halbverbluteten Frauenherzens darüber, daß die Welt wenigstens keinen einzigen Blutstropfen hervorquellen sehen sollte. Am allerwenigsten »er«.
Und dann kam sie zu Gutsbesitzer Dahl's. Es war gerade Geburtstagsfest und Gesellschaftsspiel, Freude und Trubel, und kaum ein Gesicht wandte sich nach der neuen Mamsell um. Leise und still begrüßte sie ihre neue Herrschaft, leise und still ging sie in ihr Zimmer hinauf, zog ihr schwarzes Merinokleid aus und einen Kattunrock an. Leise und still kam sie in die Küche hinunter, gerade zu rechter Zeit, um vier große, schöne Kücken zu retten, die durch einen gewissen, verdächtigen Geruch verriethen, daß sie von den heißen Flammen des häuslichen Herdes genug bekommen hatten.
In der Art Andern zu dienen, ist ein großer Unterschied zwischen den guten Frauen und selbst den Besten von uns Männern. Haben wir keine Hoffnung, keine Aussicht für unsere eigene Rechnung, so werden wir unlustig und träge, und die Arbeit wird schlecht, wenn nicht unser eigenes Glück und Fortkommen lockend dahinter steht. Aber unter den Frauen giebt es keine hingebenderen und aufopfernderen als die, welche für sich selbst die Rechnung mit den Freuden des Lebens abgeschlossen haben und wissen, daß sie nie mehr Etwas zu fordern haben werden. Viele gehen bei diesem Buchschlusse der Seele mit dem Schicksale moralisch unter; doch die, welche als Siegerinnen aus dieser Krisis hervorgehen, haben auch begriffen, daß es für sie keine andere Freude mehr giebt als die der Engel im Himmelsblau, und darum meinen sie, es sei ebenso gut, wenn sie ihre Engelthätigkeit gleich ausübten. Doch glücklich das Heim, in dem ein solcher Engel beständig zu Gaste ist!
Mamsell Christine verwuchs förmlich mit Dahl's; ihre fleißigen Hände und wachsamen Augen wurden dem Hause zum Segen und bald konnte man nicht begreifen, wie man jemals ohne sie hatte fertig werden können. Selten wurde ihr mit Worten gedankt, aber als Frau Dahl sich immer mehr an sie anschloß und Alles, was im Hause und in der Familie vorfiel, offen mit ihr besprach, als kleine Arme ihren Hals umklammerten und rothe Mündchen immer bestimmter gegen jede andere Hülfe als die von »Tante Tetin« protestirten, da meinte sie, daß ihr Lohn über die Maßen groß und süß sei.
Und wenn Gutsbesitzer Dahl von einer Reise heimkam und der Tisch gedeckt und mit dem Besten, was das Haus für gewöhnlich bieten konnte, besetzt war, und er sowohl hungerig wie müde war, dann sah er doch unruhig aus, stocherte in den Anchovis und konnte nicht eher recht mit den Schweinscoteletten vorwärts kommen – obgleich Frau und Kinder ihn geliebkost hatten – bis das bleiche, freundliche Gesicht mit dem zurückgestrichenen Haar in der Thür des Eßzimmers erschien und er eine magere, runzelige Hand hatte drücken und sein gewöhnliches: »Nun, wie geht's Ihnen, Mamsell Christine?« hatte hinwerfen können.
Während Frau Dahl's Haar ergraute, der Gutsbesitzer fett und kurzathmig wurde, Mamsell Christine eine gelbere Farbe und einen gebeugteren Rücken bekam, wuchs dort im Hause ein Kranz junger Söhne und Töchter heran, von denen sich die meisten nicht mehr der Zeit erinnern konnten, als es noch keine »Tante Tetin« gab. Es war beinahe, als hätten sie alle zwei Mütter; und weil Mama Dahl ja die Verantwortung vor Gott und Menschen hatte, daß die Kleinen nicht zu wahren Wildkatzen aufwuchsen, und sich daher bisweilen an die Empfindlichkeit des zarten Fleisches wenden mußte, Mamsell Christine aber eitel Zärtlichkeit war, so ist es wohl möglich, daß sie während dieser Periode mehr als Papa und Mama selbst von den Kleinen geliebt wurde.
Sie wußte für alles Rath. Sie konnte angeben, wie man dem Roste im Weizen zuvorkommen müßte. Sie drang in das Seelenleben der Hühner ein und ergründete, warum sie Windeier legten und nicht ordentlich sitzen wollten. Sie verstand ganz genau, Weinflecke aus dem Tischzeug zu entfernen und wußte, weshalb das graumelirte Kalb nicht gedeihen wollte. Und als Stall-Johann mit einer großen, klaffenden Wunde über dem rechten Auge aus dem Walde heimkam, und Mägde und Kinder schrieen, Frau Dahl beinahe ohnmächtig wurde und Keiner aus und ein wußte, da war es eine kleine, magere, feste Hand, die den dicken, rathlosen Gutsbesitzer behutsam bei Seite führte, die Wunde auswusch und aus ihrem eigenen großen Nähkorb Heftpflaster hervorsuchte. Und die kleinsten Bissen bei Tisch, den dunkelsten Winkel im Hause behielt sie sich stets selbst vor.
Mamsell Christine hatte bei den Kleinen gewacht, als sie Zähne bekamen. Sie hatte mit ihnen über die vielen Gemeinheiten von Rabe's lateinischer Grammatik geweint und sie bewundert, wenn sie sich halblaut mit dem deutschen Lyth abquälten. – Dann folgte eine verhältnißmäßig ruhige Zeit.
Aber dann kam Emmachen Abends herauf, steckte den Kopf in die Thür und flüsterte: »Bist Du ganz allein, Tante?« Und dann kam wieder etwas sehr Sorgliches, denn »Donnerstag würde Doctor Stark abreisen und ...«
»Ja, ja, der alte Doctor ist wiedergekommen und die Zeit des jungen Vertreters ist nun wohl abgelaufen.«
»Ja, aber, Tante, er ... er hat gar nichts gesagt, gar Nichts ...«
»Ach, mein Goldkind, was sollte der Doctor denn sagen?« fragte Mamsell Christine und machte ein schelmisches Gesicht. Aber das war nicht zu sehen, denn sie saßen im Dämmerlichte.
»O, Tante Christine ...« und dann weinte Emmachen gerade wie damals beim Zahnen. Ach, es war, als wäre es gestern gewesen! Das Kind hatte immer ein so heftiges Temperament gehabt.
»Ja so, steht es so. Ja, dann will ich Dir sagen, Emma, der Doctor kommt schon wieder. So viel versteht die alte Tante Christine auch davon, und nachher ... nachher wird uns hier Jemand auf Grendala fehlen.«
»Glaubst Du, Tante, glaubst Du? Aber wenn er nicht kommt, dann müssen sie Deine Emma auf den Kirchhof tragen; ja, das ist sicher, Tante!«
Tante Christine lächelte. Ach, Emmachen wußte nicht, wie viel ein Frauenherz ertragen kann.
Doch der Doctor kam, und sie tauschten in der Laube Küsse und im großen Saale Ringe aus, und zu seiner Zeit kam auch der Tag für Myrthenkranz und Schleier. Und Mamsell Christine sagte zu Küchen-Gustave: »Ich sage Dir, Dirn', läßt Du mir den Braten anbrennen, während ich hinauslaufe und mein »Schwarzes« anziehe, so giebt es ein Unglück!« Und fünf Minuten später stand sie in der Saalthür, grau und gebückt, aber roth und warm und betrachtete ihre Emma, die sie selbst zur Braut gekleidet hatte.
Emma durchbrach die ganze Hochzeitsgesellschaft und zog Tante Christine in die Arme und wollte ihr ein Glas geben, um mit ihr anzustoßen. Und Mamsell Christine flüsterte der Braut eifrig Etwas ins Ohr.
– »Was sagte Mamsell Christine?« fragte der Bräutigam hinterher.
»O, nichts!« ...
»Ja, Emma, ich will den einfachen Glückwunsch ihres alten, warmen Herzens hören.«
Die Braut lachte.
»Ja, sie sagte: »Du bist wohl verrückt, Kind! Champagner für mich! Ich habe hier ein Bischen Bischof auf dem Ofen.«
Emma reiste ab, und nun kam die Reihe an die Buben und die »kleinen« Mädchen, zu Tante Christine hinaufzugehen und ihr zu beichten.
Und einmal war Franz, der Liebling, der schon studirte, in der Stadt gewesen und hatte dort etwas so Entsetzliches aufgeführt, daß er es weder Papa noch Mama zu erzählen wagte, und Tante Christinens Sparkassenbuch mitnehmen mußte, als er abreiste.
»Ich schwöre Dir, daß Du es wieder bekommst, Tante!«
»Kreuz in allen Tagen, Herzenskind; ich habe es Alles hier im Hause bekommen, jeder Pfennig davon ist Deines Vaters Geld!«
Wie gesagt, die kleinen Mädchen kamen auch, flüsterten ihr Etwas in die Ohren und hatten auch ihre Anfälle, wo sie krampfhaft weinten und sich zum Sterben hinzulegen drohten. Gerade wie Emma.
Aber Alles wurde gut und schön. Einige bekamen gleich »den Einzigen, den sie auf der ganzen Welt lieben konnten«, und einige bekamen nicht gerade den, sondern andere tüchtige, nette Männer; und dann war es auch gut, denn seht, hier auf Erden findet man nur ab und zu ein Herz, das so schrecklich eigensinnig ist, keinen Anderen als gerade den Einen haben zu wollen.
Der Gutsbesitzer starb, und Mamsell Christine stand vor ihm und streichelte seine große, braune Hand, wenn Niemand da war, so daß sie nicht im Wege stand; sie legte ihm ein Buch unter das Kinn und zwei Sechsstüberstücke auf die Augenlider, damit Mund und Augen sich nicht wieder öffnen sollten, und eine ordentlichere Leiche konnte man nicht sehen.
Aber die Zeit ging schnell dahin und schließlich starb auch »Großmutter«, und Mamsell Christine leitete still und leise Alles im Hause und machte selbst Begräbnißconfect. Und nur Abends, wenn Alles zur Ruhe war und nichts damit versäumt wurde, lag sie mit ihrem alten, grauen Haupte auf dem Kissen in ihrem eigenen Zimmer und beweinte ihre treueste Freundin bitterlich und unaufhaltsam.
Von da an hieß es wieder mit Wiegendecken, Badewasser und Zahnfieber beginnen. Diesmal bei Emma. Es war, als wäre Tante Christine in einem Kreise rund gegangen und begänne nun die andere Runde.
Und die Kinder nannten sie »Großmutter«.
Lange, lange schien es, als hätte der Sensenmann Tante Christine vergessen, die zuletzt sehr kraftlos und stumpf wurde. Vielleicht entzog sie sich seinen Blicken durch die Schutzmauer, die sie sich aus warmen, dankbaren, alten und jungen Herzen errichtet hatte. Doch so Etwas pflegt nicht zu helfen, o nein!
Da faßte er sie leise an und legte sie einige Tage vor der großen Reise auf ihr letztes Lager. Ich will nicht erzählen, wie es den Alten und den Jungen im Hause des Doctors dabei zu Muthe war.
»Liebes Tantchen, hast Du keinen besonderen Wunsch? Hast Du mir gar nichts zu sagen?« schluchzte Emma, die vor dem Bette auf den Knieen lag.
»Ja, ja, liebes Kind; es ist etwas ganz Schreckliches, das mir lange schwer auf dem Herzen gelegen hat ...«
»Schreckliches! Phantasirst Du, Tante?«
»Nein, Kind; aber an dem feinen Damastgedeck fehlen zwei Servietten. Ich habe selbst einmal aus Versehen beim Bügeln ein Loch hineingebrannt. Und ich wußte ja, wie viel Du auf das Gedeck giebst. Verzeih' mir, Emma!«
»O Du Liebe, Gute! Hast Du mir sonst Nichts zu sagen?«
»Nein, mein Goldkind; jetzt fühle ich mich so frei, jetzt will ich schlafen ...«
Am Tage darauf hing ein weißes Laken vor Mamsell Christinens Fenster.