Wilhelm Hauff
Der Mann im Mond
Wilhelm Hauff

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Entdeckung

Die beiden jungen Leutchen saßen sich gegenüber wie die Ölgötzen; keines wagte von Anfang ein Wörtchen zu sagen, selbst den Atem hielten sie fest an sich. Dem Fräulein hatte der Hofrat durch seinen gewagten Scherz alles Blut aus den rosigen Wangen gejagt; es war ihr als stäche ihr einer einen Dolch von Eiszapfen in das glühende Herz und ein anderer schütte eine Kufe des kältesten Wassers über sie herab, und im nächsten Augenblick war ihr wieder so brühsüdheiß zumut, als ob die Feuerflammenbrandung der Lava in ihren Adern siedet und ein Rheinstrom von rotglühendem flüssigem Eisen durch alle ihre Nerven sich ergösse. Sie wußte nicht, sollte sie aufspringen und davonlaufen, sollte sie lachen oder vor Unmut über diese Unzartheit weinen, ein tiefer Seufzer entriß sich dem gepreßten Herzen –

Und Martiniz – was hilft in solchen Momenten das vollendetste Studium, dessen was wir Welt nennen? Er war auf Hofbällen von Kaisern und Königen gewesen, er hatte mit einer Fürstin eine Polonaise eröffnet und ihr dabei die Schleppe von der drap d'argentenen Hofrobe abgetreten, daß ihr die Fetzen vom Leib hingen und hatte dennoch dabei die Fassung behalten, obgleich die Durchlaucht einen ganzen Kartätschenhagel aus ihrer Augenbatterie auf ihn spielen ließ. Er hatte – doch was konnte es ihm in diesem süßen Augenblick helfen, daß er sich sonst nicht so leicht verblüffen ließ; der Moment riß ihn hin; sie, die er mit aller Macht heimlicher Glut liebte, sie, die in seinen Träumen allnächtlich ihm erschien und ihn zum Gott machte, sie hatte um ihn geweint, weil sie ihn für unglücklich hielt.

Und als er jetzt zu ihr hinaufblinzelte, als er die rührende Scham auf dem engelreinen Gesichtchen, das holde Lächeln um den Mund, tiefer herab die Schneepracht des Halses, dieses Nackens, dieser Brust ansah – er hatte auf seiner großen Tour alle Galerien der Welt, die Kunstschätze der Malerei, die lockenden, majestätischen, niedlichen Formen der alten und neuen Bildhauerkunst gesehen, mit wahrhaftem Kunstfleiß studiert, und was waren sie, was war Venus und alle Grazien, was war Madonna und alle die herrlichen heiligen Gesichtchen aller Zeiten und Schulen gegen dieses geheimnisvolle Amorettenköpfchen, es lag ein Liebreiz in diesem süßen Wesen. – Er hörte sie seufzen, eine große, helle Perle hob sich unter den seidenen Wimpern; er ergriff ihre Hand und drückte seinen Mund darauf, sie zog das weiche Wunderpatschchen nicht weg.

»Können Sie zürnen, mein Fräulein«, hub er an, »daß ich zu so ungelegener Zeit?« – er hielt inne, um ihre Antwort zu erwarten – keine Antwort.

»Wenn ich gewußt hätte, daß ich Sie nicht heiter finden würde, ich hätte mir gewiß nicht die Freiheit« – noch keine Antwort.

»Sie haben einem Unglücklichen eine Träne des Mitleids geschenkt, zarte Herzen wie das Ihrige, verstehen einen tiefen Schmerz viel früher als andere, möge Gott Ihnen diese Tränen des Mitgefühls vergelten, die mir so unendlich wohltun« – keine Antwort, nur Perlchen um Perlchen drängt sich über den feinen Rand der Wimpern.

»Sie zürnen mir also dennoch«, fuhr Martiniz trübe lächelnd fort, »das beste wird sein, ich nehme mir die Freiheit, Sie ein andermal zu besuchen.« Er wollte seine Hand aus der ihrigen ziehen, aber Ida hielt ihn fest.

»Herr Graf!« flüsterte sie leise bittend –

»Warum nennen Sie mich Herr Graf«, antwortete Martiniz, »wie oft haben Sie versprochen, Martiniz, und wenn ich recht gut bin, Emil zu sagen.«

»Martiniz!« flüsterte sie wieder.

»Oh, bin ich denn nicht mehr so gut wie gestern, oder sind Sie nicht mehr die freundliche tröstende Ida, wie früher?«

»Emil!« hauchte sie kaum hörbar, aber in diesem einzigen Wörtchen lag ein so süßer Ton, dem alle Saiten in Emils Brust antworteten, voll namenloser Seligkeit beugte er sich von neuem auf ihre zarte Hand; doch er faßte sich wieder, und, es war ihm zwar sauer genug, aber dennoch kam er bald wieder in den rechten Takt der vertrauenden Freundschaft. Er bat sie, ihn geduldig anzuhören, er wolle ihr sagen, warum er so trübe und traurig durchs Leben gehe, und vielleicht werde sie ihn entschuldigen.

Er erzählte ihr die Geschichte seines unglücklichen Hauses, wie sie der alte Brktzwisl dem Hofrat erzählt hatte; aber den schrecklichen Verdacht, den der alte Diener nur ahnte und sich selbst nicht zu gestehen wagte, bestätigte er. Er erzählte, daß, als er aus jener langen Krankheit wieder zu völligem Bewußtsein und dem Gebrauch seiner Verstandeskräfte gekommen sei, habe ihm das Leben und die ganze Erde so öde geschienen, daß er seiner Mutter und Schwester die selige Ruhe im Grabe gegönnt, ja beneidet habe; besonders seine Schwester habe er glücklich gepriesen, denn betrogen von dem Mann, den sie liebte, wie hätte sie ferner glücklich leben können?

Aufs neue sei damals eine große Bitterkeit in seiner Seele gegen den Italiener aufgestiegen, der nur nach dem fernen Norden gekommen schien, um ein holdes Mädchen, auf wenige Stunden glücklich zu machen und dann zu betrügen, einen Freund zu gewinnen und ihn dann zum unerbittlichen Rächer zu machen. Da habe man ihm einen Brief gebracht, den seine Schwester kurz vor ihrem Ende geschrieben habe; er enthielt das Bekenntnis einer tiefen Schuld, einer unwürdigen Schande. Antonio habe lange geahnt, daß er, obgleich ihr Verlobter, doch nicht der einzig Begünstigte sei. Er habe sie in einem Augenblick getroffen, der ihm keinen Zweifel über die Unwürdigkeit der Geliebten gelassen.

Doch zu edel, sie der Schmach und dem Unwillen ihrer Familie preiszugeben, habe er ihr erlaubt, seinen Verlobungsring fort zu tragen, in wenigen Wochen wolle er Warschau verlassen und sie nie mehr sehen, ihren Ring, bei welchem sie ihm mit den heiligsten Eiden Treue geschworen, wolle er der nächsten besten Metze schenken.

»Dies war die einzige Strafe«, fuhr Martiniz fort, »die sich der edle, so schändlich betrogene Mann erlaubte. Wie unselig rasch ich handelte, wissen Sie, mein Fräulein; meinem Sekundanten wollte er die Schande meiner Schwester nicht anvertrauen, eine persönliche Zusammenkunft mit ihm schlug ich in meiner Wut aus, so stellte er sich denn mit seinem ganzen Unglück, mit seinem noch größeren Edelmut vor die Mündung meiner Pistole. Jenen ganzen Tag, da ich die Schuld meiner Schwester und seine Unschuld erfuhr, wütete ich gegen mich selbst.

Ich wurde ruhiger, als es Abend wurde, aber zu derselben Stunde, wo er verschieden war, fühlte ich auf einmal seine Nähe, sein blutbedecktes Bild stand vor mir da, meine Seele faßte das Schreckliche nicht, ich verfiel in Wahnsinn. Seit jener schrecklichen Stunde naht er mir alle Nacht und zeigt mir seine klaffende Wunde; kein Raum ist ihm zu weit, kein Gebet verscheucht ihn, er würde mir im frohesten Zirkel meiner Freunde erscheinen.

Nur in eine Kirche scheint er sich nicht zu wagen und meine letzte Zuflucht ist, mich jede Nacht an den Altar zu retten. Mein Leben ist für jede Freude verloren, mir blüht kein Frühling mehr, die Natur ist mir erstorben; ein rastloser Flüchtling eile ich über die Erde hin, verfolgt vom Gespenste dessen, den mein unüberlegter Rachedurst erschlug. Ich bin Kain, der seinen edlen Bruder ermordete, ich fliehe und fliehe, bis sich mir eine frühe Grube öffnet, wohin sein blutiger Schatten nicht mehr dringt, wo ich ausruhe, ungekannt, unbeweint, der letzte Sprosse meines Stammes, ohne Denkmal als das der Blumen, die der Frühling aus meiner Asche keimen läßt.« –

Ohne Idas Antwort abzuwarten, hatte sich nach den letzten Worten Martiniz erhoben, und war davongeeilt. Er war von seiner eigenen Erzählung so ergriffen, daß er die laute Teilnahme des geliebten Mädchens in diesem Augenblick nicht hätte ertragen können. Ihre zarte stille Teilnahme, die tausend Zeichen der lautlosen Liebessprache hatten ohnedies schon so heftig auf ihn gewirkt, daß er die rasende Glut in seinem gepreßten Herzen kaum mehr beschwichtigen, daß er sich kaum enthalten konnte, die Tränen, die seinem Unglück flossen, von den zarten Wangen zu küssen. Wie eine trauernde Andromache saß Ida, das Engelsköpfchen auf ihr schneeweißes Händchen gestützt, und ließ die Tränen herab in den Schoß rollen. Nach und nach schien sie aber ruhiger zu werden, sie sah oft auf, und dann lag in dem schönen Auge etwas so Schwärmerisch-Sinnendes, daß man glauben durfte, sie sinne über einen großen Entschluß nach.

So traf sie Berner, der mit einem Armensündergesicht zur Türe hereinguckte; es hatte ihm unterweges, nachdem der erste Kitzel über seinen gewagten Feldherrneinfall vorüber war, doch ein wenig das Gewissen geschlagen, daß er die Leutchen so im heillosen Zappel zurückgelassen habe; er mußte sich gestehen, daß die Sache auf diese Manier ebenso leicht ganz über den Haufen gerannt werden konnte; – doch da war er ja der Mann dazu, auch die vereiteltsten Verhältnisse wieder zu entwirren. Haben sie sich auch wie ungeschickte Hauderer ein wenig verfahren, dachte er, der alte Berner weiß sie schon wieder ins rechte Gleis zu bringen. Als er aber den Grafen nicht mehr traf, als er sah, daß das Mädchen so gar bitterlich weinte und schluchzte, daß es einen Stein in der Erde hätte erbarmen mögen – da krießelte es ihm doch den Rücken hinauf, eine Gänsehaut flog über seinen Kadaver, und schnürte ihm die Brust zusammen, – »Sicher einen dummen Streich gemacht«, brummte er vor sich hin; da schaute sich Ida nach ihm um, unter den verweinten Augen hervor, traf ihn doch ein so mildes Lächeln, daß es ihm wieder wohl und warm wurde, als hätte er den besten Extrait d'Absinthe vor den Magen geschlagen, – »Habe ich ein dummes Streichelchen gemacht, mein Kindchen«, fragte er kleinlaut, machte aber so verschmitzte, kluge Äuglein dazu, daß Ida, so ernst sie sein wollte, lächeln mußte; sie gab ihm die Hand und erzählte ihm, wie sie von Anfang durch seine doch etwas gar zu indiskrete Äußerung sehr außer Kontenance gekommen, daß sie ihm aber jetzt nicht genug danken könne, denn der Graf habe ihr all sein Unglück, sein Leiden erzählt, und sie seie wie von ihrem Leben überzeugt, daß er von seinem Phantome könne befreit werden. Jetzt hatte ja der Hofrat Ida auf dem Punkt, wo er sie haben wollte; jetzt war er mit der ganzen Geschichte auf einmal im klaren, und rieb sich unter dem Tisch vor Freuden und lauter Seligkeit die Hände: »Sie können und müssen ihn retten, und darum hat mir mein Genius das tolle Wagestück von vorhin eingegeben; Sie müssen ihn überzeugen, daß alles Ausgeburt seiner Phantasie ist; Sie müssen machen, daß er wieder den Menschen angehört, der gute Junge, daß er bei Tag freundlich und gesellig ist, und nachts nicht mehr in die Kirche läuft. Ich will davon gar nicht sagen, daß es für seine Gesundheit höchst nachteilig ist, alle Nacht sich vor einem blutigen Gespenst zu fürchten; aber bedenken Sie nur alle andern Unannehmlichkeiten, die ein solcher Umstand mit sich führt. Der Graf, ist er nun so recht im Feuer, so recht, was man sagt im Zug – gibt es dann einen herrlicheren, angenehmeren Gesellschafter als ihn, da ist alles Leben, alles Feuer, das sprudelt von dem feinsten Witz, von der zartesten Geselligkeit, und um die Zeit, wo gewöhnlich der Champagnerpunsch, den Sie so trefflich zu bereiten wissen, oder Kardinal und für Liebhaber des Roten auch Bischof aufgesetzt werden soll, wenn man glaubt, jetzt geht es erst recht an, da wird er nach und nach ernster und stiller, zieht einmal um das andere die Uhr aus der Tasche, oder läßt sie in der Tasche repetieren, daß man glaubt, er habe ein Glockenspiel im Magen, und – hast ihn gesehen – schleicht er sich sans adieu fort, und eilt der Kirche zu; der Mondwirtin kann ich es, ob ich gleich die heiligsten, fürchterlichsten Eide dazu schwöre, noch immer nicht begreiflich machen, daß er nicht auf ganz schlimmen Wegen im Dunkeln schleiche; ›Ich weiß das besser‹, sagt sie immer; ›im Dunkeln ist gut munkeln – das mache mir ein anderer weis.‹ Und dann, wie unangenehm ist ein solches Verhältnis, wenn der Herr Graf einmal in den heiligen Stand der Ehe sich begeben soll. Zur Zeit wenn da sein Weibchen ihre Tücher und Tüchelchen, ihre Röcke und Röckchen abgeworfen hat, wenn sie im Hemdchen und Nachtkorsettchen ins Bettchen schlüpft, ganz weit hinüber rückt, um noch einem Zweiten Platz zum–«

»Was weiß ein alter Hagestolz, wie Sie«, unterbrach ihn das Fräulein eifrig, indem sie ihm mit den weichen Patschchen, über und über errötend, eines hinter das Ohr versetzte, die Knie zusammenknipp, schelmisch lächelte und innerlich beinahe platzte; »was wissen Sie von Nachtkorsettchen und Schlafhäubchen, solche Dinge gehören ganz und gar nicht in Ihr Fach, und der Schuster, heißt ein altes Sprüchwort, der Schuster bleibe bei seinen Leisten.«

»Leider, Gott erbarm's!« seufzte und knurrte der alte Kater Murr-Berner mit komischem Pathos, »leider heißt es bei mir ne ultra crepidam, ich darf nichts sehen als die hübschen Füßchen, und höchstens, aller-allerhöchstens jahrs einmal ein hübsches Wäd–; doch um wieder auf Martiniz zu kommen. Ich habe hin und her gedacht, ich weiß nur ein Mittel, wie man ihn der Welt wiedergeben kann. Wir mögen über die Torheit des Gespensterglaubens an ihn hinpredigen solange wir wollen, er gibt uns recht, und in der Nacht sieht er dennoch wieder sein Phantom. Nein, man muß ihm auf ganz anderem Wege beikommen; Sie, Ida, Sie müssen in der Stunde der Mitternacht zu ihm an den Altar gehen, bei ihm bleiben in den Augenblicken der Angst, und ich stehe davor, er wird so viel an Sie denken, daß das Bild seiner Phantasie verschwindet.«

Ida sträubte sich vor diesem Hülfsmittel mit mädchenhafter Scheue; sie gab dem Hofrat zu bedenken, daß das sich aufdringen heiße; was die Welt dazu sagen werde, wenn sie einem landfremden Menschen in die Kirche nachlaufe, und dies und jenes – aber der Hofrat, der das Mädchen von seiner Kindheit an kannte, sah tiefer. Er sah wie sich in ihr zwar das Mädchenhafte gegen das Unschickliche, das nach den Begriffen der Welt darin liegen könne, sträube, daß aber das Edle und Große, das sie, nur von wenigen gekannt, tief in der stolzen, jungfräulichen Brust verschloß, schon jetzt diesen Rettungsgedanken mit Wärme ergriffen haben müsse, denn in ihrem Auge sah er jenes stille Feuer ernsten Nachdenkens, ihre Brust hob sich stolzer, wie wenn sie eines großen Entschlusses mächtig geworden wäre. Er tröstete sie über den Gedanken, was die Welt sagen würde; unerkannt wolle er sie in der dunklen Nacht in die Kirche führen, »und landfremd«, fuhr er mit schalkhaftem Lächeln fort, »landfremd nennen Sie diesen Menschen? Mir wenigstens ist es in den vierzehn Tage geworden, wie wenn ich ihn lange, lange gekannt hätte; und wer war es denn, der an jener Ballnacht, als wir den landfremden Menschen zum allererstenmal sahen, sagte: › Ich möchte hingehen und fragen, warum bist du nicht fröhlich mit den Fröhlichen, sage mir deinen Kummer, ob ich nicht helfen kann?‹« Es ist etwas im weiblichen Herzen, das sie in einzelnen Momenten so hoch erhebt, daß sie Entschlüsse fassen und ausführen, wovor ein Mann vielleicht sich gescheut hätte. Auch Idas Herz war nicht unempfänglich für solche große Entschlüsse, die der kältere Beobachter mit Unrecht Schwärmerei nennt; sie lehnte sich an die Brust des alten Freundes und lispelte mit geschlossenen Augen kaum hörbar aber fest entschlossen: »Ich will es tun, denn ich fühle es: der Zug des Herzens ist des Schicksals Stimme!«


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