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Die Härte des Gefängnisarztes und des englischen Gefängnissystems hat Oscar Wilde ums Leben gebracht. Die wunde Stelle in seinem Ohr, die er sich an jenem Sonntagmorgen in der Gefängniskapelle zu Wandsworth zugezogen hatte, als er ohnmächtig zu Boden fiel, entwickelte sich zu einem Abszeß und bildete schließlich die Ursache seines Todes. Die »Operation«, die Roß in seinem Briefe erwähnt, war die Exstirpation dieser Geschwulst. Die Gefangenschaft, die Aushungerung und vor allem die Grausamkeit seiner Kerkermeister hatten ihr Werk verrichtet.
Diese lokale Affektion wurde, wie bereits erwähnt, durch ein allgemeineres und bösartigeres Leiden verschlimmert. Die Ärzte führten das rötlich aussehende Exanthem auf Brust und Rücken, über das Oscar klagte, und das er dem Genuß von Muscheln zuschrieb, auf eine andere und ernstere Ursache zurück. Sie rieten ihm sofort, vom Trinken und Rauchen Abstand zu nehmen und ein äußerst enthaltsames Leben zu führen. Denn sie hatten bei ihm die Symptome des tertiären Stadiums jener furchtbaren Krankheit festgestellt, die infolge der in England herrschenden vernunftlosen Prüderie die Auslese der englischen Männer ungehindert hinwegraffen darf.
Oscar ließ den ärztlichen Rat unbeachtet. Sein Leben hatte wenig Inhalt. Das Vergnügen, in guter Gesellschaft zu essen und zu trinken, war fast das einzige, das ihm noch verblieben war. Weshalb sollte er sich im Hinblick auf einen sehr unsicheren und fraglichen künftigen Nutzen den Genuß des Augenblicks versagen?
Er hat nie an den Wert der Askese oder der Selbstverleugnung in irgendeiner Form geglaubt, und als das Ende nahte und er empfand, daß das Leben ihm nichts mehr zu bieten hatte, sträubte sich das Heidentum in ihm, ein Dasein zu verlängern, das keine Freuden mehr brachte. Und mit tiefer Wahrhaftigkeit hätte er sagen können: »Ich habe gelebt.«
Die Tatsache, daß Oscar unter bedauerlichen Verhältnissen auf dem entlegenen Kirchhof in Bagneux beerdigt wurde, ist viel erörtert worden. Es scheint am Tage des Leichenbegängnisses geregnet zu haben, und ein kalter Wind wehte; der Weg war schmutzig und weit, und nur ein halbes Dutzend Freunde geleitete den Sarg zu seiner Ruhestätte. Aber derartige Zufälligkeiten sind letzten Endes bedeutungslos, wenn sie auch im Augenblick bedauerlich wirken mögen. Die entseelte Hülle weiß von unseren Empfindungen nichts, und es ist vollkommen gleichgültig, ob sie mit feierlichem Gefolge zu Grabe getragen und mit den Trauerkundgebungen eines ganzen Volkes in einer großen Abtei beigesetzt – oder wie Staub in alle Winde verweht wird.
In Heines Versen liegt der letzte und höchste Trost:
»Immerhin, mich wird umgeben
Gottes Himmel dort wie hier,
Und wie Totenlampen schweben
Nachts die Sterne über mir.«
Oscar Wilde hatte sein Werk vollbracht, er hatte der Welt die Gabe, die er zu bieten hatte, bereits vor Jahren dargebracht. Selbst seine Freunde, die ihn liebten, die sich an dem Reiz seiner Unterhaltung und an seinem leichtherzigen Frohsinn und Humor erfreuten, hätten ihn schwerlich länger an den Pranger fesseln wollen, – dort, wo er dem Abscheu und der Verachtung dieser haßerfüllten Welt preisgegeben war.
Das Gute, das er getan hat, wird ihn überleben, es ist unsterblich, und das Böse liegt in seiner Gruft begraben. Wer will wohl heute in Abrede stellen, daß er eine anregende und befreiende Persönlichkeit gewesen ist? Wenn sein Leben allzusehr der Zügellosigkeit seiner Triebe ausgeliefert war, so darf man nicht vergessen, daß er in Wort und Schrift von einzigartiger Güte, Liebenswürdigkeit und Reinheit gewesen ist. Kein herber, kein roher oder böser Ausdruck ist jemals über seine redefrohen, lachenden Lippen gekommen. Wenn er auch der Schönheit in ihren zahllosen Gestalten huldigte, so hat er uns in seinen Werken nur jene Schönheit vorgeführt, die liebenswert ist und sich eines guten Rufes erfreut. Wenn auch nur ein halbes Dutzend Menschen um ihn getrauert hat, so war ihr Schmerz echt und innig, und vielleicht ist den größten aller Menschen während ihres ganzen Lebens nicht einmal ein halbes Dutzend hingebender Bewunderer und Verehrer beschieden gewesen. Und so sagen wir: unserem Freunde ist wohl. Jedenfalls ist ihm die Bitternis eines kranken und entehrten Greisentums erspart geblieben: der Tod hatte Erbarmen mit ihm.
Meine Aufgabe ist vollbracht. Ich glaube, niemand wird daran zweifeln, daß ich sie in Ehrfurcht erfüllt habe, – daß ich von Anfang bis zu Ende die Wahrheit nach bestem Wissen berichtet und das, was gesagt werden mußte, möglichst wenig verschleiert oder verschwiegen habe. Und doch, nun es zum Abschied geht, bin ich mir schmerzlich bewußt, daß ich Oscar Wilde nicht gerecht geworden, daß ich durch irgendeinen mir eigentümlichen Fehler verleitet worden bin, seine Fehler und Verfehlungen allzu stark zu betonen, daß ich seinem herzbezwingenden Reiz und der unvergleichlichen Anmut und Heiterkeit seines Wesens das gebührende Lob vorenthalten habe.
Das möchte ich nun wieder gut machen. Wenn ich die Geister jener Menschen, die ich auf Erden gekannt und geliebt habe, – berühmte Menschen und Menschen, denen der verdiente Ruhm nicht zuteil geworden ist, zur traurigen Gedächtnisfeier heraufbeschwöre, sehne ich mich nach keinem so sehr wie nach Oscar Wilde. Es wäre mir lieber, wenn ich einen Abend mit ihm zusammensein könnte als mit Renan oder Carlyle, mit Verlaine, mit Dick Burton oder Davidson. Es wäre mir lieber, ihn jetzt wiederzuhaben als die meisten anderen Menschen, denen ich jemals begegnet bin. Ich habe heldenmütigere Seelen gekannt und manche tiefere Seele: Menschen, die sich des Begriffs der Pflicht und der Großmut viel stärker bewußt gewesen sind. Aber ich habe keine bestrickendere, keine anregendere und keine köstlichere Geistesart kennen gelernt.
Vielleicht liegt das an meiner eigenen Unzulänglichkeit, vielleicht würdige ich die künstlerischen Vorzüge: Humor, Frohsinn und beredsame oder poetische Worte, höher als Güte oder Zuverlässigkeit und Männlichkeit und überschätze somit das, was anziehend ist. Aber das Liebenswürdige und Fröhliche ist für mein Empfinden etwas Unschätzbares, und der bestrickendste Mensch, dem ich je begegnet bin, war Oscar Wilde. Ich glaube nicht, daß es im ganzen Totenreich einen bezaubernderen oder köstlicheren Gefährten gibt.
Ich möchte noch ein kurzes Wort über Oscar Wildes Stellung in der englischen Literatur sagen. Im Verlauf dieser Schilderung habe ich meines Erachtens zur Genüge auf den Wert und die Bedeutung seiner Werke hingewiesen; er wird an Congreves und Sheridans Seite als der witzigste und humoristischste aller unserer Lustspieldichter fortleben. »The Importance of being Earnest« gehört zu den besten englischen Lustspielen. Aber Oscar Wilde hat Besseres geleistet als Congreve oder Sheridan: er gebietet nicht nur über das Lächeln, sondern auch über die Tränen der Menschen. Seine »Ballade vom Zuchthaus zu Reading« ist die beste Ballade in englischer Sprache; und sie ist mehr als das, sie ist die edelste Kundgebung, die bisher aus einem Gefängnis unserer Zeit zu uns gedrungen ist, und sogar die einzige hochgeartete Kundgebung, die jemals in dieser Unterwelt des Menschenhasses und der menschlichen Grausamkeit gestaltet worden ist. Mit dieser Ballade und durch Jesu Geist, den sie atmet, hat Oscar Wilde viel getan, um die englischen Gefängnisse nicht nur zu verbessern, sondern ganz und gar zu beseitigen. Denn sie wirken ebenso erniedrigend auf den Geist als verderblich auf die Seele. Gibt es einen Kerkermeister und einen Kerker, die anders als schädlich auf den Mann wirken konnten, der jene Worte gedichtet hat:
Und ich weiß auch dies – und wünschte wohl,
Es wüßte dies jeder so gut, –
Daß man Kerker nur baut aus Steinen der Schmach,
Die man kittet mit Menschenblut,
Und so dicht sie vergittert, daß Christus nicht seh',
Wie Bruder an Bruder tut.
Ist es nicht wirklich ohne weiteres klar, daß der Mann, der in seinem eigenen Elend den von mir angeführten Brief an den Wärter geschrieben und sich eifrig bemüht hat, auf eigene Gefahr die Befreiung kleiner Kinder von der Gefängnisstrafe zu erwirken, viel höher steht als der Richter, der ihn verurteilte, oder die Gesellschaft, die solche Buße gutheißt? Und noch einmal muß ich sagen: Die »Ballade vom Zuchthaus zu Reading« und einige Teile seiner Schrift »De Profundis«, vor allem aber das tragische Schicksal, das diese Werke gezeitigt hat, nehmen die Menschen mehr für Oscar Wilde ein als für irgendeinen anderen Menschen, der ihm ebenbürtig ist.
Die Gehässigkeit und Grausamkeit seiner Feinde ist in Wirklichkeit für ihn zum Guten gewesen, und in diesem Sinne ist seine Bemerkung in »De Profundis« gerechtfertigt, daß er in einer symbolischen Beziehung zu der Kunst und dem Leben seines Zeitalters gestanden hat.
Die Engländer haben Byron und Shelley und Keats in die Verbannung geschickt und Chatterton, Davidson und Middleton in Elend und Armut sterben lassen. Aber sie haben keinen ihrer Künstler und Propheten mit jener gehässigen Grausamkeit behandelt, die sie gegen Oscar Wilde bekundeten. Das Schicksal, das ihm in England zuteil wurde, ist für jedes Künstlers Schicksal symbolisch; gewissermaßen werden sie alle bestraft werden, wie er von dem plump materialisierten Publikum bestraft worden ist, das lieber mit Scheuklappen einhergeht und sich blöden Gewohnheitsregeln fügt, weil es dem Verstand mißtraut und an geistigen Vorzügen kein Gefallen findet.
Alle englischen Künstler werden von unebenbürtigen Menschen verurteilt und – wie Dantes Meister – um ihrer guten Taten willen (per tuo ben far) schuldiggesprochen werden. Denn man darf nicht glauben, daß Oscar Wilde lediglich, oder auch nur hauptsächlich, um des Bösen willen gestraft worden ist, das er begangen hat: er wurde wegen seiner Beliebtheit und seiner Ausnahmestellung, wegen der Überlegenheit seines Geistes und seines Witzes bestraft. Er wurde vom Neid der Journalisten und von der gehässigen Pedanterie der halbgebildeten Richter gestraft. Aber in seinem Falle hat der Neid sein Ziel verfehlt: der Haß seiner Richter war so diabolisch, daß sie ihn für alle Zeiten dem Mitleid der Menschheit überantwortet haben. Sie haben ihn auf ewig in den Augen der Menschen zu einer fesselnden, tragischen Gestalt und zum Träger unvergänglichen Ruhmes gemacht. –