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XIV
Wie geniale Menschen in England gemartert werden

Die Engländer sind sehr stolz auf ihren Gerechtigkeitssinn und ebenso stolz auf ihr römisches Recht und die Gepflogenheiten ihrer Gerichtshöfe, die sie zu dessen Träger gemacht haben. Sie rühmen sich ihres »fair play«, des ehrlichen Verfahrens in allen Dingen, wie die Franzosen sich ihrer Gewandtheit rühmen, und wenn man daran zweifelt, wird man von ihnen in Acht und Bann getan, weil man vorurteilsvoll oder ungebildet oder beides zusammen ist. Sie behaupten, daß die englische Justiz nicht käuflich sei, und wenn sie kostspielig, ja sogar über alle Maßen kostspielig ist, so empfinden sie es mit einer gewissen Genugtuung, daß sie für gute Ware einen hohen Preis gezahlt haben. Aber es ist wohl möglich, daß sie hier ebenso wie bei anderen Dingen den äußerlichen Anstand und die schickliche Form mit der innerlichen, unaussprechlichen Vornehmheit verwechseln. Es ist weniger wichtig, daß ein Richter unbestechlich, als daß er weise und menschenfreundlich ist.

Die englischen Journalisten und Juristen haben sich über die Handhabung des Dreyfus-Prozesses sehr belustigt. Doch als Dreyfus in Frankreich zum zweitenmal vor Gericht gestellt wurde, brachte eine der Londoner Zeitungen zwei oder drei englische Fälle ausführlich zur Sprache, die mit derselben Ungerechtigkeit geführt worden waren, aber von keiner Seite wurde ihnen wesentliche Aufmerksamkeit zuteil. Wäre Dreyfus in London schuldig gesprochen worden, so hätte sich vermutlich niemals ein Fürsprecher für ihn gefunden. Und es steht unbedingt fest, daß nie ein Wiederaufnahmeverfahren stattgefunden hätte. Ein starkes Gefühl für den abstrakten Begriff Gerechtigkeit ist nur da zu finden, wo es aus einer reichen Quelle verständnisvollen Wohlwollens strömt. Die Engländer sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um für die Angelegenheiten ihrer Nebenmenschen viel Interesse zuhaben, und zu beschäftigt, um sich mit abstrakten Fragen über Recht und Unrecht zu befassen.

Ehe das Verfahren gegen Oscar Wilde stattfand, glaubte ich doch noch, daß in England bei einem Kriminalfall der Gerechtigkeit im großen und ganzen Genüge geleistet würde. Der englische Richter – so sagte ich mir – ist stets zugunsten des Angeklagten gestimmt. Bei dem englischen Verfahren gilt es als rühmliche Tradition, daß selbst die vom Schatzamt ernannten Barrister zur Belastung des Unglücklichen, gegen den der Staat mit seiner ganzen Macht und Autorität einschreitet, eher weniger vorbringen, als sie beweisen können. Doch bald wurde ich zu der Erkenntnis gezwungen, daß diese rühmlichen und lobenswerten Sitten im Feuer des englischen Vorurteils nur Strohhalme waren. Meine ersten Zweifel wurden wach, als der Vorsitzende die Beifallskundgebungen ungerügt ließ, die nach dem Wahrspruch zu Lord Queensberrys Gunsten im Gerichtssaal laut wurden. Die englischen Richter pflegen derartige öffentliche Gefühlsausbrüche übel zu vermerken und zu verbieten, weshalb geschah das in diesem Falle nicht? Letzten Endes konnte doch kein Richter Queensberry für einen Helden halten: dafür kannte man ihn zu genau. Dennoch brandeten die Wogen des Beifalls unentwegt, und der Vorsitzende legte, ohne ein Wort einzuwenden, seine Akten zusammen und ging von dannen, als wäre er taub. Schleichend überkam mich eine schreckliche Furcht: gegen meinen Willen wurde mir allmählich klar, daß mein Vertrauen zu der englischen Justiz ein vollkommener Irrtum sein könnte. Ich hatte das Gefühl, als wäre der feste Erdboden zu einem schwankenden Morast geworden, oder als hätte ein Kind plötzlich entdeckt, daß seine Eltern kein Schamgefühl besaßen. Die nachfolgenden Gerichtsverhandlungen gehören zu meinen schmerzlichsten Erlebnissen, aber ich will versuchen, alle Einzelheiten wahrheitsgemäß aufzuzeichnen.

Bei der Durchführung des Prozesses zwischen Oscar Wilde und Lord Queensberry war mir zuerst eine Eigentümlichkeit aufgefallen, die den unzähligen Journalisten und Schriftstellern, welche die Gerichtsverhandlung erörtert haben, entgangen zu sein scheint. Es ergab sich aus Lord Queensberrys Brief an seinen Sohn (den ich in einem früheren Kapitel wiedergegeben habe) und aus der Tatsache, daß er persönlich in Oscar Wildes Hause vorsprach, daß er zuerst nicht an die Wahrheit seiner Beschuldigungen geglaubt hatte. Er sprach sich darüber aus, wie ein heftiger Mensch das, was er vom Hörensagen weiß und argwöhnt, zur Sprache bringt, mit dem Bewußtsein, daß er sich das als Vater ungestraft erlauben darf. Und demzufolge machte er zuerst seine berechtigten Interessen geltend. Nun erhielt er in der Zeit zwischen der Einleitung der Klage und der Gerichtsverhandlung eine sehr große Menge von Beweismaterial, auf das er nicht gerechnet hatte. Darauf erklärte er seine Verleumdung für gerechtfertigt und führte die Namen der Personen an, die er zum Beweise seines Rechtsgrundes als Zeugen vorzuladen beabsichtigte. Aus welcher Quelle stammten diese neuen Auskünfte?

Ich habe im Verlauf dieser Schilderung zu wiederholten Malen von Oscars Feinden gesprochen und festgestellt, daß der englische Mittelstand in seiner puritanischen Gesinnung Oscars Verhalten und seine Lebensweise verabscheute. Und wenn irgendein Fanatiker oder ein mit den Gewissensskrupeln der Nonkonformisten beschwertes Menschenexemplar Beweismaterial gegen Oscar Wilde aufgestöbert und ihn ins Unglück gebracht hätte, so würde eine Rache, die man vielleicht als Pflicht betrachten konnte, nichts Außergewöhnliches an sich gehabt haben. Merkwürdigerweise bekundete ein Mann aus den höheren Ständen, der durchaus kein Puritaner war, diesen wirksamen Haß gegen Oscar Wilde. Meines Erachtens war es ein gewisser Charles Brookfield, der sich zum Privatkläger in diesem Rechtsfall berufen fühlte und ganz Piccadilly abgraste, um Zeugen gegen Oscar Wilde aufzutreiben. Mr. Brookfield wurde später zum Theaterzensor ernannt, – anscheinend aus dem Grunde, weil er selbst eins der »gewagtesten« Theaterstücke seiner Zeit geschrieben hatte. Da ich Mr. Brookfield nicht persönlich kenne, will ich kein Urteil über ihn abgeben. Aber bereits ehe ich wußte, daß er gegen Wilde zu Werke gegangen war, schien mir seine Ernennung stets für das englische Leben und für die nachlässige und geringschätzige Methode charakteristisch zu sein, die auf literarischem Gebiet von den leitenden Kreisen in England angewandt wird. In derselben Gesinnung ernannte Lord Salisbury, als er Premierminister war, einen Journalisten zum Kronpoeten, – lediglich weil er vor Jahren in den Spalten der Zeitung »The Standard« für ihn Propaganda gemacht hatte. Lord Salisbury wußte es wahrscheinlich nicht, oder legte kein Gewicht darauf, daß Austin nie eine Zeile geschrieben hatte, die von bleibendem Werte war. Durch die von Mr. Brookfield beigebrachten Zeugen wurde das eine festgestellt, daß alle Verfehlungen, die Oscar Wilde zur Last gelegt wurden, im Jahre 1892 oder später, d. h. nach seiner ersten Begegnung mit Lord Alfred Douglas stattgefunden hatten.

Aber damals wurden alle diese Dinge für mich bedeutungslos im Hinblick auf die Frage: würden die Behörden Oscar verhaften oder ihn entkommen lassen? Hatte die Polizei einen Haftbefehl gefordert? Da ich den englischen Brauch und den Wunsch der Engländer kannte, alle unerfreulichen geschlechtlichen Angelegenheiten totzuschweigen, glaubte ich, man würde ihm zu verstehen geben, daß er sich ins Ausland begeben sollte, und seine Flucht nicht verhindern. Das ist die gewöhnliche in England übliche Methode. Jeder kennt die Geschichte eines gewissen Lords, der, wegen ähnlicher Gewohnheiten berüchtigt, von der Polizei benachrichtigt wurde, daß ein Haftbefehl gegen ihn erlassen worden war. Er ließ sich das gesagt sein und lebte viele Jahre in sorglosem Behagen als gefeierter Gast in Florenz. Und in dieser Weise werden nicht nur die Mitglieder des Adels von der englischen Justiz bevorzugt: jeder entsinnt sich des Domherrn von Westminster, der in ähnlicher Form verwarnt wurde und sich ebenfalls den Folgen durch die Flucht entzog. Wir können auf der gesellschaftlichen Stufenleiter bis zur Tiefe hinabsteigen und dieselbe Gepflogenheit finden. Ein gewisser Journalist hatte unabsichtlich eine hochstehende Persönlichkeit beleidigt. Sofort wurde er durch die Polizei benachrichtigt, daß ein vor siebzehn Jahren in Indien gegen ihn erlassener Haftbefehl unverzüglich in Kraft treten würde, wenn er sich nicht aus dem Staube mache. Eine Zeitlang lebte er in friedlicher Zurückgezogenheit in Belgien. Überdies war der Haftbefehl in allen diesen Fällen auf die beeidigten Beschwerden der geschädigten Parteien oder ihrer Eltern und Vormünder hin erfolgt: über Oscar Wilde hatte sich niemand beschwert. Natürlich glaubte ich, daß die Abneigung vor einem öffentlichen Ärgernis, die dem Lord, dem Domherrn und dem Journalisten gegenüber eine solche Milde für angezeigt hielt, bei einem Manne von Oscar Wildes genialer Begabung noch mehr ins Gewicht fallen würde. In gewisser Hinsicht nahm er sogar eine größere Stellung ein als ein Herzogssohn; die anstößigen Einzelheiten, die bei dieser Untersuchung ans Licht kämen, würden zum allgemeinen Ärgernis in der ganzen Welt berüchtigt werden.

Außerdem sagte ich mir, daß die herrschenden Kreise in England von ihren aristokratischen Vorurteilen tief durchdrungen sind. Insbesondere wenn sie durch demokratische Neuerungen gefährdet werden, empfinden alle durch die Vorrechte der Geburt, des Reichtums oder des Talents Bevorzugten die Gemeinsamkeit ihrer Daseinsberechtigung und ihrer persönlichen Interessen. Der Lord, der Millionär und das Genie, – sie haben alle dieselbe Ursache, füreinander einzustehen, und diese Ursache ist meistens wirksam. Es ist allgemein bekannt, daß das Gesetz in England das Ansehen der Person in nachdrücklicher Weise schont. Es ist nicht dazu berufen, die Gleichheit zu fördern, und noch viel weniger, die Wehrlosen, die Schwachen und Armen zu schützen, sondern es bildet eine Schutzwehr für den Adel und die Reichen, – es ist eine Zuchtrute in den Händen der Mächtigen. Stets wird es dazu benutzt, die Wirkung der angeborenen und ererbten Ungleichheit zu steigern, ohne durch ein vornehmes Gerechtigkeitsgefühl die Richtlinie zu erhalten. Im Gegenteil, – durch aristokratische Vorurteile und snobistische Tendenzen verdreht, steht es nicht auf einer höheren, sondern auf einer tieferen und gemeineren Basis als die demokratische Gleichheit.

Gerade in dem vorliegenden Falle hätte eine aristokratische Staatsform ihre Überlegenheit über eine demokratische Staatsform mit ihrem schroffen Gleichheitsprinzip bekunden können und müssen. Denn die Gleichheit ist nur eine Etappe in der Mitte des Weges zur Gerechtigkeit. Mehr als einmal ist diese Grundwahrheit vom Unterhause anerkannt worden. Seine Mitglieder haben Clives Verhalten mißbilligt, jedoch mit dem Zusatz, daß er »seinem Vaterlande große und hervorragende Dienste« geleistet hatte. Und niemand kam auf den Gedanken, ihn für seine Verfehlungen zu strafen.

Unsere heutige Zeit ist sogar noch duldsamer und verdorbener. Cecil Rhodes, der sich nicht nur der Erpressung, sondern eines schlimmeren Verbrechens schuldig gemacht hatte, wurde nicht einmal vor Gericht gestellt, sondern geehrt und gefeiert, während seine Helfershelfer, die vom Ausschuß des Unterhauses verurteilt worden waren, von der Regierung belohnt wurden.

Hatte nicht auch Wilde seinem Vaterlande hervorragende Dienste geleistet? Die gegen die Maschonas und Matabeles geführten Kriege waren ein zweifelhaftes Glück, aber Oscar Wildes Theaterstücke hatten bereits Tausenden von Menschen viele Stunden harmloser Freude bereitet und waren offenbar dazu ausersehen, in künftigen Zeiten Zehntausenden zugute zu kommen. Ein solcher Mann ist im besten und wahrsten Sinne ein Wohltäter der Menschheit und verdient besondere Rücksichtnahme.

Die Schande des Queensberry-Prozesses an sich war für den Liebling der Gesellschaft eine mehr als ausreichende Strafe. Als Oscar Wilde den Gerichtssaal verließ, wußten alle, daß er ein vernichteter und verfemter Mann war. Verlohnte es sich, den ganzen widerwärtigen Schmutz noch einmal aufzuwühlen, um den Besiegten zu besiegen? Aber ach – die Engländer sind nach Goethes richtiger Einsicht Pedanten, die von den Literaten oder rein geistigen Leistungen nur wenig halten. Mit Vorliebe bestehen sie auf ihren Regeln und lassen keine Ausnahmen gelten, es sei denn, daß es sich in diesen Ausnahmefällen um große Titel, großen Reichtum oder für die Regierung »gewichtige Persönlichkeiten« handelt. Die breite Masse des Publikums ist zu ungebildet, um den Wert eines Buches zu beurteilen, und betrachtet die Dichtkunst als den Flaum der Sprache. Ein Engländer kommt nie auf den Gedanken, daß ein Satz in seinen Wirkungen wertvoller und nachhaltiger sein kann als ein langer Feldzug und ein Dutzend Siege. Dennoch wird Jesu Lehre: »Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie«, oder jene Worte, in die Shakespeare dieselbe Wahrheit gekleidet hat: »Wenn es uns nach Verdienst erginge, wer von uns würde der Peitsche entgehen?« wahrscheinlich das britische Weltreich überdauern und sieb für die Menschheit wertvoller erweisen.

Genau nach dem Maße seiner schöpferischen Eigenart wird der geniale Mensch in Großbritannien gefürchtet und gehaßt, und wenn er zufällig Schriftsteller oder Musiker ist, noch obendrein verachtet. Das Vorurteil gegen Oscar Wilde machte von allen Seiten seine zersetzenden Kräfte bemerkbar. Der Vorsitzende Justice Collins ließ den Beifallskundgebungen, die Lord Queensberrys Erfolg zuteil wurden, freien Lauf. Und keiner der an der Tür stehenden Polizisten versuchte die »johlende« Menge zum Schweigen zu bringen, die Oscar Wilde mit Zischen und Schimpfworten verfolgte, als er den Gerichtssaal verließ. Er war bereits gerichtet und verurteilt, ehe er verhört worden war.

Auch die Polizei ging mit ungewöhnlicher Strenge gegen ihn zu Werke. Mr. Sherard hat in seiner Biographie behauptet, daß die Polizei keine Vorkehrungen getroffen hatte, um den Haftbefehl gegen Oscar Wilde zu vollziehen, »ehe der letzte Zug nach Dover abgefahren war«, und daß seine Verhaftung nur zur Notwendigkeit wurde, weil Oscar eigensinnig darauf bestand, in London zu bleiben. Diese Auffassung beruht auf freier Erfindung.

Es verlohnt sich, alles, was in diesem entscheidenden Augenblicke geschehen ist, genau in Erfahrung zu bringen. Nach Oscars Verhalten in dieser Krise wird sich der Leser selbst ein Urteil bilden können, ob sein Bild in diesem Buche wahrheitsgetreu dargestellt worden ist oder nicht. Er ist als ein liebenswürdiger, schwacher Mensch mit bestrickendem Wesen geschildert worden, der im Handeln, wenn auch nicht im Denken, leicht zu lenken war. Nun wollen wir sehen, wieweit wir im Recht gewesen sind. Denn jetzt erlebt er eine jener bedeutsamen Stunden, die den Prüfstein für die Seele bilden. Glücklicherweise sind alle einzelnen Vorgänge dieses Tages bekannt. Was sich zugetragen hat, habe ich in großen Zügen aus Oscars eigenem Munde erfahren, während sein bester Freund, Robert Roß, auf meinen Wunsch die feinsten Einzelheiten dieses Bildes etwas später ergänzt hat.

Mr. Mathews, einer der Anwälte, die Oscar vertreten hatten, kam in den Morgenstunden mit dem Vorschlag zu ihm: »Wenn Sie es wünschen, werden Clarke und ich den Prozeß im Gange halten, damit Sie Zeit gewinnen, nach Calais zu fahren.«

Aber Oscar weigerte sich, einen Schritt zu tun. »Ich werde hierbleiben«, – das war alles, was er sagte. Robert Roß bestürmte ihn, Mathews' Anerbieten anzunehmen: aber er lehnte es ab, – und weshalb? Ich bin überzeugt, ohne jeden Grund, denn ich fragte ihn zu wiederholten Malen danach, und selbst nach reiflicher Überlegung fand er keine Erklärung. Er blieb in London, weil es bequemer war, zu bleiben, als einen schnellen Entschluß zu fassen und dementsprechend energisch zu handeln. Er besaß von Anfang an sehr wenig Willenskraft, und seine Lebensweise hatte sein ursprüngliches Maß noch verringert.

Nachdem das Urteil zu Queensberrys Gunsten gefallen war, fuhr Oscar mit Alfred Douglas in einem Brougham fort, um mit seinem Rechtsbeistand Humphreys zu beraten. Zu gleicher Zeit gab er Roß einen Scheck auf sein Bankhaus in der St. James Street. In diesem Augenblick hatte er die Absicht zu fliehen.

Roß bemerkte, daß ein Geheimpolizist ihm folgte; er hob bei der Bank £ 200 ab und eilte weiter, um mit Oscar im Cadogan-Hotel in der Sloane Street zusammenzutreffen, wo Lord Alfred Douglas während der letzten vier bis fünf Wochen gewohnt hatte. Dort kam er gegen 1¾ Uhr an und fand Oscar in Reggie Turners Gesellschaft vor. Beide gaben Oscar den Rat, unverzüglich nach Dover zu fahren, um, wenn es möglich wäre, nach Frankreich zu gelangen. Aber sie erhielten nur zur Antwort: »Der Zug ist fort, es ist zu spät.« Die alte Tatenlosigkeit war wieder über ihn gekommen.

Er bat Roß, seine Frau aufzusuchen und ihr zu berichten, was vorgefallen war. Roß folgte seinem Wunsche und erlebte einen sehr schmerzlichen Auftritt, denn Mrs. Wilde sagte weinend: »Hoffentlich geht Oscar ins Ausland.«

Dann kehrte Roß ins Cadogan-Hotel zurück und berichtete Oscar, was seine Frau gesagt hatte; aber selbst das bewog ihn nicht zur Tat.

Er saß wie angenagelt auf seinem Stuhl und trank unaufhörlich Rheinwein mit Selterwasser, in fast ungestörtem Schweigen. Gegen vier Uhr erschien George Wyndham, um seinen Vetter Alfred Douglas zu besuchen. Da er ihn nicht antraf, verlangte er Oscar zu sprechen; aber Oscar, der Vorwürfe zu hören fürchtete, ließ sich von Roß vertreten. Wyndham äußerte sein Bedauern, daß Bosie Douglas mit Oscar zusammen sein müßte, und Roß sagte ihm unumwunden, daß Wildes Freunde sich seit Jahren bemüht hätten, die beiden auseinanderzubringen. Wenn Wyndham seinen Vetter von diesem Verkehr abhalten könnte, würde er Oscar den allergrößten Dienst erweisen. Daraufhin wurde Wyndham etwas höflicher, obwohl er noch immer »furchtbar aufgeregt« war, und bat Roß, auf Oscar einzuwirken, damit er, um Ärgernis zu vermeiden, sofort außer Landes ginge. Und Roß erwiderte ihm, daß er selbst und Turner sich stundenlang bemüht hätten, das zuwege zu bringen. Mitten im Gespräch stürmte Bosie Douglas, der inzwischen zurückgekehrt war, ins Zimmer und rief: »Ich wünsche meinen Vetter zu sprechen«, so daß Roß sich wieder zu Oscar begab. Nach einer Viertelstunde folgte Bosie und sagte ihm, daß er mit Wyndham fortginge, um eine einflußreiche Persönlichkeit zu besuchen.

Gegen fünf Uhr kam der damalige Berichterstatter der Zeitung »Star« und jetzige Redakteur der »Daily Mail«, Mr. Marlowe, um Oscar zu sprechen, aber Oscar weigerte sich wieder, ihn zu empfangen, und ließ sich durch Roß vertreten. Marlowe war verständnisvoll, faßte die Sachlage ganz richtig auf und teilte Roß mit, daß sein Blatt von einem Haftbefehl telegraphisch benachrich-. tigt worden war, der bereits gegen Oscar erlassen war. Roß begab sich sofort in das Nebenzimmer, um Oscar davon in Kenntnis zu setzen; er erwiderte kein Wort, wurde aber »aschgrau im Gesicht«.

Einen Augenblick später bat Oscar seinen Freund Roß, ihm das Geld zu geben, das er von der Bank geholt hatte, obwohl er sich im Laufe des Tages zu wiederholten Malen geweigert hatte, es in Empfang zu nehmen. Roß händigte ihm den Betrag ein und betrachtete das selbstverständlich als Zeichen, daß Oscar sich endlich zur Abreise entschlossen habe. Aber gleich darauf ließ sich Oscar wieder auf seinen Stuhl nieder und sagte: »Ich werde hierbleiben und meine Strafe abbüßen, gleichviel wie sie ausfällt«, – wie jemand, der offenbar nicht imstande ist, sich zur Tat aufzuraffen.

Während der nächsten Stunden saßen sie zu dreien – und harrten des Schlages, der ihn treffen sollte. Ein- oder zweimal erkundigte sich Oscar in klagendem Ton, wo Bosie wäre, aber das vermochte ihm niemand zu sagen.

Zehn Minuten nach sechs Uhr klopfte der Kellner, und Roß öffnete die Tür. Er meldete zwei Geheimpolizisten; der ältere trat mit den Worten ins Zimmer: »Wir haben hier einen Vollziehungsbefehl, Mr. Wilde, um Sie auf Grund einer Anzeige wegen unzüchtiger Handlungen zu verhaften.« Wilde wünschte zu wissen, ob er gegen Bürgschaft auf freiem Fuß belassen werden würde; der Geheimpolizist erwiderte:

»Das hat der Richter zu entscheiden.«

Dann erhob sich Oscar und stellte die Frage: »Wohin werde ich gebracht?«

»Nach der Bow Street In der Bow Street befindet sich das Polizeigericht.«, lautete die Antwort.

Als er ein Exemplar des »Yellow Book« an sich nahm und nach seinem Überzieher suchte, bemerkten alle, daß er »stark betrunken« war, obwohl er noch ganz genau wußte, was er tat.

Er bat Roß, sich nach der Tite Street zu begeben, dort einen zweiten Anzug zum Wechseln für ihn zu holen und nach der Bow Street zu bringen. Dann führten ihn die beiden Geheimpolizisten in einem vierrädrigen Wagen fort, während Roß und Turner am Straßenrande stehenblieben.

Roß eilte nach der Tite Street, wo er erfuhr, daß Mrs. Wilde zu einem Verwandten übergesiedelt war. Nur Wildes Diener Arthur, der später den Verstand verloren hat und sich noch immer in einer Anstalt befinden soll, war zugegen. Er hing mit großer Liebe an Oscar. Wie Roß bemerkte, hatte Mrs. Oscar Wilde Oscars Schlaf- und Arbeitszimmer abgeschlossen, so daß er die Schlafzimmertür aufbrechen mußte, um mit Arthurs Hilfe Kleidungsstücke zum Wechseln zusammenzupacken. Dann eilte er nach der Bow Street, wo er auf eine johlende Menschenmenge stieß, die sich durch unanständige Zurufe Luft machte. Von einem Aufsichtsbeamten wurde ihm der Bescheid erteilt, daß es nicht gestattet sei, Oscar zu sprechen oder Kleidungsstücke für ihn zu hinterlassen.

Roß kehrte nun sofort nach der Tite Street zurück, öffnete die Tür zum Bibliothekszimmer mit Gewalt und nahm eine bestimmte Anzahl Briefe und Wildesche Manuskripte heraus; aber unglücklicherweise konnte er die beiden Manuskripte nicht finden, die, wie er wußte, vor zwei Tagen nach der Tite Street zurückgesandt worden waren, nämlich »A Florentine Tragedy« (Eine florentinische Tragödie) und »The Portrait of Mr. W. H.« (Das Bildnis des Mr. W. H.).

Dann fuhr Roß zu seiner Mutter und brach zusammen. Mrs. Roß bestand darauf, daß er ins Ausland gehen sollte, und um ihn zur Abreise zu bewegen, händigte sie ihm £ 500 ein, die für Oscars Verteidigung verwendet werden sollten. So begab sich Roß nach Calais in das Hotel Terminus, wo Bosie Douglas nach kurzer Zeit ebenfalls eintraf. Dort blieben die beiden, während die Untersuchung gegen Oscar vor Mr. Justice Charles stattfand, und eines Tages fuhr George Wyndham über den Kanal, um Bosie Douglas zu besuchen.

Selbstverständlich läßt sich manche Entschuldigung für die Hauptperson geltend machen: Oscar war körperlich erschöpft und seelisch gebrochen. Er hatte das schöne Bauwerk seines Ruhmes und Erfolges mit eigener Hand eingerissen, so daß es über seinem Kopf zusammengestürzt war. Und da das Geheul des »johlenden« Pöbels noch in seinen Ohren dröhnte, konnte er an nichts anderes denken als an jene unwiederbringlichen Stunden, in denen er sich mit Hilfe seines Geldes seinen Verfolgern entziehen konnte.

Seine Feinde waren hingegen mit der größten Geschwindigkeit zu Werke gegangen. Lord Queensberrys Anwalt, Charles Russell, hatte die Erklärung abgegeben, daß sein Mandant nicht beabsichtige, irgendeinen Strafantrag gegen Mr. Oscar Wilde zu stellen. Aber an demselben Morgen, an dem Wilde seine Klage zurückzog, übersandte er dem öffentlichen Ankläger Honourable Hamilton Cuffe ein Schreiben nebst Abschrift »unserer sämtlichen Zeugenaussagen«, zugleich mit einer Abschrift der stenographischen Notizen über die Verhandlung.

Die Beamten des Schatzamtes waren zum mindesten ebenso rührig. Nachdem die Herren C. F. Gill, Angus Lewis und Charles Russell den Gerichtssaal verlassen hatten, machten sie, sobald es sich ermöglichen ließ, Sir John Bridge in seinem Privatzimmer in der Bow Street ihre Aufwartung und erwirkten einen Haftbefehl gegen Oscar Wilde, der, wie wir gesehen haben, an demselben Abend vollzogen wurde.

Die Polizei ließ es nicht dabei bewenden, ihm keine Bevorzugung zu gewähren. Gegen acht Uhr fuhr Lord Alfred Douglas nach der Bow Street, um sich zu erkundigen, ob Wilde mittels Bürgschaft aus der Haft befreit werden könnte, erfuhr aber, daß sein Gesuch nicht berücksichtigt werden dürfte. Dann erbot er sich, dem Gefangenen Erleichterungen zu verschaffen, ein Anerbieten, das von dem Polizeiinspektor auch rundweg abgelehnt wurde, wie Roß' Versuch, ihm Nachtkleider zu bringen, vergebens gewesen war. Es herrscht allgemein die Anschauung, daß in England ein Mensch als unschuldig behandelt wird, bis seine Schuld erwiesen ist. Aber die Leute, die an diese Fabel glauben, sind noch nie in der Faust der englischen Polizei gewesen. Sobald jemand auf Grund irgendeiner Anzeige verhaftet ist, wird er sofort als gemeingefährlicher Verbrecher behandelt und beispielsweise mit allen entehrenden Begleitumständen untersucht. Vor seiner Verurteilung darf er seine eigenen Kleider tragen; aber wenn er die Wäsche oder die Kleider wechseln will, so wird es ihm entweder verwehrt oder nur teilweise und widerstrebend gestattet. Und zwar aus keinem anderen menschenmöglichen Grunde, als um die Böswilligkeit der Kerkermeister zu befriedigen.

In dem Vollziehungsbefehl, demenstprechend Oscar Wildes Verhaftung erfolgte, wurde ihm ein Vergehen zur Last gelegt, dessen er sich nach Abschnitt XI der Kriminellen Zusatzakte, Jahrgang 1885, schuldig gemacht haben sollte. Mit anderen Worten: er wurde wegen eines Vergehens verhaftet und vor Gericht gebracht, das zehn Jahre früher nicht gesetzlich strafbar war. Diese Akte wurde infolge der schändlichen und gefühlsseligen (offenbar größtenteils künstlich zurechtgemachten) Geschichten eingebracht, die Mr. Stead in der »Pall Mall Gazette« unter dem Titel »Modern Babylon« (Das moderne Babylon) veröffentlicht hatte. Ein paar Pharisäer und Heuchler traten, um ihren Propheten zu schützen und zu rechtfertigen, mit aller Kraft für diese sogenannte Gesetzreform ein, durch die es zum Kriminalverbrechen gemacht wurde, sich gewisse Freiheiten gegen ein Mädchen unter dreizehn Jahren zu erlauben, auch wenn es mit dessen Einverständnis geschah. Vertrauliche Beziehungen zu Minderjährigen unter sechzehn Jahren waren strafbar, auch wenn sie damit einverstanden waren oder selbst die Anregung dazu gaben. Der radikale Abgeordnete Labouchere, der, wie behauptet wurde, darauf brannte, das Gesetz ins Lächerliche zu ziehen, beantragte allen Ernstes, den Paragraphen dahin zu erweitern, daß er auch auf Geschlechtsgenossen Anwendung fand, die vertraulichen oder unzüchtigen Umgang trieben. Die puritanische Partei hatte keinen logischen Einwand gegen die Erweiterung des Paragraphen vorzubringen, und so wurde er zum Staatsgesetz. Kraft dieses Dokumentes juristischer Weisheit, welches in den Gesetzen anderer Länder kein Vorbild besitzt und keine Nachahmung gefunden hat, wurde Oscar Wilde verhaftet und ins Gefängnis gesteckt.

Seine Verhaftung gab das Signal zu einem so zügellosen Ausbruch philiströser Rachsucht, wie London ihn noch nie erlebt hatte. Der puritanische Mittelstand, der Oscar Wilde stets als Künstler und geistigen Spötter, als einen reinen Schmarotzer der Aristokratie mit Abneigung betrachtet hatte, ließ nun seinem Abscheu und seiner Verachtung freien Lauf. Und jeder einzelne war bemüht, seinen Nächsten im Ausdruck des Ekels und Widerwillens zu übertrumpfen. Dieses Verdammungsurteil des Mittelstandes riß die unteren Schichten mit sich fort. Um dem gewöhnlichen Volke Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muß man sagen, daß es ebenfalls einen angeborenen Ekel vor dem absonderlichen Laster empfand, dessen Wilde beschuldigt wurde. Die meisten Menschen verdammen die Sünden, zu denen sie selbst keine Lust verspüren; aber ihre Abneigung war weniger tief als verächtlich, und mit gewohntem Humor machten sie die ganze Sache bald zu einem bestialischen, gemeinen Scherz. Der Name »Oscar« wurde als Symbol der Verachtung zu ihrem Lieblingswort und flog von Mund zu Mund. Omnibuskutscher, Droschkenkutscher und Zeitungsverkäufer benutzten ihn mit höchstem Wohlgefallen, gleichviel ob er angebracht oder unangebracht war, während die höheren Kreise sich zeitweilig ruhig verhielten und den Orkan vorüberbrausen ließen. Selbstverständlich waren einige darunter, die in das Verdammungsurteil der Puritaner einstimmten, und viele von ihnen hatten das Gefühl, daß Oscar und seine Gefährten zu dreist gewesen waren und einen Denkzettel verdienten.

Die englischen Zeitungen, die nichts anderes sind als die Krämerwerkstätten des Mittelstandes, stellten sich auf die Seite ihrer Gönner. Sie konnten sich – ohne eine einzige Ausnahme – nicht genugtun, um diesen Mann und sein gesamtes Werk zu verurteilen. Wenn man die erbitterten Ausfälle dieser Leute las, hätte man meinen müssen, daß sie selbst ein heiliges Leben führten und an der sinnlichen Versündigung Anstoß nahmen. Man wollte seinen Augen nicht trauen! Der Strand und die Fleet Street, die in Wirklichkeit das Eigentum dieser Kreise sind und ihr Gepräge tragen, bilden den Sammelpunkt einer Prostitution, deren Gemeinheit in ganz Europa nicht übertroffen werden kann. Die berüchtigten Schenken, in denen diese Männer verkehren, sind Trinkerhöhlen niedrigster Art. Und trotzdem fielen sie alle mit den mannigfaltigsten Schmähungen über Oscar Wilde her, als wären sie selbst über jeden Vorwurf erhaben gewesen. Ganz London schien zu einem Sturm der Verachtung und des Ekels entfesselt zu sein, der jeden Morgen durch die scheinheiligen Artikel der Heuchler und Pharisäer in dieser Tageszeitung und jener Wochenschrift aufgepeitscht und gerechtfertigt wurde. Überall auf der Straße waren die lauten Witze des Pöbels zu hören, die, mit schmutzigen Anekdoten ausgeschmückt und durch gemeines Lachen bekräftigt, gleichsam aus dem Höllenschlunde zu kommen schienen.

Aber dem Haß der Journalisten zum Trotz, die den Vorurteilen ihrer Zahlmeister nur Vorschub leisten wollten, durfte man doch noch hoffen, daß der Polizeirichter gewissermaßen auf ein ehrliches Verfahren bedacht sein würde. Aber diese vernunftgemäße oder vernunftwidrige Erwartung war zur Enttäuschung verurteilt. Am Sonnabend dem 6. wurde Oscar Wilde, der, wie die Zeitungen sich spöttisch ausdrückten, »als gentleman bezeichnet wird«, in den Morgenstunden Sir John Bridge vorgeführt. Mr. C. F. Gill, der bereits bei dem Queensberry-Prozeß fungiert hatte, leitete das Verfahren nach den Verhaltungsmaßregeln des Mr. Angus Lewis vom Schatzamt. Alfred Taylor war der Mittäterschaft beschuldigt worden und nahm seinen Platz auf der Anklagebank ein. Über die Zeugen ist bereits im Zusammenhang mit dem Queensberry-Prozeß berichtet worden. Alle – Charles Parker, William Parker, Alfred Wood, Sidney Mavor und Shelley – gaben ihre Zeugenaussage ab …

Die Verhandlung, die den ganzen Tag in Anspruch nahm, wurde alsdann auf den folgenden Donnerstag vertagt.

Mr. Travers Humphreys stellte den Antrag, Mr. Wilde gegen Bürgschaft freizulassen, da Mr. Wilde von dem am Freitag nachmittag gegen ihn beantragten Haftbefehl in Kenntnis gesetzt war, aber keinen Versuch gemacht hatte, sich aus London zu entfernen. Sir John Bridge lehnte dieses Gesuch ab.

Am Donnerstag, dem 11., wurde die Verhandlung vor Sir John Bridge fortgesetzt, und zum Schluß wurden beide Angeklagte dem Gericht zur Aburteilung überwiesen. Mr Humphreys wiederholte seinen Antrag, Mr. Wilde gegen Bürgschaft freizulassen, aber der Richter verweigerte wieder die Genehmigung.

Nun läßt sich die Ablehnung der Haftenlassung in einem schweren Kriminalfall rechtfertigen, bei einem Verfahren wegen Unsittlichkeitsvergehen wird sie aber in den meisten Fällen gewährt. Eine Flucht wird als Eingeständnis der Schuld betrachtet, – und könnte man sich wohl etwas Besseres wünschen als die dauernde Verbannung des Menschen, der ein verworfenes Leben führt? Folglich gibt es keinen Grund, die Entlassung aus der Haft gegen Bürgschaft zu verweigern. Aber obwohl im vorliegenden Falle jede beliebige Kautionssumme zur Verfügung gestellt worden war, wurde die Entlassung aus der Haft rundweg verweigert, trotzdem man einem Angeklagten, der bereits die beste Gelegenheit zum Verlassen des Landes gehabt hatte und nicht vom Fleck weichen wollte, jede Rücksicht schuldig gewesen wäre. Überdies war Oscar Wilde bereits in hundert Zeitungen gerichtet und verdammt worden. Das Vorurteil gegen ihn war in weiten Kreisen verbreitet –, die Gewährung der Haftentlassung bedeutete keine Gefahr für das Publikum, ihre Verweigerung aber eine starke Schädigung des Angeklagten. Seine geschäftlichen Angelegenheiten mußten unweigerlich in Unordnung geraten. Man wußte, daß er nicht reich war, und dennoch wurde ihm die Macht, Geld aufzubringen und Beweismaterial zu sammeln, genommen, gerade als die Macht, welche die Freiheit verleiht, für ihn am unerläßlichsten war.

Der Richter war nicht weniger voreingenommen als das Publikum. Ihm fehlte – ebenso wie Pilatus – das Bewußtsein, daß er der Vertreter der Gerechtigkeit und für ein ehrliches Verfahren verantwortlich war. Vermutlich hat er sich überhaupt nicht die Mühe gemacht, an ehrliche Gerechtigkeit in dieser Sache zu denken. In London werden die Richter hoch besoldet; sie beziehen ein jährliches Gehalt von £ 1500; und doch gehört es tatsächlich zu den Seltenheiten, daß einer von ihnen die gewöhnlichsten Vorurteile überwindet. Sir John Bridge verweigerte nicht nur die Haftentlassung, sondern legte Wert darauf, seine Gründe für diese Verweigerung anzugeben. Er trug nicht das leiseste Bedenken, die Sache des Angeklagten zu schädigen, noch ehe er von der Verteidigung ein Wort gehört hatte. Nachdem er die Belastungszeugen vernommen hatte, sagte er:

»Ich trage die Verantwortung für die Gewährung oder Verweigerung der Entlassung aus der Haft gegen Bürgschaft. Die Schwere der Verfehlungen und die Wucht des Zeugenbeweises sind für mich die entscheidenden Beweggründe. Ich muß die Entlassung aus der Haft unbedingt ablehnen und die Angeklagten dem Gericht zur Aburteilung überweisen.«

Nun bewiesen diese Gründe, die er willkürlich vorbrachte, und insbesondere die Anwendung des Wortes »unbedingt« nicht nur, daß Sir John Bridge voreingenommen war, sondern daß er den Wunsch hatte, den unglücklichen Angeklagten beim Publikum zu schädigen und somit das böse Werk der Presse fortzusetzen.

Die Wirkung dieser Voreingenommenheit und Rachsucht von Seiten der ganzen Gesellschaft trat in verschiedenen Folgeerscheinungen zutage.

Schon die Nachricht, daß Oscar Wilde verhaftet und nach Holloway gebracht worden war, versetzte ganz London in Aufruhr und gab das Signal zu einer seltsamen Auswanderung. Alle Züge nach Dover waren überfüllt, auf allen Dampfern nach Calais drängten sich die Mitglieder der aristokratischen und vornehmen Kreise, die es scheinbar vorzogen, sich in Paris oder selbst zur ungünstigen Jahreszeit in Nizza aufzuhalten, als in einer Stadt wie London zu bleiben, wo die Polizei mit so unerwarteter Strenge einschreiten durfte. Die Wahrheit war die, daß jene feingebildeten Ästheten, die ich bereits geschildert habe, durch die im Queensberry-Prozeß enthüllten Tatsachen wie vom Donner gerührt waren.

Zum ersten Male hörten sie, daß solche Häuser wie das Taylorsche von der Polizei überwacht, und daß Menschen von Woods und Parkers Schlage in die Prostituiertenliste eingetragen und beobachtet wurden. Denn sie hatten sich eingebildet, daß solche Gewohnheiten und Vorgänge im »Lande der Freiheit« unbemerkt blieben. Und auf ihre vorgefaßten Meinungen wirkte es erschütternd, daß die Londoner Polizei sehr viele Dinge wußte, mit denen sie sich – nach der allgemeinen Voraussetzung – nicht abgab. Und dieser unwillkommene grelle Aufklärungsstrahl trieb die Lasterhaften in wilder Hast in die Welt hinaus.

Noch nie waren die Mitglieder der leitenden englischen Kreise so zahlreich in Paris zusammengeströmt. Hier konnte man einen berühmten ehemaligen Minister und dort das kluge Gesicht des Präsidenten einer wissenschaftlichen Akademie sehen. An einem Tisch im Café de la Paix saß ein unlängst geadelter Millionär, der wegen seines auserlesenen Geschmacks in künstlerischen Dingen gefeiert war, – ihm gegenüber ein berühmter General. Man behauptete sogar, daß sich ein gefeierter englischer Schauspieler, nur um die Mode mitzumachen, ein für drei bis vier Tage gültiges Rückreisebillett nach Paris genommen hätte. Der Komödiant kehrte schnell zurück, aber die Mehrzahl der Zugvögel blieb eine Zeitlang fern. Der Sturm des Schreckens, der sie über den Kanal geweht hatte, hinderte ihre Heimkehr, und sie schwärmten unter Vorwänden aller Art über den Kontinent, – von Neapel bis Monte Carlo, von Palermo bis Sevilla.

Das ernsteste Ergebnis, das die richterliche Verweigerung der Haftentlassung zeitigte, war rein persönlicher Natur: Oscars Einkommen versiegte an der Quelle. Seine Bücher wurden aus dem Handel gezogen; kein Mensch sah sich seine Theaterstücke an, jeder Ladenbesitzer, dem er einen Pfennig schuldete, reichte sofort eine Klage gegen ihn ein. Es wurden Vollstreckungsbefehle erwirkt und das Haus in der Tite Street gerichtlich gepfändet. Innerhalb eines Monats, gerade zu der Zeit, da er des Geldes am dringlichsten benötigte, um den Rechtsbeistand zu honorieren und Beweismaterial zu beschaffen, wurde er zum Bettler gemacht und sein Eigentum zwangsweise verkauft. Und infolge seiner Gefangenschaft wurde die Versteigerung in solcher Art gehandhabt, daß sein ganzer Besitz verschleudert wurde, während seine Effekten in normalen Zeiten die ausstehenden Forderungen dreifach gedeckt hätten, und der Mann, der an seinen Theaterstücken jährlich £ 4000-5000 erzielte, wurde wegen einer Summe, die kaum £ 1000 überstieg, für bankerott erklärt. Von dieser Summe gingen £ 600 für die Kosten des Queensberry-Prozesses ab, welche die Familie Queensberry – Lord Douglas of Hamilton, Lord Alfred Douglas und deren Mutter – laut schriftlicher Zusage zu tragen verpflichtet waren, eine Zahlung, die sie zur gegebenen Zeit bedingungslos verweigerten. Es ist im höchsten Grade zu beklagen, daß viele von Oscars Manuskripten bei der durch die amtliche Zwangsversteigerung hervorgerufenen Unordnung gestohlen worden oder abhanden gekommen sind. Und so konnte Wilde wie Shylock ausrufen: »Ihr nehmt mein Leben, wenn ihr die Mittel nehmt, wodurch ich lebe.« Aber damals wurde diese Methode, die in Wirklichkeit eine Vergewaltigung war, von neun Zehnteln aller Engländer mit Beifall begrüßt.

Noch Schlimmeres bleibt zu berichten übrig. Das Recht der Redefreiheit, auf das die Engländer so stolz sind, war vollkommen verschwunden, wie es in England stets verschwindet, wenn es am notwendigsten ist. Es war unmöglich, in irgendeinem Londoner Blatt ein Wort zu Wildes Verteidigung – oder selbst nur zur milderen Auffassung seiner Vergehens zu äußern. Damals war ich der Haupteigentümer und Redakteur der »Saturday Review«, und man hätte annehmen sollen, daß ich in einem christlichen Lande berechtigt war, wenigstens an dieser Stelle eine vernünftige und vorurteilslose Anschauung geltend zu machen. Es lag nicht in meiner Absicht, Oscars Vergehen zu beschönigen, denn kein Mensch konnte perverse Verfehlungen härter verurteilen als ich. Aber Oscar Wilde war ein hervorragender Literat; er hatte herrliche Werke geschrieben, und seine guten Taten hätten zu seinen Gunsten sprechen sollen. So schrieb ich einen Artikel, der diese Anschauung zum Ausdruck brachte, aber meine Verleger benachrichtigten mich sofort, daß sie den Artikel nicht für ratsam hielten, und als ich auf meinem Standpunkt verharrte, teilten sie mir mit, daß sie ihn lieber nicht veröffentlichen wollten. Dennoch enthielt er weiter nichts als die dringende Vorstellung, das Urteil hintanzuhalten und die schimpfliche Behandlung bis nach dem Gerichtsverfahren zu vertagen. Die bekannten Buchhändler Smith und Söhne, die auf irgendeine Weise (vermutlich durch meinen Herausgeber) von der Sache Wind bekommen hatten, ließen mich wissen, daß sie keine Zeitschrift verkaufen würden, die sich Oscar Wildes Verteidigung zur Aufgabe machte, – mit dem Bemerken, daß es sogar besser wäre, wenn sein Name nicht genannt würde. Die englische Krämer-Zensurbehörde war entschlossen, an diesem Manne nach Jedburger Jedburg ist ein Ort, der wegen der Justizvergewaltigung des Richters Jeffries berüchtigt war. Muster Justiz zu üben. Und ich hätte allein durch den Versuch, die Angelegenheit gerecht zu behandeln, die »Saturday Review« zugrunde gerichtet.

In dieser verzweifelten Lage wandte ich mich an den Mann, der als bedeutender Wortführer der öffentlichen Meinung in England gilt. Der Leiter der »Times«, Mr. Arthur Walter, war stets freundlich zu mir gewesen. Ich kannte sein ausgeglichenes Urteil: er hatte sich in seiner Jugend in Oxford besonders ausgezeichnet und zwanzig Jahre mit den führenden Persönlichkeiten aller Kreise in nahem Verkehr gestanden. So ging ich nach Berkshire, um ihn zu besuchen, und stellte ihm eindringlich die Anschauungen vor, die ich für aristokratisch hielt. Es war klar, daß in England unter den obwaltenden Verhältnissen keine Aussicht auf ein gerechtes Gerichtsverfahren bestand. Und ich hielt es für die Pflicht der »Times«, unumwunden zu erklären, daß dieser Mann nicht von vornherein verurteilt werden dürfte und daß seine Verdienste im Fall seiner Verurteilung bei der Festsetzung des Strafmaßes ebenso berücksichtigt werden müßten wie seine Verfehlungen.

Mr. Walter war gern bereit, mich anzuhören, konnte sich aber meinen Ansichten nicht anschließen. Ein Mann, der ein bedeutendes Gedicht oder ein bedeutendes Theaterstück geschrieben hatte, stand in seiner Wertschätzung nicht so hoch wie ein Mann, der ein Scharmützel gegen ein Häufchen unbewaffneter Wilder siegreich bestanden oder ein paar Barbaren um ein Stück Land betrogen und es dem britischen Weltreich angegliedert hatte. Im Grunde genommen teilte er die Anschauung des englischen Landadels, daß ein erfolgreicher Durchschnittsgeneral, Admiral oder Staatsmann unvergleichlich bedeutsamer ist als Shakespeare oder Browning. Und er ließ sich nicht zu dem Glauben bekehren, daß die Namen Gladstone, Disraeli, Wolseley, Roberts und Wood mit jedem Tage schwinden und verbleichen, bis selbst der Gebildete sie nach hundert Jahren kaum noch kennt. Während Brownings, Swinburnes, Merediths oder selbst Oscar Wildes Ruhm mit der Zeit größer und strahlender wird, bis in hundert oder fünfhundert Jahren kein Mensch mehr im Traume daran denkt, streberische Politiker wie Gladstone oder Beaconsfield mit genialen Männern wie Swinburne oder Wilde zu vergleichen. Walter wollte das eben nicht einsehen, und als er bemerkte, daß die Wucht der Argumente gegen ihn sprach, erklärte er, daß es um so schlimmer für die Menschheit wäre, wenn es sich in Wahrheit so verhielte. Seines Erachtens war jeder, der ein einwandfreies Leben führte, mehr wert als ein Mann, der Liebeslieder und geistreiche Lustspiele schrieb, – also John Smith mehr wert als Shakespeare!

Er war für die Bitte um die reine Gerechtigkeit so unzugänglich, wie nur ein Engländer es zu sein vermag.

»Sie behaupten nicht mal, daß Wilde unschuldig ist«, warf er mir wiederholentlich vor.

»Ich halte ihn für unschuldig«, erklärte ich wahrheitsgemäß, »aber lieber sollen hundert Schuldige straflos ausgehen, als daß einem einzigen Menschen vor Gericht unrecht geschieht. Und wie soll diesem Manne jetzt vor Gericht sein Recht werden, wenn die Zeitungen seit Wochen von den heftigsten Ausfällen gegen ihn und seine Werke strotzen?«

Und er führte immer wieder ein echt englisches Stichwort an:

»Solange im wesentlichen Gerechtigkeit geübt wird, genügt uns das vollkommen.«

»Im wesentlichen wird nie Gerechtigkeit geübt werden«, rief ich, »solange das Ihr Ideal ist. Ihr Pfeil kann nie ganz so hoch fliegen, als das Ziel gesteckt ist.« Aber ich erreichte nichts.

Wäre Oscar Wilde ein Heerführer oder ein sogenannter Reichsvermehrer gewesen, so hätte die »Times« vielleicht der öffentlichen Meinung getrotzt, die Aufmerksamkeit auf seine Vorzüge gelenkt und befürwortet, sie als Milderungsgrund für seine Verfehlungen zu betrachten. Aber da es sich nur um einen Schriftsteller handelte, schien ihm niemand Dank schuldig zu sein oder sich darum zu bekümmern, was aus ihm wurde.

Walter war im Vergleich zu den meisten Leuten seiner Kreise ehrlich gesinnt. Während meines Besuchs hielt sich auch ein irischer Herr bei ihm auf, der meine Entschuldigungsgründe für Wilde mit schlecht verhehlter Entrüstung hörte. Ich war erregt, weil Arthur Walter mit Hartnäckigkeit nach neuen Argumenten suchte, und wies darauf hin, daß Wildes Verfehlungen pathologischer und nicht krimineller Art waren und in einem richtig organisierten Staate nicht bestraft werden würden.

»Sie geben zu«, sagte ich, »daß wir das Verbrechen strafen, um seiner Verbreitung vorzubeugen; streichen Sie diese Sünde aus dem Strafgesetzbuch, und die Zahl der Sünder wird nicht um einen einzigen vermehrt werden: weshalb soll man sie also bestrafen?«

»Ich würde solche Sünder zu Tode peitschen, jawohl, das würde ich«, rief der Ire in seinem Dialekt, »sie sind nicht wert, gehenkt zu werden.«

»Nur im Mittelalter sind die Aussätzigen gestraft worden«, fuhr ich fort, »weil man den Aussatz für ansteckend hielt; aber diese Krankheit ist nicht einmal ansteckend.«

»Meiner Treu, ich würde sie zur Strafe ausrotten!« rief der Ire.

Ich war erbittert, daß dieses blöde Vorurteil meinen Freund schädigte, und so sagte ich schließlich lächelnd:

»Sie sind sehr hart; ich bin es nicht, denn wissen Sie, ich besitze keine geschlechtliche Eifersucht, die mich hitzig macht.«

Nun mußte sich Walter um des lieben Friedens willen ins Mittel legen, aber das Unheil war bereits geschehen, denn meine Fürsprache blieb wirkungslos. Es ist sehr merkwürdig, daß das Vorurteil gegen die Schriftsteller in England so tief eingewurzelt und nachhaltig ist. Es fehlt nicht allein an jedem Versuch, sie nach ihrem wahren Werte einzuschätzen, nach dem Werte, den die Nachwelt ihren Werken beilegt, sondern sie werden auch dauernd als Parias behandelt, und die selbstverständlichste Gerechtigkeit wird ihnen versagt. Die verschiedenen Gerichtsverfahren gegen Oscar Wilde veranschaulichen dem denkenden Menschen in belehrender Weise die Kraft dieses Vorurteils. Manche mögen wohl die Erklärung für das Vorurteil gegen Wilde in dem eigentümlichen Widerwillen finden, der in England gegen das Vergehen herrscht, das ihm zur Last gelegt wurde.

Ich möchte aus den heutigen Zeitungen – denn ich schreibe diese Zeilen im Januar 1910 – ein Beispiel anführen. Da lese ich in meiner »Daily Mail«, daß ein Londoner Richter – Sir Albert de Rutzen – bei dem Polizeigericht in der Bow Street die Verfügung traf, 272 Exemplare der englischen Übersetzung von Balzacs »Contes Drolatiques« zu vernichten, mit der Begründung, daß das Buch unzüchtig sei. Nun handelt es sich hier um ein anerkanntes Meisterwerk, das bei weitem nicht so frei ist wie der »König Lear« oder »Hamlet«, wie »Tom Jones« oder »Antonius und Kleopatra«. Was würde man von einem französischen oder einem deutschen Richter denken, der die Verfügung trifft, daß eine gute Übersetzung des »Hamlet« oder »König Lear« wegen ihres unzüchtigen Inhalts verbrannt wird? Er würde für geisteskrank erklärt werden. Man kann eine derartige richterliche Entscheidung nur als einen Einzelfall verstehen. Aber in England ist diese ungeheuerliche Dummheit an der Tagesordnung. Sir A. de Rutzen begnügte sich nicht mit der Verfügung, die Bücher zu verbrennen und den Buchhändler zu einer Geldstrafe zu verurteilen, sondern ging so weit, diese Verurteilung zu rechtfertigen und die Polizei zu loben:

»Es ist mir ganz klar, daß in London seit langer Zeit kein häßlicherer und gemeinerer Schandfleck zu finden gewesen ist, und die Polizei hat überaus recht getan, die Sache ans Licht zu bringen. Meines Erachtens sind diese Bücher geeignet, sehr viel Schaden anzurichten.«

Man stelle sich die Geistesverfassung eines Menschen vor, der solchen verheerenden Unsinn zu sprechen vermag; der in voller Kenntnis der nächtlichen Vorgänge in Piccadilly die Übersetzung eines Meisterwerks einen »der häßlichsten Schandflecke« zu nennen wagt, die in London zu finden sind. Ich glaube, es ist wohl zuviel gesagt, daß ein solcher Mann verrückt ist; wenn man aber sagt, daß er die Geltung oder die Bedeutung der Worte, die er anwendet, nicht versteht, und daß er von einem außergewöhnlich vernunftlosen Vorurteil geleitet ist, – so entspricht das sicherlich der Wahrheit in ihrer mildesten Form.

Diese Widersinnigkeit, die Sir A. de Rutzen mit neun Zehnteln aller Engländer gemein hat, ist schuld daran, daß die Franzosen, die Deutschen und Italiener sie als eingefleischte Heuchler bezeichnen. Aber sie sind viel weniger heuchlerisch als ungebildet und verständnislos und dem mildernden Einfluß der Kunst und Literatur unzugänglich. Der Durchschnittsengländer will viel lieber ein Sportsmann als ein Dichter genannt werden. Das puritanische Commonwealth-Parliament (Staatsparlament) traf die Verfügung, die Gemäldesammlung Karls I. zu verkaufen – mit Ausnahme der unzüchtigen Bilder, die verbrannt werden sollten. Demzufolge wurden sechs Tiziane mit aller Feierlichkeit verbrannt und der erste Anfang einer großen nationalen Bildergalerie vernichtet. Man glaubt Sir A. de Rutzen vor sich zu sehen, wie er diesem Brandopfer in aller Feierlichkeit beiwohnte und andachtsvoll das Urteil abgab, daß alle Meisterwerke, die einen schönen Frauenbusen verführerisch zur Darstellung brachten, »häßliche und gemeine Schandflecke« wären und als schädlich verbrannt werden müßten. Oder, besser gesagt, kann man sehen, daß Sir A. de Rutzen es in zwei und einem halben Jahrhundert fertig gebracht hat, ein wenig über diesen urwüchsigen puritanischen Standpunkt hinauszukommen: denn vielleicht würde er ein Gemälde von Meisterhand unverbrannt durchschlüpfen lassen, während ein von Meisterhand geschriebenes Werk nach seinen Begriffen noch mit dem Bannfluch belegt wird.

Dieses Vorurteil beruht in gewisser Hinsicht auf der Tatsache, daß die Engländer eine besondere Abneigung gegen die geschlechtliche Zügellosigkeit in allen ihren Formen empfinden. Sie ist nicht vereinbar mit dem Ideal, das sie sich von der Männlichkeit gemacht haben. Und wie jener armselige närrische Richter haben sie noch nicht die Wahrheit erfaßt, die selbst der Stumpfsinnigste wohl durch das Beispiel der Japaner begriffen haben dürfte: daß eine Nation außergewöhnlich tapfer, stark und entsagungsvoll und zugleich tief sinnlich und für jede verfeinerte Leidenschaftlichkeit empfänglich sein kann. Wenn der große englische Mittelstand ebenso gebildet wäre wie der deutsche, würde ein Urteil in Sir A. de Rutzens Sinne als etwas Lächerliches und Albernes verspottet oder, besser gesagt, es würde vollkommen undenkbar sein.

In den angelsächsischen Ländern ist sowohl der Künstler wie die geschlechtliche Leidenschaft verpönt. Die Rasse ist mehr zu kriegerischen Taten als zum Liebesspiel geneigt. Sie hält ihre überwiegend streitbaren Triebe für kraftvoll und tugendhaft, gerade weil sie das zu verachten pflegt, was sie gern als »schmachtende Liebe« bezeichnet. Der Dichter Middleton konnte die Stadt seiner Träume nicht nach England verlegen, – seine Stadt, der ein schönerer Himmel und schönere Straßen beschieden waren:

So lang die Stadt sich dehnet, waltet heitre Lust,
Und nach dem Schwerte sah ich beben keine Hand,
Und waren doch vernarrt in ihre starke Brust,
Auf daß sie milder würden: Liebe herrscht im Land.

Amerika und England bilden heutzutage zwei abschreckende Beispiele für die Gewaltherrschaft der rückständigen und groben öffentlichen Meinung auf dem edelsten Interessengebiete der Menschheit: in der Kunst, in der Literatur und Religion. Keine Gewaltherrschaft auf Erden ist für die Seele des Künstlers so vernichtend, sie ist niedriger und erniedrigender als irgendeine in Rußland herrschende Willkür. Die Folgen dieser von dem ungebildeten Mittelstande und der rohen Aristokratie ausgeübten Tyrannei werden durch das Gerichtsverfahren gegen Oscar Wilde und die Grausamkeit der Behandlung, die ihm von Seiten des englischen Richtertums zuteil wurde, in allen Einzelheiten erwiesen. –


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