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XXI
Seine Eifersüchtelei, seine Liebe zum Leben und sein Hang zur Trägheit

Je mehr ich mir die Angelegenheit überlegte, um so deutlicher erkannte oder glaubte ich zu erkennen, daß Oscar nur gerettet werden könnte, wenn es gelang, ihn zur Arbeit zu bewegen und ihm einen Lebenszweck zu schaffen. Der Leser darf dabei nicht vergessen, daß ich damals »De Profundis« noch nicht gelesen hatte und nicht wußte, daß Oscar im Gefängnis diese Notwendigkeit selbst eingesehen hatte. Trotz allem, sagte ich mir, ist nichts verloren, wenn er nur zu arbeiten anfängt. Ein Mensch könnte ja imstande sein, Glück und Hoffnung in den Wind zu schlagen, die Verzweiflung zu seiner Eheliebsten zu wählen und von seiner rauhen Gefährtin Mut zu erlernen. Glück ist für den Künstler keine unerläßliche Notwendigkeit; Glück erzeugt niemals etwas anderes als Erinnerungen. Wenn Oscar arbeitete und nicht mehr über Vergangenes nachgrübelte, wenn er sich nicht in Selbstbetrachtungen vertiefte wie ein indischer Fakir, so würde er vielleicht noch seelisch gesunden und etwas leisten. Er könnte alles wiedererlangen: die Selbstachtung und die Achtung seiner Mitmenschen, wenn das wirklich der Mühe wert war. Ich wußte, daß ein Künstler zum mindesten die Selbstverleugnung eines Helden und die heroische Energie besitzen muß, unablässig zu ringen, ohne die er es niemals – nicht einmal in seiner Kunst – weit bringen wird. Wenn es mir nur gelänge, Oscar zur Arbeit zu bewegen, so glaubte ich, daß alles noch in Ordnung kommen würde. Ich verlebte eine Woche mit ihm, wir speisten mittags und abends zusammen, und ich setzte ihm das alles ausführlich auseinander.

Wie ich bemerkte, genoß er gutes Essen und Trinken ebenso intensiv wie je zuvor. Meines Erachtens trank er sogar zu viel und wurde wieder dick und schlaff; aber das üppige Leben war ihm ein Bedürfnis, und sicherlich hinderte es ihn nicht, entzückend zu plaudern. Aber sobald ich ihn zur schriftstellerischen Betätigung spornte, schüttelte er den Kopf:

»Ach, Frank, ich kann nicht, du kennst ja meine Wohnung, wie soll ich da wohl schreiben? Ein fürchterliches Schlafzimmer düster wie eine Zelle, und ein kleines Wohnzimmer ohne jede Aussicht. Voller Bücher und kein Platz zum Schreiben; wenn ich aufrichtig sein soll: ich kann da nicht mal lesen. Bei solcher elenden Armseligkeit kann ich gar nichts leisten.«

Er kam immer wieder darauf zurück und betonte seine Dürftigkeit, so daß ich die Absicht nicht verkennen konnte. Er war bereits bewandert in der Kunst, sich Geld zu verschaffen, ohne darum zu bitten. Mein Herz litt um seinetwillen; man gleitet mit so gefährlicher Geschwindigkeit und Leichtigkeit bergab, und der Schlamm in der Tiefe ist so ekelhaft. Und ich beeilte mich, ihm zu sagen:

»Du kannst etwas Geld bekommen; aber du müßtest arbeiten, Oscar. Weshalb soll dir schließlich jemand anders helfen, wenn du dir nicht selbst helfen willst? Wenn ich dir nicht behilflich sein kann, dich selbst zu erretten, so schädige ich dich nur.«

»Du weißt, Frank, daß das ein elender Sophismus ist, nichts als Sophisterei; ein gutes Mittagessen ist jedem lebendigen Menschen zuträglicher als ein schlechtes.«

Ich lächelte: »Du darfst dir nicht selbst zu nahe treten. Du könntest mühelos Tausende verdienen und wieder wie ein Fürst leben. Weshalb willst du dich nicht dazu aufraffen?«

»Wenn ich eine freundliche, sonnige Wohnung hätte, würde ich's versuchen … Es ist schwieriger, als du glaubst.«

»Unsinn, es ist eine Leichtigkeit für dich. Deine Zuchthausstrafe hat deinen Namen in der ganzen Welt verbreitet. Ein Buch von dir würde reißend verkauft werden, ein Theaterstück von dir in jeder Großstadt zugkräftig sein. Du könntest hier wie ein Fürst leben. Shakespeare hat Liebe und Freundschaft verloren und die Hoffnung und Gesundheit dazu – er hat alles verloren – und doch von selbst so viel Kraft aufgebracht, um den ›Sturm‹ zu schreiben. Weshalb kannst du es nicht?«

»Ich will's versuchen, Frank, ich will's versuchen.«

Ich möchte hier nur kurz erwähnen, daß jedes Lob, das einem anderen galt, selbst wenn es Shakespeare war, unweigerlich dazu angetan war, Oscar zum Wetteifer anzuspornen. Er wollte keine Überlegenheit gelten lassen. So hatte ich in einem in der »Saturday Review« erschienenen Aufsatz die Beobachtung zum Ausdruck gebracht, daß kein anderer Mensch jemals ein so lückenloses Bild seiner Persönlichkeit gegeben hat wie Shakespeare.

»Wir kennen ihn besser als unsere eigenen Zeitgenossen«, fuhr ich fort, »und es lohnt sich mehr, daß man ihn kennt.« Sofort schrieb Oscar an mich und erhob Einspruch gegen diese Bemerkung. »Du hast mich wohl vergessen, Frank. Es lohnt sich doch wohl mehr, daß man mich kennt als Shakespeare?«

Die Frage war so befremdend für mich, daß ich nicht unverzüglich eine Antwort fand; aber als er später nicht nachließ, mußte ich ihm sagen, daß Shakespeare in seinem Denken und Fühlen einen stolzeren Gipfel erreicht hatte als alle Modernen, obwohl meine Behauptung, ihn besser zu kennen als einen lebenden Menschen, wahrscheinlich nicht ganz richtig war.

Ich mußte dann wieder nach England reisen, und es verging einige Zeit, ehe ich nach Paris zurückkehren konnte; aber im Frühsommer fuhr ich nochmals hinüber und bemerkte, daß er nichts geschrieben hatte.

Häufig sprach ich mit ihm über diese Angelegenheit, aber jetzt stellte er sich auf einen etwas anderen Standpunkt:

»Ich kann nicht schreiben, Frank. Wenn ich die Feder zur Hand nehme, wird die ganze Vergangenheit wieder wach: ich kann die Gedanken nicht ertragen … Gram und Reue liegen wie ein paar Hunde auf der Lauer, um mich in jedem müßigen Augenblick zu packen. Ich muß ausgehen, ich muß Leben sehen, mich amüsieren und für etwas interessieren, sonst werde ich verrückt. Du weißt nicht, wie weh mir's ums Herz ist, sobald ich allein bin. Ich erblicke meine eigene Seele von Angesicht zu Angesicht: der Oscar, der ich vor vier Jahren war, mit seinem schönen, gesicherten Leben und seinen glänzenden, mühelosen Erfolgen steht vor mir, und ich kann den Gegensatz nicht ertragen … Meine Augen sind von Tränen wund. Wenn du es gut mit mir meinst, Frank, mußt du nicht verlangen, daß ich schreibe.«

»Du hast versprochen, daß du es versuchen willst«, sagte ich etwas scharf, »und ich will, daß du es versuchst. Du hast nicht mehr gelitten, als Dante in der Verbannung und Verarmung gelitten hat, und du weißt es doch, daß er sich alles vom Herzen heruntergeschrieben haben würde, auch wenn er zehnmal mehr gelitten hätte. Tränen! Fürwahr! Die Glut in seinen Augen würde die Tränen getrocknet haben.«

»Ganz richtig, Frank, aber Dante war ganz aus einem Guß, während es mich nach zwei Richtungen drängt. Ich bin dazu geboren, die Freude und Herrlichkeit des Lebens, die Lust am Leben, die Wonne an allem Schönen in dieser wunderschönen Welt zu besingen, und da haben sich die Menschen über mich hergemacht und mich gefoltert, bis ich Mitleid und Kummer kennen lernte. Jetzt kann ich die Freude nicht mehr von Herzen besingen, weil ich das Leid kenne, und ich bin nicht dazu geschaffen, das Leid zu besingen. Ich verabscheue es, und ich möchte Liebeslieder singen, die von Lust und Freude handeln. Nur die Freude spricht zu meinem Herzen, die Freude am Leben, an der Schönheit und Liebe – ich könnte das Lied des Sonnengottes Apollo singen –, und die Menschen möchten mich zwingen, das Lied des gemarterten Marsyas zu singen.«

Das war meines Erachtens sein wahres und letztes Bekenntnis. Sein zweiter moralischer Sturz nach der Entlassung aus dem Zuchthause hatte ihn »zum Kampfe mit sich selbst« gebracht. Das ist, wie ich glaube, die tiefinnerste Wahrheit über seinen seelischen Zustand; das Lied vom Kummer, vom Mitleid und vom Verzichten war nicht seine Sache, und die Bekanntschaft mit dem Leid machte es ihm unmöglich, die Wonne am Leben und die Freude, die er an der Schönheit empfand, zu besingen. Es schien ihm niemals in den Sinn zu kommen, daß er sich zu einem Glaubensbekenntnis aufschwingen könnte, das sowohl die Gewährung der eigenen Neigungen als auch die Entsagung in einer großherzigeren Lebensauffassung in sich schließen könnte.

Trotz seiner sonnigen Natur war er in gewisser Hinsicht nicht frei von Eifersucht und Neid, was stets zum Durchbruch kam, wenn Leute, die er kennen gelernt und über die er sich ein Urteil gebildet hatte, öffentliche Erfolge erzielten. Ich entsinne mich, einmal aus seinem Munde gehört zu haben, daß er sein erstes Theaterstück geschrieben hatte, weil es ihn verdroß, daß Pinero so viel Ruhm erntete – »Pinero, der überhaupt kein Schriftsteller ist: ein Theaterzimmermann ist er, weiter nichts. Seine dramatischen Charaktere sind verpfuscht; und ein so minderwertiger Stil, oder vielmehr ein so vollkommener Mangel an Stil ist überhaupt noch nicht dagewesen; er schreibt wie ein Krämergehilfe!«

Jetzt bemerkte ich, daß dieser Hang zur Eifersucht stärker denn je bei ihm hervortrat. Eines Tages zeigte ich ihm eine illustrierte englische Zeitschrift, die ich gekauft hatte, als ich zum Mittagessen ging. Sie brachte ein Bild von George Curzon (Verzeihung! von Lord Curzon) als Vizekönig von Indien. Die Aufnahme stellte ihn im Wagen, neben seiner Gattin, dar: der prächtige vierspännige Galawagen mit Vorreitern, von berittenen Soldaten und der jubelnden Menge geleitet, – mit dem ganzen Prunk und Pomp der Herrschermacht.

»Hast du das gesehen?« rief Oscar gereizt, »stell' dir George Curzon vor, der so gefeiert wird. Ich kenne ihn gut, ein typischeres Exemplar schwerfälliger Mittelmäßigkeit hat es in der Welt noch nie gegeben. Er konnte nie einen Gedanken und einen Satz zusammenbringen, der über das Alltägliche hinausgeht.«

»Ich kenne ihn auch ziemlich gut«, lautete meine Antwort. »Seine unheilbare Alltäglichkeit ist die Erklärung für seinen Erfolg. Er ›äußert‹, wie er sich wohl selbst ausdrücken würde, die Anschauungen des Durchschnittsmenschen auf allen Gebieten. Er könnte Leitartikel für die ›Daily Mail‹ oder die ›Times‹ schreiben. Was verstehst du vom Durchschnittsmenschen oder von seinen Anschauungen? Aber der Mann der Straße, wie man heutzutage sagt, kann nur von dem Manne lernen, der höchstens eine kleine Stufe über ihm steht, und so kommen Leute wie George Curzon im Leben zu Ehren. Auch ist das eine Erklärung für die Volkstümlichkeit mancher Schriftsteller. Hall Caine ist sogar ein größeres Format von George Curzon, – die besser ausstaffierte Mittelmäßigkeit.«

»Aber weshalb soll ihm Ruhm und Rang und Macht zuteil werden?« rief Oscar unwillig.

»Rang und Macht, weil er George Curzon ist, – aber Ruhm wird ihm nie zuteil werden; und ich vermute, wenn man die Wahrheit wüßte, daß er in den Augenblicken, in denen auch er, wie du sagst, seine eigene Seele von Angesicht zu Angesicht erblickt, viel von seinem Rang und seiner Macht für einen winzigen Bruchteil deines Ruhmes hergeben würde.«

»Das kann wohl wahr sein, Frank«, rief Oscar, »das ist mit ziemlicher Sicherheit der einzige Dorn in seinem Rosenbett. Aber wie arg wird er überschätzt und über Gebühr belohnt … Kennst du Wilfred Blunt?«

»Ich bin mit ihm zusammengetroffen«, erwiderte ich, »aber ich kenne ihn nicht. Wir trafen uns einmal, und er prahlte in alberner Weise mit seinen arabischen Ponys. Ich war damals Redakteur der ›Evening News‹, und Mr. Blunt gab sich die größte Mühe, sein Gespräch auf mein Niveau herunterzuschrauben.«

»Er hat das Zeug dazu, ein Dichter zu sein, und besitzt eine ganz echte Liebe zur Literatur.«

»Das weiß ich«, sagte ich, »ich kenne seine Arbeiten von Grund auf und bin über ihn ziemlich genau unterrichtet. Ich kann die Art, wie er sich für Ägypten einsetzt, nur rühmen und seine Dichtungen, sofern er etwas zu sagen hat.«

»Weißt du, Frank, er hatte so eine Art Klub in Crabbett Park eingerichtet, einen Dichterklub, zu dem nur Dichter Zutritt hatten, und er war ein ganz vorzüglicher und tadelloser Wirt. Lady Blunt konnte nie in Erfahrung bringen, was er eigentlich vorhatte. Er ließ uns alle nach Crabbett kommen, und der Dichter, der das vorige Mal als Mitglied aufgenommen worden war, mußte eine Rede auf den neuen Dichter halten, – eine Rede, in der er die Wahrheit über den neuen Gast sagen sollte. Blunt hatte diesen Gedanken wohl von der französischen Akademie übernommen, wo diese Sitte üblich ist. Nun, ich wurde nach Crabbett Park eingeladen, und denke dir nur: George Curzon war der Dichter, der dazu ausersehen wurde, die Rede auf mich zu halten!«

»Großer Gott«, rief ich, »Curzon als Dichter! Ebensogut könnte man Kitchener für einen bedeutenden Heerführer oder Salisbury für einen Staatsmann halten.«

»Er macht Verse, Frank, aber natürlich hat er nicht einen dichterischen Zug. Seine Verse sind immerhin nicht schlecht, d. h. gut in der Form und treffend, vielleicht sogar witzig. Also Curzon mußte nach dem Essen seine Rede auf mich halten. Das Essen war köstlich, ganz ausgezeichnet, und zum Schluß erhob sich Curzon von seinem Platz. Offenbar hatte er seine Rede sorgfältig ausgearbeitet, sie war mit versteckten Anspielungen, mit höhnischen Randbemerkungen über heimliche Sünden gespickt. Jeder sah seinen Nachbar an und hielt die Rede für den Gipfel der Geschmacklosigkeit.

»Stets haßt die Mittelmäßigkeit das Talent und verabscheut das Genie; Curzon wollte sich selbst beweisen, daß er mir wenigstens auf moralischem Gebiete überlegen war.

»Als er sich wieder setzte, mußte ich ihm antworten. Das war im Programm vorgesehen. Natürlich war ich nicht darauf vorbereitet, ich hatte mich weder mit Curzon, noch mit dem beschäftigt, was er vorbringen würde, aber ich stand auf, Frank, und sagte die liebenswürdigsten Wahrheiten über seine Person. Alle Anwesenden hielten sie für die bitterste Ironie und jubelten mir ohne Ende zu, obgleich alles, was ich anführte, nur der Wahrheit entsprach. Ich erzählte, wie schwierig es Curzon geworden war, in Oxford zu arbeiten und zu studieren. Jeder wünschte, ihn um seiner Stellung willen kennen zu lernen, weil er Parlamentarier werden wollte und zweifellos eine große Rolle spielen würde, und alle suchten eifrig seinen Verkehr. Aber er wußte, daß er dieser Versuchung nicht unterliegen durfte; er setzte sich mit einem nassen Tuch um den Kopf in sein Zimmer und arbeitete, arbeitete unaufhörlich.

»Bei den Vorprüfungen, die nur ein gutes Gedächtnis erfordern, trug er den ersten Preis davon. Aber selbst der Erfolg konnte ihn nicht dazu bewegen, in seinem Eifer nachzulassen; so verlebte er arbeitsreiche Tage und nahm jede Klassenprüfung ernst; er zog Jahreszahlen mit roter Tinte aus und heftete die Tabelle an seine Zimmerwand. Er lernte ganze Seiten mit unwichtigen Begebenheiten auswendig und prägte sie mit blauer Tinte seinem Gedächtnis ein und erhielt schließlich beim Schlußexamen den zweiten Preis. ›Und nun‹, mit diesen Worten beendete ich meine Rede, ›tritt dieser Musterknabe ins Leben, er wird es sicherlich ernst auffassen und wenigstens immer den zweiten Preis davontragen und eine bedeutende, rühmliche Laufbahn haben.‹

»Sie lachten schallend, Frank, und um Curzon Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muß ich erwähnen, daß er zuletzt zu mir kam, sich entschuldigte und ganz reizend war. Alle waren wirklich sehr zuvorkommend, und wir verlebten eine festliche Nacht.

»Ich entsinne mich, daß wir die ganze Nacht verplauderten, oder vielmehr ich plauderte, und alle anderen hörten zu, denn die englische Gesellschaft gewinnt jetzt allmählich Verständnis für das wichtige Prinzip der Arbeitsteilung. Der Wirt bietet vorzügliches Essen, vortreffliche Weine, vortreffliche Zigaretten und übervortrefflichen Kaffee, – das ist seine Pflicht, und alle hören zu, – das ist ihre Pflicht: während ich plaudere und die Sterne funkelnd ihrer Freude Ausdruck geben.

»Auch Wyndham war zugegen, du kennst doch George Wyndham mit dem hübschen Gesicht und der schönen Figur: er ist bei weitem klüger als Curzon, aber er hat nicht Curzons Stoßkraft und Energie, oder es fehlt ihm vielleicht – wie du es nennst – an der engen Fühlung mit dem Durchschnittsmenschen, die Curzon besitzt; er war reizend zu mir.

»Morgens schwärmten wir alle aus, um den Sonnenaufgang zu sehen, und ein paar von den jungen Leuten, die vor jugendlicher Ausgelassenheit überschäumten – Curzon war natürlich mit dabei –, zogen die Kleider aus, rannten zum See hinunter und fingen wie eine Horde Schulknaben an, zu schwimmen und zu tauchen. Die Engländer haben überhaupt viel Knabenhaftes an sich, daher sind sie so liebenswürdig. Als sie aus dem Wasser kamen, liefen sie über den Rasen, um trocken zu werden, und dann begannen Englands künftige Gebieter – wie sie dastanden, splitternackt – Lawn-tennis zu spielen. Das Bild wird mir stets unvergeßlich sein. Wilfred Blunt war in die Zimmer seiner Frau hinaufgegangen, hatte sich umgekleidet und ein phantastisches Pyjama angezogen; plötzlich öffnete er oben eine Glastür, trat heraus, kauerte sich mit untereinandergeschlagenen Beinen auf den Balkon und blickte – genau wie eine Buddhagestalt in Grün und Rosa – auf das tolle Lawn-tennis-Spiel hinab, während ich mit irgend jemand umherschlenderte, frischen Kaffee bestellte und plauderte, bis die Morgendämmerung auf leisen silbernen Sohlen nahte und das schöne Grün des Parks in ihr Licht tauchte …

»Jetzt spielt sich George Curzon in Indien als König auf, Wyndham macht Karriere, und ich lebe in Schande und Armut verborgen als Verbannter und Verfemter hier in Paris. Wunderst du dich, daß ich nicht schreiben kann, Frank? Die furchtbare Ungerechtigkeit des Lebens macht mich rasend. Was haben diese Leute denn schließlich im Vergleich zu mir geleistet?

»Wenn wir alle jetzt die Augen schließen, wird in fünfzig oder in hundert Jahren kein Mensch mehr etwas von Curzon oder Wyndham oder Blunt wissen, es wird allen ganz gleichgültig sein, ob sie gelebt haben oder gestorben sind, aber Millionen von Menschen werden meine Lustspiele und meine Erzählungen und ›Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading‹ kennen und lesen, und selbst mein unseliges Schicksal wird das Mitgefühl der ganzen Welt erwecken.«

Das war alles recht wahr und wohl der Beachtung wert; aber auch wenn Oscar von Männern sprach, die ihm überlegen waren, verhielt er sich ebenso: sein Selbstgefühl war ungewöhnlich stark. Er fand seine Leistungen unvergleichlich und war nicht darauf bedacht, den ihm gebührenden Platz einzunehmen, wie es sogar bei Shakespeare der Fall war. Von Anfang an, von Jugend auf, war er überzeugt, daß er eine Größe sei und Großes vollbringen werde. Viele von uns besitzen dieselbe Zuversicht und sind ebenso überzeugt, aber diese Zuversicht steht uns nicht so unentwegt zur Seite, wie sie Oscar erfüllte, dessen ganzes Tun sie beherrschte. So machte ich zum Beispiel einmal die Bemerkung, daß seine Handschrift unverkennbar und charakteristisch sei. »Ich habe sie mir als Knabe einstudiert«, sagte er zu mir, »ich wollte eine besondere Handschrift haben; sie mußte deutlich und schön und eigenartig sein. Endlich brachte ich es soweit, aber es gehörte Zeit und Geduld dazu. Ich wollte immer, daß alles an mir besonders ist«, fügte er lächelnd hinzu.

Er war stolz auf seine äußere Erscheinung, freute sich grenzenlos über seine stattliche Größe und bildete sich sogar etwas darauf ein. »Eine große Figur sieht vornehm aus«, behauptete er, und einmal verstieg er sich sogar zu der Meinung: »Man kann sich Napoleon nicht klein vorstellen; man denkt nur an seinen prachtvollen Kopf und vergißt die unbedeutende, untersetzte Gestalt; es muß ihm sehr fatal gewesen sein: kleine Männer haben keine Würde.«

Und dabei hatte er gar keine Ahnung von der Tatsache, daß die meisten hochgewachsenen Menschen ihre Körpergröße nicht andauernd als Überlegenheit empfinden. Aber im allgemeinen wird Montaignes Anschauung geteilt, daß Körpergröße die Hauptschönheit des Mannes ist: sie hat etwas Imponierendes.

Oscar hat sich nie eine Kritik zur Lehre dienen lassen; er hatte ziemlich viel persönliche Würde, trotz seiner Liebenswürdigkeit, und wenn seine Leistungen getadelt wurden, lächelte er versonnen oder ging vom Thema ab, als ob er kein Interesse dafür hätte.

Immer wieder reizte ich sein Selbstgefühl, um ihn zum Schreiben zu bewegen, und erhielt stets dieselbe Antwort:

»Ach, Frank, es ist mir ganz unmöglich, unter diesen erbärmlichen Verhältnissen zu arbeiten.«

»Aber deine Verhältnisse können jetzt besser werden, und du kannst Geld in Fülle bekommen, wenn du nur anfängst zu arbeiten.«

Er schüttelte mit verzweifelter Miene den Kopf. Immer von neuem machte ich den Versuch, aber es gelang mir nicht, ihn aufzurütteln, auch nicht, als ich das Geld als Lockmittel benutzte. Damals wußte ich nicht, daß er regelmäßig jedes Jahr über £ 300 erhielt. Ich glaubte, daß er ganz mittellos und von der gelegentlichen Unterstützung abhängig war, die seine Freunde ihm gewähren konnten. Ich besitze einen aus dieser Zeit stammenden Brief von ihm, in dem er mich sogar um £ 5 bittet, als hätte er sich in höchster Not befunden.

Als ich mich wieder einmal in Paris aufhielt, konnte ich, nachdem wir seine Lage erörtert hatten, die Bemerkung nicht unterdrücken:

»Das einzige, was dich zum Schreiben bringen wird, Oscar, ist gänzliche, nackte Armut. Die Not ist letzten Endes der schärfste Sporn.«

»Du verkennst mich«, erwiderte er gereizt. »Ich würde mir das Leben nehmen. Ich kann's bis zum Ende ertragen, aber bei gänzlicher Mittellosigkeit würde ich den Selbstmord als offene Tür benutzen.«

Plötzlich schlug seine niedergeschlagene Stimmung um, und sein ganzes Gesicht verklärte sich.

»Ist's nicht komisch, Frank, auf welche Art die Engländer von der ›offenen Tür‹ sprechen, während ihre Türen, selbst die Kirchentüren, stets verschlossen und vergittert und verriegelt sind? Und doch handelt es sich bei ihnen nicht um Heuchelei; sie können sich nur nicht selbst so sehen, wie sie sind; sie haben keine Phantasie.«

Eine lange Pause – dann fuhr er in ernstem Tone fort:

»Selbstmord, Frank, ist stets eine Versuchung für den, der unglücklich ist, eine große Versuchung.«

»Selbstmord ist das natürliche Ende des Weltmüden«, erwiderte ich; »du aber genießt das Leben intensiv. Es ist lächerlich, wenn du von Selbstmord sprichst.«

»Weißt du, daß meine Frau gestorben ist, Frank?«

»Ich habe es erfahren«, sagte ich.

»Der Weg, der mich zur Hoffnung und zu einem neuen Leben zurückführen sollte, mündet in ihr Grab«, fuhr er fort. »Alles, was ich tue, Frank, ist unabänderlich.«

Er sprach mit einer unverkennbaren, ernsten Aufrichtigkeit.

»Die großen Tragödien in der Welt sind alle endgültig und unabwendlich. Sokrates wollte sich dem Tode nicht entziehen, obwohl Crito ihm das Gefängnistor öffnete. Ich konnte mich dem Gefängnis nicht entziehen, obwohl du mir den Weg zur Rettung gewiesen hast. Glaubst du nicht, daß wir vom Schicksal berufen sind zu leiden, – als Beispiel für die Menschheit, als Echo und Leuchte in alle Ewigkeit?«

»Ich glaube, es wäre schöner, anstatt dich niederzulegen und die Strafe hinzunehmen, sie mit dem Fuße niederzutreten und zum Sprungbrett zu benutzen.«

»Ach, Frank, du würdest alle Tragödien in Siege verwandeln, du bist eine Kämpfernatur. Mein Leben ist erledigt.«

»Du liebst das Leben ebenso wie je zuvor«, rief ich, »mehr als irgend jemand, den ich je gekannt habe.«

»Das ist wahr«, rief er; und sein Gesicht verklärte sich plötzlich, »mehr als irgend jemand, Frank. Das Leben ist mir eine Wonne: die Leute, die über die Boulevards gehen, das Sonnenlicht, das auf den Bäumen spielt, das laute Getriebe, die schnelle Fahrt der Droschken, die Tracht der ›cochers‹ und der ›sergents-de-ville‹; Arbeiter und Bettler, Kuppler und Dirnen, – alle erfreuen mein Herz und bezaubern mich, und wenn du mich nur reden lassen würdest, anstatt mich mit dem Schreiben zu quälen, wäre ich ganz zufrieden. Weshalb soll ich noch mehr schreiben? Ich habe für den Ruhm genug getan.

»Ich will dir eine Geschichte erzählen, Frank«, unterbrach er seinen Gedankengang und erzählte mir eine unbedeutende Anekdote, die von Judas handelte. Die kleine Erzählung wurde entzückend mit ausdrucksvollen stimmlichen Modulationen und noch ausdrucksvolleren Pausen vorgetragen …

»Das Ende vom Liede ist, daß du nicht schreiben willst?« sagte ich vor meiner Rückkehr nach London.

»Aber nein, Frank«, sagte er, »daß ich unter diesen Verhältnissen nicht schreiben kann. Wenn ich genug Geld hätte, wenn ich von Paris fort könnte, – wenn ich meine gräßliche Wohnung vergessen, zum Winteraufenthalt nach der Riviera gehen und in irgendeinem Latinerdorfe am Meeresstrande mit dem blauen Meer zu meinen Füßen, mit dem blauen Himmel über mir und Gottes Sonne ringsumher ohne Geldsorgen leben könnte, würde ich mit derselben Selbstverständlichkeit schreiben, wie der Vogel singt, weil ich glücklich wäre, – weil ich nicht anders könnte …

»Du schreibst Geschichten, die aus dem Kampf des Lebens entnommen sind; dir ist deine Umwelt gleichgültig. Ich bin ein Dichter und kann nur im Sonnenschein singen, wenn ich glücklich bin.«

»Gut«, sagte ich und klammerte mich an diese halbe Zusage. »Es ist wohl möglich, daß ich im Laufe der nächsten Monate über etwas Geld verfügen kann, und wenn es der Fall ist, so sollst du zum Winter nach dem Süden gehen und ohne Geldsorgen so leben, wie es dir gefällt. Wenn du nur in einem schönen, von Sonnenlicht durchfluteten Käfig singen kannst, weiß ich den richtigen Ort für dich.«

Mit dieser etwas unbestimmten Vereinbarung trennten wir uns für einige Monate.


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