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III
Auf dem Trinity College in Dublin und dem Magdalen College in Oxford

Oscar Wildes Leistungen auf der Schule waren gut, noch besser aber auf dem College, wo die Konkurrenz schärfer war. Am 19. Oktober 1871, gerade drei Tage nach seinem siebzehnten Lebensjahr, wurde er im Trinity College aufgenommen. Sir Edward Sullivan schreibt mir, daß Oscar sich bereits bei der Immatrikulation als »glänzender, durchaus tüchtiger Kenner der klassischen Literatur« bewährte. Auch seine weiteren Mitteilungen über ihn sind eine aus derselben Zeit stammende Momentaufnahme von unschätzbarem Wert. Sie bilden tatsächlich ein Konterfei, dessen Grundzüge mit den Jahren immer charakteristischer wurden.

»Seine Stube im College lag auf der Nordseite eines der alten, ›Botany Bay‹ genannten Höfe. Sie war überaus düster und verwahrlost, so daß er dort niemals Gäste bei sich sah. Wurde ausnahmsweise ein Besuch vorgelassen, so stand stets in seinem Wohnzimmer an sichtbarer Stelle eine unvollendete, in Öl gemalte Landschaft auf der Staffelei. Dann pflegte er unweigerlich auf das Bild hinzuweisen und in seiner humoristisch unglaubwürdigen Art zu erzählen, daß er ›gerade den Schmetterling hineingemalt habe‹. Wer seine Leistungen in der von ›Bully‹ Wakeman geleiteten Zeichenklasse auf der Portora-Schule kannte, ließ sich schwerlich in dieser Angelegenheit hinters Licht führen …

»Auf dem College lebte er hauptsächlich seinem Studium. Außer seinen Vorbereitungen zur Prüfung in der klassischen Literatur verschlang er begierig die Werke der besten englischen Schriftsteller.

»Er hatte eine große Schwärmerei für Swinburne und las unablässig seine Gedichte; auch John Addington Symonds Schriften über die griechischen Schriftsteller ließ er kaum aus der Hand. Während seiner Universitätszeit bildete er sich keine bestimmten Anschauungen über soziale, religiöse und politische Fragen; er schien sich restlos mit literarischen Studien zu befassen.

»Gleichzeitig übernahm er in Dublin bereitwillig allerlei gesellschaftliche Verpflichtungen und war stets ein sehr lebhafter und gern gesehener Gast in jedem Hause, in dem er zu verkehren wünschte. Während seiner ganzen Universitätszeit in Dublin konnte man keinen Menschen von reinerer Gesinnung finden.

»Er war kein Kartenspieler, beteiligte sich aber gelegentlich in der Wohnung irgendeines Kommilitonen an einer Partie Loo zu niedrigem Einsatz. Auch im Trinken war er überaus mäßig. In dem philosophischen Debattierklub für die jüngeren Semester, dem er angehörte, nahm er an den Diskussionen nur in ganz seltenen Fällen teil.

»Als Mitbewerber um die ›Berkeley-Medaille‹ (die er später erhielt) studierte er bei dem vortrefflichen, aber zugleich heruntergekommenen klassischen Gelehrten John Townsend Mills, und außer der Wissensbereicherung brachten ihm die Studien bei seinem wunderlichen Lehrmeister auch manchen vergnüglichen Augenblick. So erzählte er mir beispielsweise, daß Mills eines Tages mit einem ganz in Krepp gehüllten Zylinderhut zu ihm ins Zimmer trat und er demzufolge seinem Beileid Ausdruck gab. Aber Mills antwortete lächelnd, daß er keinen Todesfall zu beklagen habe – nur der üble Zustand seines Hutes hätte ihn zu dieser Trauerhülle bewogen. Ich habe häufig geglaubt, daß dieses Ereignis noch in Oscar Wildes Gedächtnis lebte, als er den Helden seines Lustspiels ›The Importance of being Earnest‹, John Worthing, in tiefer Trauer um seinen erdichteten Bruder auf der Bühne erscheinen ließ …

»Kurz ehe er seine erste Reise nach Italien antrat, besuchte er mich eines Tages und trug ein Paar sehr auffallender Beinkleider. Als ich irgendeine spöttische Bemerkung machte, bat er mich in der ernstesten Form, die er so vortrefflich meisterte, mich nicht darüber lustig zu machen.

»›Das sind meine trasimenischen Beinkleider, und ich gedenke sie dort zu tragen.‹«

Sein Humor und das, was Sir Edward Sullivan hier seine »reine Gesinnung« nennt, was ich jedoch lieber die eigenartige Verfeinerung seines Wesens nennen möchte, zog allmählich die Aufmerksamkeit seines ganzen Bekanntenkreises auf ihn. Kein Mensch hat jemals aus Oscar Wildes Munde eine zweideutige Geschichte gehört; er scheute sich tatsächlich vor jedem plumpen oder rohen Ausdruck. Selbst sein Mund war stets der reinen Schönheit geweiht.

Der Don Don = Würdenträger der Universität. am Trinity College, dessen Mitteilungen von Oscar Wildes Schülerzeit ich bereits angeführt habe, gibt über den Studenten ein ziemlich strenges Urteil ab, das aber doch manches Wahre enthält. Denn es wurde wenigstens teilweise durch Oscars spätere Leistungen gerechtfertigt und bestätigt. Man muß berücksichtigen, daß der Don damals auf dem Trinity College einer seiner Konkurrenten, und ein erfolgreicher Konkurrent war; Oscars Geist konnte sich nicht mit Schularbeiten und vorschriftsmäßigen Büchern begnügen.

Auf dem College waren Oscars Leistungen im ersten Jahre vorzüglich, in den Klassikern war er der Beste in der Klasse, aber bei den langen Prüfungen zum klassischen Stipendium im zweiten Studienjahr schnitt er weniger gut ab und wurde Fünfter, was für recht befriedigend gehalten wurde. Aber er eignete sich augenscheinlich nicht für den δόλικος – das ausdauernde Ringen –, während er sich bei einer kurzen Prüfung glänzend bewährte.

Oscars Erzählungen über sein Leben auf dem Trinity College bilden nur die Ergänzungen dieser geistigen Photographien …

»Durch die Zauberkraft der griechischen Literatur und meine Schwärmerei für das Leben und Denken der Griechen«, sagte er einmal zu mir, »wurde ich zum Kenner der Klassiker. Meine Liebe zum Ideal der Griechen und meine gründliche Kenntnis der Sprache verdanke ich Mahaffy und Tyrrell, die für mich das ganze Trinity College verkörperten. Mahaffy leistete mir damals besonders wertvolle Dienste. Wenn auch kein so bedeutender klassischer Gelehrter wie Tyrrell, war er doch in Griechenland gewesen; er hatte dort gelebt und griechisches Denken und Fühlen in sich aufgenommen. Außerdem stellte er sich absichtlich in allen Dingen auf den künstlerischen Standpunkt, der immer mehr und mehr zu meinem eigenen Standpunkt wurde. Er war auch ein entzückender Plauderer, in gewisser Hinsicht ein wahrhaft bedeutender Plauderer – ein Künstler des lebendigen Wortes und der bedeutsamen Pausen. Auch Tyrrell war sehr gütig gegen mich – überaus verständnisvoll und mit Wissenschaft gepfropft. Hätte er weniger Kenntnisse besessen, so wäre er Dichter gewesen. Gelehrsamkeit ist ein arges Hindernis, ein entsetzliches Hindernis, Frank«, und er lachte unwiderstehlich.

»Wie waren denn die Studenten in Dublin?« fragte ich. »Hast du dich mit irgendeinem befreundet?«

»Sie waren noch schlimmer als die Jungen auf der Portora-Schule«, erwiderte er; »sie hatten nichts anderes im Kopf als Kricket und Fußball, Wettlaufen und Springen. Und diese geistigen Betätigungen wechselten mit Kampf- und Trinkrunden ab. Wenn sie überhaupt eine Seele besaßen, so wurde sie durch rohe Liebeleien mit Kellnerinnen und Straßendirnen auf Abwege gebracht. Sie waren ganz abscheulich. Die geschlechtlichen Ausschweifungen sind in Irland noch roher und ekelhafter als in England: ›Viel übler als Unkraut riechen die faulenden Lilien.‹

»Wenn ich zu plaudern versuchte, störten sie meine Gedankengänge mit albernen Sticheleien und Witzen. Eine schlüpfrige Geschichte war für sie der höchste Begriff des Humors. Nein, nein, Tyrrell und Mahaffy sind für mich die Vertreter des einzig Guten, was das Trinity College aufzuweisen hatte.«

Im Jahre 1874 erhielt Oscar Wilde die Goldene Medaille für seine Leistungen im Griechischen. Das Thema dieser Jahresprüfung lautete: »Bruchstücke aus den griechischen Lustspieldichtern, herausgegeben von Meineke.« In demselben Jahre erhielt er auch ein klassisches Stipendium, ein fünfjähriges Halbkollegiat von je £ 95, das ihn in die Lage versetzte, nach Oxford zu gehen, ohne ungebührliche Anforderungen an das Vermögen seines Vaters zu stellen.

Mit Freude las er in der ›Oxford University Gazette‹ vom 11. Juli 1874 die Bekanntgabe seines Erfolges. So bezog er denn am 17. Oktober, am Tage nach seinem zwanzigsten Geburtstage, das Magdalen College zu Oxford.

Auf dem Trinity College hatte er viel größere Erfolge erzielt als auf der Schule, und in Oxford war es ihm wiederum bestimmt, viel größere Erfolge und weit höheren Ruhm zu erzielen als in Dublin.

Er hatte den Vorteil, daß er etwas später nach Oxford kam als die meisten Studenten und nicht achtzehn, sondern zwanzig Jahre zählte. So war er imstande, mit verhältnismäßig geringer Mühe große Auszeichnungen zu erhalten und dabei die verfeinerten Freuden des Lebens zu genießen.

Er wurde in der zweiten öffentlichen Universitätsprüfung (Moderation) im Jahre 1876 in die Vorzugsklasse eingereiht und hatte es damals bereits zuwege gebracht, im Oxforder Leben eine Rolle zu spielen. Der von mir bereits zitierte Don, welcher zuerst anerkennt, daß sich weder auf der Schule, noch auf dem College das geringste gegen sein Betragen einwenden ließ, geht dann zu der Bemerkung über: ›auf dem Trinity College fiel er uns nicht als ein ganz außergewöhnlicher Mensch auf.‹ Und doch muß es auf dem Trinity College manche scharfe Augen gegeben haben, denn unser Don fügt mit erstaunlichem Ahnungsvermögen hinzu:

»Ich vermute, daß sich Oscar erst in Oxford so rasch entwickelt hat, wo er sich mehr mit Spezialfächern beschäftigen und tatsächlich das studieren konnte, was ihm am meisten zusagte. Ich möchte behaupten, daß man die Keime der guten und der schlechten Wesenszüge, die später die Aufmerksamkeit der Welt auf ihn lenkten, eher in seinem Oxforder Aufenthalt als in seinem Leben in Irland suchen dürfte.«

Im Jahre 1878 kam er im Schlußexamen (Greats) in die Vorzugsklasse und zeichnete sich ferner in demselben »Trinity Term Trinity Term ist der Zeitraum vom 25. Juni bis 11. Juli.« des Jahres 1878 dadurch aus, daß er für sein Gedicht »Ravenna«, welches er am 26. Juni bei der Jahresfeier im Sheldonian Theatre vortrug, den Newdigate-Preis für englische Dichtkunst erhielt. Sein Vortrag war das große literarische Jahresereignis in Oxford.

Man war sehr gespannt auf ihn gewesen; er galt für den besten Sprecher in diesem Kreise und einen der erfahrensten klassischen Kenner. Es gab Leute auf der Universität, die ihm eine glänzende Zukunft voraussagten, und tatsächlich schienen ihm alle Möglichkeiten zu Gebote zu stehen. Die Zeitschrift »The Oxford and Cambridge Undergraduates' Journal« berichtet darüber: »Mit begeisterter Aufmerksamkeit lauschte man seinen Versen.« Gerade diese Art – halb Dichtung, halb rhythmische Rhetorik – mußte unfehlbar auf Herz und Geist der Jugend wirken. Er besaß auch eine schöne Tenorstimme, die er trefflich zu benutzen verstand. Als er sich nach beendetem Vortrage wieder setzte, strömten die Zuhörer zu ihm, um ihre Anerkennung zu bekunden, und selbst Leute, die eine große Stellung im Leben einnahmen, huldigten ihm mit übertriebenem Lob. Merkwürdigerweise pflegte er stets zu behaupten, daß seine Beteiligung an einem Maskenkostümfest, das Mrs. George Morrell in Headington Hill Hall um dieselbe Zeit veranstaltete, und auf dem er als Prinz Rupert erschien, ihm die Ausnahmestellung, die er sich geschaffen hatte, in sehr viel befriedigenderer Art vor Augen führte.

»Alle umringten mich und wollten mich sprechen hören, Frank. Getanzt habe ich fast gar nicht. Ich war als Prinz Rupert verkleidet und führte das Wort, wie er das Schwert geführt hat, aber mit mehr Glück, denn ich machte mir alle meine Feinde zu Freunden. Ich verlebte den herrlichsten Abend. Oxford galt mir so viel …

»Ich wünschte, ich könnte dir alles erzählen, was ich Oxford verdanke.

»Ich war der glücklichste Mensch auf Erden, als ich Magdalen College zum erstenmal betrat. Oxford – schon allein der Name hat für mich einen unaussprechlichen, einen unsagbaren Zauber. Oxford – die Zuflucht des gebeugten Rechts und unerfüllbarer Ideale, Matthew Arnolds Oxford – mit seinen verträumten Türmen und grauen Schulgebäuden in samtnen Rasen gebettet und hinter den Bäumen verborgen, – und ringsumher die schönen, mit Schlüsselblumen und Kaiserkronen dicht besäten Wiesen, dort, wo der stille Fluß schlängelnd seines Weges zieht – nach London hin und dem Meere zu … Für mich, Frank, war's eine verblüffende Wandlung. Auf dem Trinity College ging es ebenso ungesittet zu wie auf der Schule, und die Roheit kam noch hinzu. Nur zwei oder drei Leuten hatte ich es zu danken, daß es mir auf dem Trinity College nicht noch schlechter ergangen ist als auf der Portora-Schule, aber Oxford – Oxford war für mich ein Paradies. Selbst meine Seele schien sich dem Frieden und der Freude zu erschließen. Oxford, das verzauberte Tal, das den ganzen mittelalterlichen Idealismus in seinem blumenbekränzten Pokale birgt Oscar zitierte oder umschrieb in seinen Gesprächen stets mit Vorliebe, ohne Zusammenhang, die leuchtendsten Stellen aus zeitgenössischen Werken. Er brachte sie in erlesener Form zum Ausdruck, und bisweilen war seine Ausschmückung ebenso gut wie das Original. Aber ich hielt dieses Anlehnungsbedürfnis stets für ein Zeichen mangelnder schöpferischer Eigenart. Matthew Arnold hatte einen ganz besonderen, fast ebenso großen Einfluß auf ihn wie Pater., Oxford ist der Mittelpunkt der Romantik, Frank, auf seine Art ebenso bedeutsam wie Athen und für mein Empfinden sogar noch fesselnder. In Oxford wie in Athen traten die Wirklichkeiten des gemeinen Lebens in den Hintergrund. Keiner schien etwas vom Gelde zu wissen oder irgendwelchen Wert darauf zu legen. Es gab nur aristokratische Empfindungen, man mußte Geld haben, durfte sich aber keine Sorgen darum machen. Und das ganze Beiwerk des Lebens war tadellos: Essen, Wein, Zigaretten; die alltäglichen Erfordernisse des Lebens wurden zu künstlerischen Symbolen, selbst unsere Kleidung erhielt Sinn und Bedeutung. In Oxford trug ich zum erstenmal Kniebeinkleider und Seidenstrümpfe. Ich möchte sagen, daß ich die Mode reformiert und der modernen Kleidung ästhetische Schönheit verliehen habe; das war die zweite und größere Reformation, Frank. Wie schade, daß Luther von der Kleidung nichts verstand und für das Reizvolle kein Gefühl hatte. Er besaß Mut, aber keine verfeinerten Sinne. Ich fürchte, daß seine Halsbinden ganz abscheulich gewesen sind!« Und er lachte in seiner bezaubernden Art.

»Wie steht's aber mit dem Inhalt dieser äußeren Hülle, Oscar?«

»Ach! Frank, danach darfst du mich nicht fragen, das weiß ich nicht; es gab nichts Plumpes und Rohes, nichts als zarte Freuden! ›Edle Leidenschaft, barmherz'ges Mitleid, Liebe ohne Ach (pain) Im Urtext steht das Wort »Schmach« (stain).!‹« und er lachte mutwillig über das falsch angeführte Zitat.

»Liebe?« fragte ich, und er nickte lächelnd, wollte sich aber nicht darüber aussprechen.

»Lauter romantische und ideale Zuneigungen. Jedesmal wenn uns eine neue Schar junger Leute aus den höheren Schulen zuströmte, waren ein paar auserlesene Geister darunter – ganz wundervolle Menschen, die anmutigsten und bestrickendsten Jünger, die sich ein Dichter nur wünschen konnte. Und ich predigte das alte, ewig-neue Evangelium vom Kampf um die Freiheit der Persönlichkeit und ihrer Vollendung. Ich lehrte sie, daß die Sünde mit ihren Absonderlichkeiten den Gesichtskreis des Lebens erweitert. Vorurteile und Verbote sind nur Mauern, welche die Seele einkerkern. Zügellosigkeit mag den Körper schädigen, aber das Leiden allein schädigt den Geist; Selbstverleugnung und Enthaltsamkeit verstümmeln und verunstalten die Seele.«

»So warst du bereits in Oxford als ein großer Redner bekannt?« fragte ich ein wenig erstaunt.

»Frank«, rief er vorwurfsvoll und lachte zugleich sein köstliches Lachen, »auf der Schule war ich ein großer Redner. Auf dem Trinity College habe ich nichts weiter getan als geredet; studiert wurde nur nebenher. Ich war der beste Redner, den es jemals in Oxford gegeben hat.«

»Und hast du dort auch irgendeinen Lehrer gefunden wie Mahaffy?« fragte ich, »irgendeinen Professor mit dichterischem Anflug?«

Er wurde gleich ernst und erwiderte:

»Da gab es zwei oder drei Lehrer, Frank, die bedeutender waren als Mahaffy, die nicht nur Oxford, sondern die Welt belehren konnten. So z. B. Ruskin, der stark auf mich einwirkte – ein wundervoller Mensch und ein ganz wundervoller Schriftsteller, wie eine auserlesene romantische Blüte, wie ein Veilchen, das die Luft mit dem rätselhaften Duft der Gläubigkeit erfüllt. Ruskin erschien mir stets als ein englischer Plato – ein Prophet des Guten, Wahren und Schönen, der wie Plato erkannte, daß diese drei Eigenschaften eine vollendete Blüte bilden. Aber ich liebte seine prosaischen Schriften, nicht sein pietätvolles Gemüt. Sein Mitgefühl für die Armen langweilte mich; die Straße, die er uns zu bauen gebot, war ermüdend. Ich konnte an der Armut gar nichts entdecken, das an mein Herz rührte; ich mied sie wie eine geistige Entwürdigung. – Aber seine Prosa war lyrisch und schwebte auf breiten Schwingen zum Himmel. Er war ein bedeutender Dichter und Lehrer, Frank, und infolgedessen selbstverständlich ein äußerst ungeschickter Professor. Wenn er lehrhaft wurde, langweilten wir uns zu Tode, aber wenn er dichterisch wurde, war er eine Offenbarung.

»Dann hatten wir noch Pater – Pater, den Klassiker, Pater, den Gelehrten, der bereits das beste englische Prosawerk geschrieben hatte; ich halte eine oder zwei Seiten von ihm für die beste Prosa in aller Literatur. Pater war mir alles. Er lehrte mich die Kunst in ihrer höchsten Form: den erhabenen Ernst der Kunst. Durch Pater erreichte ich meine volle Entwicklung. Er war wie ein schweigsamer, verständnisvoller älterer Bruder. Zu meinem Glück war er durchaus kein Redner, aber er besaß die Gabe, meisterhaft zuzuhören, und ich sprach in seiner Gegenwart stundenlang. Ich lernte von ihm, wie man die Sprache handhaben muß, denn ich konnte ihm vom Gesicht ablesen, ob ich etwas Außergewöhnliches gesagt hatte. Er lobte mich nicht, übte aber eine erstaunlich anregende Wirkung auf mich aus, zwang mich stets dazu, mich selbst zu übertreffen – ein überaus belebender Einfluß, der Einfluß der griechischen Kunst auf ihrer höchsten Stufe.«

»So war er also dein Gamaliel, dem du zu Füßen saßest?« fragte ich ihn.

»Aber nein, Frank«, sagte er verweisend, »schon damals saßen alle mir zu Füßen. Aber Pater war ein sehr bedeutender Mensch. Der gute Pater! Ich entsinne mich, daß ich einmal mit ihm sprach, als wir in Oxford auf irgendeiner Bank im Schatten der Bäume saßen. Ich hatte die Studenten beobachtet, die im Flusse badeten: die schönen weißen Gestalten voller Anmut und Zwanglosigkeit und männlicher Kraft. Ich hatte darauf hingewiesen, daß das Christentum zur Romantik erblüht war, und daß der herbe hebräische Materialismus und alle die späteren Dogmen eines ererbten Glaubens vom Baume des Lebens abgefallen und uns die auserlesenen Ideale eines neuen Heidentums übriggeblieben waren …

»Der bleiche Christus hat sich überlebt: seine Entsagung und sein Mitleiden waren nichts als Schwäche. Wir näherten uns einer Synthese der Kunst, welche den bezaubernden Schmelz der Romantik mit der strengen Schönheit der klassischen Form vermählen sollte. Ich sprach wirklich, als hätte ich eine Offenbarung empfangen, und als ich innehielt, glitt Pater – der steife, ruhige, wortkarge Pater plötzlich von der Bank, kniete neben mir nieder und küßte mir die Hand. Da rief ich:

»›Das dürfen Sie nicht, das dürfen Sie wirklich nicht tun. Was sollen die Leute denken, wenn Sie so gesehen werden?‹

»Er erhob sich mit blassem, verzerrtem Gesicht.

»›Ich mußte‹«, flüsterte er und blickte sich furchtsam um – ›ich mußte es einmal tun …‹«

Ich fühle mich verpflichtet, meine Leser darauf aufmerksam zu machen, daß dieser ganze Vorfall ausgeschmückt und auf eine höhere geistige Tonart gestimmt ist, da Oscar ihn mir erzählte, nachdem mehr als zehn Jahre darüber hingegangen waren.


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