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XXII
»Eine große romantische Leidenschaft«

Es gibt für den Schriftsteller kein schwierigeres Problem und keine peinlichere Aufgabe als die Entscheidung, wie weit er sich bei der Darstellung menschlicher Schwächen vorwagen darf. Wir alle stammen vom Tiere ab und können uns alle, ohne die Wissenschaft zu Hilfe zu nehmen, die Folgen einer hemmungslosen Befriedigung der eigenen Leidenschaften ohne jede Schwierigkeit vorstellen. Dennoch ist die Beobachtung, daß die Schwächen des Menschen gern zu beherrschenden Leidenschaften werden, sobald der Pflichtanker des festen Willens nicht mehr vorhanden ist, lehrreich und enthält viele Warnungen. Unsere gesamte Zivilisation ist mit dem Aufgebot unserer Kräfte künstlich erbaut; jedes hochgeartete Menschentum ist der Lohn dauernden Kampfes gegen angeborene Begierden.

Im Herbst des Jahres 1898 verkaufte ich die »Saturday Review« an Lord Hardwicke und seine Freunde, und sobald der Kauf abgeschlossen war – ich glaube, es war im November –, telegraphierte ich Oscar, daß ich sehr bald in Paris eintreffen und bereit sein würde, mit ihm nach dem Süden zu fahren, wo er seine Erholungszeit verbringen sollte. Ich sandte ihm auch etwas Geld, um den Weg zu ebnen.

Einige Tage später fuhr ich hinüber und bat ihn telegraphisch von Calais aus, mit mir bei Durand zu speisen, und wenn meine Ankunft sich verspäten sollte, schon mit dem Essen zu beginnen.

Als wir nun auf das Essen warteten, sagte ich zu ihm:

»Ich möchte zwei bis drei Tage in Paris bleiben, um mir ein paar Bilder anzusehen. Kannst du am nächsten Donnerstag zur Abreise nach dem Süden bereit sein?« Ich glaube, das besprachen wir an einem Montag.

»Am Donnerstag?« wiederholte er. »Ich glaube wohl, Frank.«

»Hier hast du etwas Geld, wenn du dir noch irgend etwas kaufen willst«, sagte ich und reichte ihm einen Scheck, den ich für eigene Rechnung ausgestellt und unterschrieben hatte, denn er wußte, wo er ihn einlösen konnte.

»Wie gut du bist, Frank, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll. Du reist am Donnerstag ab«, fügte er hinzu, als ob er sich das überlegte.

»Wenn du lieber noch ein bißchen warten möchtest, sage es nur, ich bin ganz damit einverstanden«, gab ich zur Antwort.

»Nein, Frank, ich glaube, es wird sich Donnerstag machen lassen. Wir gehen also wirklich den ganzen Winter über nach dem Süden. Wie herrlich; wie prachtvoll es da sein wird.«

Das Essen war festlich, und wir plauderten ohne Ende. Er sprach über ein paar moderne Franzosen und sehr ausführlich über Pierre Louys, den er als seinen Schüler hinstellte.

»Ich bin es gewesen, Frank, der ihn dazu bestimmt hat, seine ›Aphrodite‹ in Prosa zu schreiben.« Er sprach auch vom Grand Guignol-Theater.

»Das Grand Guignol-Theater ist das beste in ganz Paris. Es sieht aus wie eine Nonkonformistenkapelle, – ein scheunenartiger Raum mit einer Galerie im Hintergrunde und einer kleinen Holzbühne. Da kannst du die schlichten Tragödien des wirklichen Lebens sehen. Sie sind so häßlich und so reizvoll wie das Leben selbst. Das mußt du sehen, und wir wollen auch ins Antoine-Theater gehen. Du mußt Antoines neues Stück sehen; er leistet Vorzügliches.«

Wir dehnten das Abendessen unvernünftig lange aus. Ich hatte viel aus London zu erzählen und viel aus Paris zu hören. Wir plauderten und tranken Kaffee bis ein Uhr, und als ich den Vorschlag machte, einen Nachtimbiß einzunehmen, fand diese Idee bei Oscar begeisterten Beifall.

»Ich habe oft mit dir von zwei bis neun Uhr Mittagbrot gegessen, Frank, nun werde ich mit dir von neun Uhr bis zum nächsten Morgenfrühstück Abendbrot essen.«

»Was wollen wir trinken?« fragte ich.

»Bleiben wir bei demselben Champagner, Frank, wenn es dir recht ist«, sagte er und zupfte sich am Unterkinn. »Kein anderer Wein ist so begeisternd wie dieser herbe Champagner mit der köstlichen Blume. Du warst der erste, der gesagt hat, daß meine Theaterstücke der Champagner der Literatur sind.«

Es war drei Uhr geworden, als wir aufbrachen; ich war von der Reise ermüdet und schläfrig, und Oscar hatte vielleicht mehr getrunken, als ihm gut war. Da ich wußte, wie verhaßt es ihm war, wenn er zu Fuß gehen mußte, ließ ich eine »voiture de cercle« kommen und bat ihn, den Wagen zu benutzen, ich würde zu Fuß nach meinem Hotel gehen. Er dankte mir, schien aber noch zu zögern.

»Was denn nun?« fragte ich, da ich mich nach meinem Bett sehnte.

»Ich möchte dir nur noch ein Wort sagen«, und er zog mich vom Wagen fort, an dem der »Chasseur« mit der wollenen Decke wartete. Als er mich drei oder vier Schritte weiter geführt hatte, sagte er zögernd:

»Frank, könntest du … kannst du mir ein paar Pfund geben. Ich bin arg in Verlegenheit.«

Ich blickte ihn erstaunt an; denn ich hatte ihm doch zu Beginn des Abendessens einen Scheck gegeben, hatte er denn das vergessen? Oder wollte er vielleicht die hundert Pfund aus irgendeinem Grunde nicht angreifen? Plötzlich kam mir der Gedanke, daß er vielleicht nicht einmal genug hatte, um den Wagen zu bezahlen. So nahm ich einen Hundert-Francs-Schein heraus und gab ihm das Geld.

»Vielen, vielen Dank«, sagte er und steckte es in die Westentasche. »Es ist sehr gütig von dir.«

»Willst du dich morgen um ein Uhr zum Mittagessen einfinden?« sagte ich, als ich ihm beim Einsteigen in den kleinen Brougham behilflich war.

»Ja, ja, natürlich«, rief er, und ich ging fort.

Am nächsten Tage beim Mittagessen schien er mir mit einer gewissen Verlegenheit entgegenzukommen.

»Ich möchte dich etwas fragen, Frank. Ich bin wirklich beschämt wegen der Sache am gestrigen Abend; wir haben mit ›großem Verstand, doch zuviel gespeist‹ »We dined most wisely, if too well«. – Anspielung auf Shakespeares Othello, Akt V, Szene II, »who loved not wisely, but too well«.. Heute morgen habe ich entdeckt, daß du mir einen Scheck gegeben hast, und außerdem entdeckte ich in meiner Westentasche einen Hundert-Francs-Schein. Habe ich dich zum Schluß darum gebeten? ›Angezapft‹, wie die Franzosen es nennen?« fügte er hinzu und versuchte zu lachen.

Ich nickte.

»Wie schrecklich!« rief er. »Wie schrecklich die Armut ist! Ich hatte vergessen, daß du mir einen Scheck gegeben hattest, und ich war so arg in Verlegenheit und in Angst, du könntest fortgehen, ohne mir etwas zu geben, daß ich dich darum gebeten habe. Ist die Armut nicht schrecklich?«

Ich nickte. Ich konnte kein Wort sprechen; die Tatsache war so vielsagend.

Die demütige Stimmung der Selbstverdammung hielt bei ihm nicht lange vor und saß nicht tief. Bald plauderte er ebenso lustig und heiter wie je.

Ehe wir auseinandergingen, sagte ich zu ihm:

»Du vergißt doch nicht, daß du am Donnerstag abend abreist?«

»Ach! wirklich!« rief er zu meiner Verwunderung. »Es ist ja schon sehr bald Donnerstag; ich weiß nicht, ob ich es ermöglichen kann, mitzufahren.«

»Was in aller Welt meinst du damit?« fragte ich.

»Weißt du, um die Wahrheit zu sagen, ich habe Schulden zu bezahlen und nicht genug Geld.«

»Aber ich werde dir mehr geben«, rief ich, »wieviel brauchst du, um ins reine zu kommen?«

»Ich glaube noch einmal fünfzig, – das wird genügen. Du bist wirklich zu gut.«

»Ich werde sie dir morgen früh mitbringen.«

»Bitte in Scheinen und in französischem Geld, wenn es dir recht ist. Es fällt mir ein, daß ich es brauchen werde, um ein paar Kleinigkeiten gleich zu bezahlen, und die Zeit ist kurz.«

Ich dachte nicht weiter über die Angelegenheit nach. Am nächsten Tage beim Mittagessen gab ich ihm die Summe in französischem Papiergeld. Und an demselben Abend sagte ich zu ihm:

»Du weißt doch, daß wir morgen abend abreisen; hoffentlich bist du fertig? Ich habe Billette für den ›Train de Luxe‹ besorgt.«

»Ach, es tut mir zu leid!« rief er, »ich werde nicht fertig.«

»Was soll denn das nun?« fragte ich.

»Nun, es handelt sich um Geld. Es sind noch ein paar Schulden hinzugekommen.«

»Weshalb bist du mir gegenüber nicht offen und sagst mir, wieviel du schuldig bist? Ich werde dir einen Scheck über das Ganze geben; denn ich möchte dich nicht im einzelnen mühselig danach ausfragen. Nenne mir eine Summe, die dich von allen Verbindlichkeiten befreit, und ich gebe sie dir. Ich will, daß du ein ganz glückliches halbes Jahr verlebst, und wie kannst du das, wenn dir deine Schulden Sorgen machen?«

»Wie gütig du zu mir bist. Ist das wirklich dein Ernst?«

»Aber selbstverständlich.«

»Wirklich?« sagte er.

»Gewiß«, antwortete ich, »sag' mir, wieviel es ist.«

»Ich denke, ich glaube … noch einmal fünfzig, wäre das wohl zuviel?«

»Ich werde sie dir morgen geben. Ist das auch ganz bestimmt genug?«

»Ach ja, Frank; aber laß uns erst Sonntag fahren. Der Sonntag ist ein so guter Reisetag, da ist's immer überall so langweilig, daß wir ihn ebensogut im Eisenbahnzuge verbringen können. Außerdem reist in Frankreich kein Mensch am Sonntag, da werden wir es uns ganz sicher in unserem Zuge bequem machen können. Geht's nicht Sonntag, Frank?«

»Natürlich geht's«, erwiderte ich lachend, aber nach ein bis zwei Tagen war er wieder ganz verlegen und erzählte mir wieder, es handle sich um Geld. Und dann gestand er mir, er habe zuerst befürchtet, ich würde nicht seine gesamten Schulden bezahlen, wenn ich die ganze Summe gewußt hätte. Und so hielt er es für ratsam, sie mir nach und nach mitzuteilen, so daß er wenigstens mit Sicherheit auf etwas rechnen konnte. Dieses klägliche und beklagenswerte Geständnis wirkte um seinetwillen niederdrückend auf mich. Es bewies, daß er Übung in solchen kleinlichen Winkelzügen und allzuwenig Stolz besaß. Selbstverständlich wurde meine Bewunderung für seine Vorzüge dadurch nicht verringert und mein Entschluß nicht erschüttert, ihm alle Möglichkeiten zu bieten. Wenn er gerettet werden konnte, so war ich dazu entschlossen.

Wir trafen uns am Sonntag abend auf der »Gare de Lyon«. Wie ich bemerkte, hatte er im Wartesaal gespeist, denn leere Flaschen in erstaunlich großer Zahl standen auf dem Tisch. Er schien furchtbar niedergedrückt zu sein.

»Ich habe mit jemand – mit einem Freunde gespeist, Frank«, führte er als Erklärung an.

»Weshalb ist er nicht hiergeblieben? Ich hätte ihn gern kennen gelernt.«

»Ach, du hättest dir nichts aus ihm gemacht, Frank«, erwiderte er.

Ich setzte mich zu ihm und trank eine Tasse Kaffee, während wir auf den Zug warteten. Er war in die tiefste Schwermut versunken und sprach tatsächlich kaum ein Wort. Ich konnte mir das nicht erklären. Von Zeit zu Zeit seufzte er tief, und ich bemerkte, daß seine Augen rot waren, als ob er geweint hätte.

»Was ist dir?« fragte ich.

»Vielleicht werde ich's dir später erzählen. Es ist sehr schwer; Abschied nehmen – das ist wie sterben«, und seine Augen füllten sich mit Tränen.

Bald saßen wir im Zuge, der ins Dunkel hinausrollte. Ich war so froh gestimmt, wie ich es nur sein konnte in dem Gedanken, daß ich nun endlich von der journalistischen Tätigkeit befreit war und nach dem Süden fuhr, um mein Buch über Shakespeare zu schreiben, und daß Oscar auch arbeiten würde, wenn die Verhältnisse erfreulich waren. Aber ich konnte ihm kein Lächeln abgewinnen; er saß niedergeschlagen da und seufzte von Zeit zu Zeit wie verzweifelt.

»Was ist dir denn, um alles in der Welt?« rief ich. »Nun fährst du dem Sonnenschein, dem blauen Himmel und dem weinfarbenen Mittelländischen Meere zu und bist doch nicht zufrieden. In einem Hotel dicht bei einem kleinen sonnendurchglühten Tale, das bis zum Meer hinabführt, werden wir wohnen. Vom Hotel aus schreitest du über einen Teppich aus Fichtennadeln, und wenn du aufs freie Feld kommst, blühen Veilchen und Anemonen um deine Schritte, und du wirst den Duft von Rosmarin und Myrten einatmen. Aber anstatt vor Freude zu singen, läßt der Vogel die Flügel hängen und senkt den Kopf, als hätte er den ›Pips‹.«

»Ach, nicht doch!« rief er, »nicht doch!« und er sah mich mit tränenerfüllten Augen an. »Du weißt nicht, Frank, was eine große romantische Leidenschaft ist.«

»Das ist es, was dich quält?«

»Ja, eine große romantische Leidenschaft.«

»Großer Gott!« sagte ich lachend, »wer hat dich denn zu dieser neuen Anbetung begeistert?«

»Du darfst dich nicht über mich lustig machen, sonst erzähle ich dir nichts; wenn du mir aber zuhörst, will ich versuchen, dir alles zu erzählen, denn ich glaube, du mußt es erfahren. Und außerdem glaube ich, daß es meinen Schmerz mildert, wenn ich's erzähle. Komm also und höre zu.

»Entsinnst du dich, daß du mir einmal im Sommer aus Calais telegraphiert hast, dich im Restaurant Maire zu erwarten, um nachher ins Antoine-Theater zu gehen, und daß ich mich sehr verspätete? Du entsinnst dich doch, – an dem Abend speiste Rostand am Nebentisch. Nun also, an diesem Abend ist's geschehen. Ich fuhr pünktlich ins Restaurant und stieg gerade aus der Victoria, als ein kleiner Soldat vorüberging und unsere Blicke sich trafen. Mir stockte das Herz; er hatte große, dunkle Augen und ein köstliches Gesicht von olivenfarbenem Kolorit – eine Florentiner Bronze, Frank, von Meisterhand geschaffen. Er sah aus wie Napoleon, als er Konsul wurde, – nur weniger herrisch und viel schöner …

»Wie hypnotisiert stieg ich aus und folgte ihm wie im Traum den Boulevard hinunter. Ich entsinne mich, daß der,cocher' mir nachlief, und daß ich ihm ein Fünf-Francs-Stück gab und ihm winkte zu gehen. Denn ich hatte keine Ahnung, was ich ihm schuldig war; ich wollte nur seine Stimme nicht hören, sie hätte den Zauber brechen können. Stumm folgte ich meinem Schicksal. Nach kurzer Zeit holte ich den jungen Mann ein und forderte ihn auf, ein Glas mit mir zu trinken. Und in seiner wunderlichen französischen Art antwortete er mir:

»›Ce n'est pas de refus!‹ (Da kann ich nicht nein sagen.)

»Wir gingen in ein Kaffeehaus, ich bestellte etwas – ich habe vergessen, was es war –, und dann fingen wir an zu plaudern. Ich sagte ihm, daß mir sein Gesicht gefiele; ich hätte einmal einen Freund gehabt, der ihm ähnlich sah. Nun wollte ich alles über sein Leben wissen. Ich hatte Eile, um meine Verabredung mit dir einzuhalten, aber vorher mußte ich mit ihm Freundschaft schließen. Er erzählte mir zuerst alles über seine Mutter, ja, Frank, über seine Mutter.« Hier mußte Oscar wider Willen lächeln.

»Aber schließlich brachte ich in Erfahrung, daß er jeden Donnerstag frei war und sich dann sehr freuen würde, mich zu sehen, obwohl er nicht wußte, weshalb ich an ihm Gefallen finden könnte. Ich hörte heraus, daß ein Zweirad sein sehnlichster Wunsch auf der Welt war; er sprach da von vernickelter Lenkstange und Ketten, – und endlich sagte ich ihm, daß sich das wohl machen ließe. Er war mir sehr dankbar, wir verabredeten noch ein Zusammensein am nächsten Donnerstag, und ich ging schleunigst, um mit dir zu speisen.«

»Du meine Güte!« rief ich lachend, »ein Soldat, ein vernickeltes Zweirad und eine große romantische Leidenschaft!«

»Wenn ich von einer Brosche, einer Halskette oder irgendeinem anderen Schmuckstück gesprochen hätte, das zehnmal soviel kostete, so würdest du es ganz natürlich finden.«

»Gewiß«, gab ich zu, »aber ich glaube nicht, daß ich die Halskette gleich am ersten Abend angebracht hätte, wenn an der Sache etwas Romantisches war, und das vernickelte Zweirad kommt mir unwiderstehlich komisch vor.«

»Frank«, rief er vorwurfsvoll, »ich kann nicht mit dir reden, wenn du lachst; mir ist es ganz ernst. Ich glaube nicht, daß du weißt, was eine große romantische Leidenschaft ist; ich werde dich davon überzeugen, daß du nicht weißt, was das bedeutet.«

»Nur zu«, erwiderte ich, »ich bin ja hier, um mich überzeugen zu lassen. Aber ich glaube, du wirst mich nicht lehren können, daß es überhaupt etwas Romantisches gibt, wenn es sich nicht um das andere Geschlecht handelt.«

»Sprich mir nicht von dem anderen Geschlecht«, rief er, und seine Stimme und Gebärde drückten Widerwillen aus. »Vor allem ist vom Schönheitsstandpunkt aus ein Knabe nicht mit einem Mädchen zu vergleichen. Denk' nur an die ungeheuerlichen, dicken Hüften, die jeder Bildhauer mildern und leichter formen muß, und an die großen, schwer-hängenden Brüste, die der Künstler klein, rund und fest nachbilden muß, und stell' dir dann die köstlichen schlanken Linien eines Knabenkörpers vor. Kein Mensch, der die Schönheit liebt, kann einen Augenblick im Zweifel sein. Das wußten die Griechen; sie hatten Verständnis für plastische Schönheit und sahen ein, daß es da keinen Vergleich gibt.«

»Das darfst du nicht sagen«, erwiderte ich. »Du gehst zu weit. Die Venus von Milo, ist, rein als Schönheit betrachtet, so vollendet wie irgendeine Apollogestalt; die milden, weichen Rundungen sagen mir mehr als deine hageren Linien.«

»Das kann wohl sein, Frank«, gab er zurück, »aber du mußt einsehen, daß der Knabe sehr viel schöner ist. Dein Geschlechtstrieb, dein sündiger Geschlechtstrieb ist es, der dich hindert, die höhere Schönheitsform zu verehren. Eine hohe Gestalt und lange Glieder verleihen Vornehmheit, und Schlankheit verleiht Anmut. Die Frauen sind gedrungen gebaut! Du mußt zugeben, daß der Knabenkörper schöner und der Eindruck, den er erweckt, viel edler und geistiger ist.«

»Eins ist so gut wie das andere«, grollte ich. »Dein Bildhauer weiß, daß es genau so schwer ist, einen idealen Knabenkörper wie einen idealen Mädchenkörper zu finden. Und wenn er an dem allervollendetsten Mädchenkörper etwas modeln muß, so muß er das auch bei dem allervollendetsten Knabenkörper tun. Wenn er die Brüste und Hüften des Mädchens verfeinert, so muß er auch die Rippen des Knaben abrunden und die großen, spitzen Kniescheiben und die unschönen, breiten Knöchel mildern. Aber bitte, sprich weiter. Deine Sophisterei macht mir Spaß, und deine romantische Leidenschaft interessiert mich, obwohl du bis jetzt noch nicht zur Romantik gekommen bist, geschweige denn zur Leidenschaft.«

»Ach, Frank«, rief er, »die Geschichte ist ganz romantisch, jedes Zusammensein wurde mir zum Erlebnis. Du hast ja keine Ahnung, wie klug er ist; jedesmal, wenn wir einen Abend zusammen verbrachten, zeigte er sich von einer anderen Seite. Er war gereifter und entwickelter. Ich lieh ihm Bücher, die er las, und sein Geist entfaltete sich wie eine Blume von Woche zu Woche, bis er nach kurzer Zeit, nach ein paar Monaten, ein vorzüglicher Gefährte und Schüler war. Kein Mädchen reift so schnell, Frank, sie haben keinen Geist, und ihre ganze Klugheit verwenden sie für elende Eitelkeiten und persönliche Eifersüchteleien. Mit ihnen ist eine geistige Kameradschaft unmöglich. Sie wollen von Kleidern und nicht von Ideen sprechen, sie wollen darüber reden, wie die Leute aussehen, und nicht, was sie sind. Wie kann es die Blume der Romantik ohne Verbrüderung der Seelen geben?«

»Ich finde eine Verschwisterung der Seelen bei weitem schöner«, sagte ich, »aber sprich weiter.«

»Ich werde dich überzeugen«, erklärte er, »ich muß das fertigbringen, denn alle Vernunft ist auf meiner Seite. Ich möchte dir ein Beispiel erzählen. Selbstverständlich erhielt mein Knabe sein Zweirad; er pflegte es zu benutzen, wenn er zu mir kam, und fuhr auch nach der Kaserne hin und zurück. Als du im September nach Paris kamst, ludest du mich eines Abends zum Essen ein, – gerade an einem Donnerstagabend, als er mich besuchen sollte. Ich sagte ihm, daß ich ausgehen müßte, um mit dir zu speisen, und er machte keine Einwendungen. Er freute sich, als er hörte, daß ich mit einem englischen Redakteur befreundet war und daß ich mit jemand über London und meine früheren Bekannten plaudern konnte. Hätte es sich um eine Frau gehandelt, die ich liebte, so hätte ich sie belügen müssen, denn sie wäre auf meine Vergangenheit eifersüchtig gewesen. Ihm sagte ich die Wahrheit, und als ich von dir sprach, zeigte er großes Interesse und wurde ganz aufgeregt, und schließlich trug er mir einen Wunsch vor. Er wollte wissen, ob er hinkommen, sein Zweirad draußen stehen lassen und ins Fenster des Restaurants gucken dürfte, nur um uns bei Tisch zu sehen. Ich sagte ihm, daß möglicherweise auch Frauen eingeladen wären. Er aber erwiderte, daß er mich so gern im Gesellschaftsanzug mit Herren und Damen plaudern sehen würde.

»Und er blieb dabei: ›Ob er hinkommen dürfte?‹

»Selbstverständlich sagte ich ja, und er kam hin, aber ich habe ihn gar nicht gesehen.

»Und als wir das nächste Mal zusammenkamen, erzählte er mir die ganze Geschichte; daß er dich nach meiner Beschreibung herausgefunden, daß er Henri Bauer an der Ähnlichkeit mit dem älteren Dumas erkannt hatte, und daß er von allem ganz entzückt gewesen war.

»Glaubst du, Frank, daß irgendein Mädchen hingekommen wäre, um zuzusehen, wie du es dir mit anderen Leuten schmecken läßt, daß ein Mädchen durchs Fenster gestarrt und sich gefreut hätte, wenn du dich im Restaurant mit anderen Männern und Frauen amüsierst? Du weißt, daß kein Mädchen auf Erden einer so selbstlosen Hingebung fähig ist. Ich sage dir, es gibt keinen Vergleich zwischen dem Knaben und dem Mädchen. Und ich wiederhole noch einmal mit voller Überlegung, du weißt nicht, was eine große romantische Leidenschaft oder die edle Selbstlosigkeit wahrer Liebe ist.«

»Du hast das mit außerordentlicher Geschicklichkeit zum Ausdruck gebracht«, sagte ich, »was ich dir natürlich auch zugetraut habe. Ich glaube, ich kann den Reiz einer solchen Kameradschaft begreifen, aber nur vom Standpunkt des jungen Mannes, nicht von deinem Standpunkt aus. Ich kann begreifen, daß du ihm einen neuen Himmel und eine neue Erde erschlossen hast, – was aber hat er dir gegeben? Nichts. Andererseits hätte jedes feinbegabte Mädchen dir etwas gegeben. Hättest du wirklich ihr Herz bewegt, so würdest du bei ihr eine gewisse instinktmäßige Zärtlichkeit, irgendeinen Beweis selbstloser, zarter Hingebung bemerkt haben, so daß dir im Gefühl deiner Minderwertigkeit die Augen übergegangen wären.

»Letzten Endes ist es der Kernpunkt der Liebe, der edelste Sinn jener Kameradschaft, von der du sprichst – der Verschwisterung der Seelen –, daß dieses andere Wesen auch dich anregt, auch dir neue Horizonte erschließt und neue Möglichkeiten entschleiert. Wie konnte denn dein Soldatenjüngling dich auf irgendeine Weise fördern? Er bot dir keine neuen Ideen und Gefühle und konnte dir keine neuen Gedanken offenbaren. In einem solchen Verhältnis kann ich keine Romantik, keine seelische Entfaltung entdecken. Aber das Mädchen ist in jeder Weise anders geartet als der Mann. Du hast von ihr ebensoviel zu lernen, wie sie von dir, und keines von euch kann auf irgendeine andere Weise zur idealen Entfaltung gelangen. Ihr seid die beiden Hälften der Menschheit, – die gegenseitige Ergänzung, und ihr braucht einander.«

»Du hast das sehr schlau zum Ausdruck gebracht, Frank, was ich auch – um dir dein Kompliment zurückzugeben – von dir nicht anders erwartet habe. Aber du mußt zugeben, daß du jedenfalls bei dem Knaben keine Eifersucht, keine kleinlichen Neidgefühle, keine törichten Nichtigkeiten findest. Das ist's ja eben, Frank, mancher Mensch kann die ›Katzen‹ nicht leiden. Ich habe Gründe für meine Abneigung, die für mich entscheidend sind.«

»Der Knabe, der um ein Zweirad bittet, ist wohl schwerlich von kleinlichen Neidgefühlen frei«, erwiderte ich. »Nun hast du von Romantik und Kameradschaft gesprochen«, fuhr ich fort, »aber kannst du wirklich Leidenschaft empfinden?«

»Was für eine törichte Frage, Frank! Entsinnst du dich, was, wie er sagt, Sokrates empfand, als die Chlamys auseinandergeweht wurde und Charmides' Glieder enthüllte? Entsinnst du dich nicht, wie das Blut in seinen Adern klopfte und daß er vor Verlangen mit Blindheit geschlagen war, eine Szene, die dämonischer wirkt als Sapphos leidenschaftliche Liebeslieder?

»Keine andere Leidenschaft kann mit dieser verglichen werden. Die Leidenschaft der Frau ist erniedrigend. Sie verlockt dich unablässig. Sie braucht deine Begierde zur Befriedigung ihrer Eitelkeit mehr als irgend etwas anderes, und ihre Eitelkeit ist unersättlich, wenn ihre Begierde weniger stark ist. Und so verlockt sie dich unablässig bis zum Übermaß und schilt dich dann um deines körperlichen Überdrusses und Ekels willen, die sie selbst hervorgerufen hat. Bei einem Knaben ist keine Eitelkeit und keine Eifersucht im Spiel, daher gibt es keine Lockungen und zehnmal weniger Gemeinheit. Folglich bleibt das Verlangen stets rege und stark. Ach, glaube mir, Frank, du weißt nicht, was eine große romantische Leidenschaft ist.«

»Was du sagst, beweist nur, wie wenig du die Frauen kennst«, erwiderte ich. »Wenn du das alles dem Mädchen auseinandersetztest, das dich liebt, würde sie es sofort einsehen, und ihre Zärtlichkeit würde mit ihrer Selbstverleugnung größer werden. Wir alle werden größer, wenn wir schenken. Eine Frau hat mehr Sinn für Liebkosungen und Freundlichkeiten, weil sie eben mehr Zärtlichkeit empfindet und innigerer Hingebung fähig ist.«

»Frank, du weißt nicht, worüber du sprichst«, gab er zurück. »Du wiederholst die alten beglaubigten Gemeinplätze. Der Junge begleitete mich heute abend zum Bahnhof und wußte, daß ich sechs Monate fortbleiben würde. Sein Herz war schwer wie Blei; er konnte den Tränen nicht gebieten, die unablässig seine Augen füllten, und doch bemühte er sich um meinetwillen, heiter und fröhlich zu sein. Er wollte mir zeigen, wie er sich freute, daß ich eine glückliche Zeit verleben sollte, wie dankbar er für alles war, was ich ihm angetan, und für das neue geistige Leben, das ich in ihm wachgerufen hatte. Er tat sein möglichstes, um meine Stimmung zu heben. Ich weinte, er aber unterdrückte seine Tränen. ›Sechs Monate gehen schnell vorüber‹, sagte er, ›und vielleicht kommst du zu mir zurück, und dann kann ich wieder froh werden.‹ Inzwischen wird er mir gewiß reizende Briefe schreiben.

»Würde irgendein Mädchen so Abschied nehmen? Nein; sie wäre eifersüchtig und neidisch, sie würde wissen wollen, weshalb du dir im Süden die Zeit vertreibst, während sie dazu verurteilt ist, im regnerischen, kalten Norden zu leben. Würde sie dich etwa bitten, ihr von allen schönen Mädchen zu erzählen, die du kennen gelernt hast, ob sie lieb und fröhlich waren, – wie der Knabe mich gebeten hat, ihm von allen interessanten Leuten zu erzählen, die ich kennen lernen werde, damit auch er sich für sie interessieren kann? Ein Mädchen wäre an seiner Stelle vor Neid, vor Bosheit und Eifersucht vergangen. Ich wiederhole es noch einmal. Du weißt nicht, was eine edle, romantische Leidenschaft ist.«

»Deine Argumente sind unlogisch«, rief ich, »ein Mädchen ist eifersüchtig, weil sie sich restloser hingegeben hat: ihre Ausschließlichkeit ist die Kehrseite ihrer Anhänglichkeit und ihrer zärtlichen Liebe. Sie will alles für dich tun, sie will bei dir sein und dir in jeder Weise zur Seite stehen. Und wenn du erkrankst, verarmst oder in Gefahr kommst, würdest du sehen, wie viel mehr sie dir zu bieten hat als dein Soldat mit seinen roten Hosen.«

»Das ist nur eine plumpe Anzüglichkeit, Frank, aber kein Argument.«

»Ein ebenso gutes Argument wie deine ›Katzen‹«, erwiderte ich. »Über deinen kleinen Soldatenjüngling mit seinem vernickelten Zweirad kann ich nur grinsen.« Und ich grinste wirklich.

»Du benimmst dich unverzeihlich«, rief er, »unverzeihlich, und in deinem Herzen weißt du, daß die ganze Wucht der Argumente für mich spricht. In deinem Herzen mußt du es wissen. Wodurch wird die Leidenschaft genährt, Frank? Durch die Schönheit, durch die Schönheit allein und allezeit, und bei der Formenschönheit und Lebenskraft gibt es keinen Vergleich. Wenn du die Schönheit so innig liebtest wie ich, würdest du ebenso empfinden wie ich. Die Schönheit ist es, die mir Freude beschert, die mich berauscht wie Wein, die mich vor unersättlicher Begierde mit Blindheit schlägt …«


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