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XIII
Oscar schreitet gegen Queensberry ein und unterliegt

Nicht aus Kraft, sondern aus Schwäche ließ Oscar sich von Lord Alfred Douglas in diesen Konflikt treiben. Und wiederum war es seine Schwäche, die ihn hinderte, die Klage aufzugeben, nachdem sie einmal eingeleitet war. Ein derartiger Entschluß hätte einen Bruch mit seinen Gefährten und Freunden und eine persönliche Willensäußerung bedingt, deren er unfähig war. Und so beantwortete er meine dringenden Vorstellungen immer wieder mit den Worten:

»Ich kann nicht, Frank, ich kann nicht.«

Als ich ihn darauf aufmerksam machte, daß die beklagte Partei immer dreister wurde – denn eines Morgens brachte die Presse die Mitteilung, daß Lord Queensberry, anstatt nur seine väterlichen Rechte geltend zu machen und seine Beschuldigung zu beschönigen, entschlossen war, die Verleumdung zu rechtfertigen und zu erklären, daß sie in allen Einzelheiten der Wahrheit entspreche –, konnte Oscar nur in seiner willenlosen Art erwidern:

»Ich kann nichts dagegen machen, Frank, ich kann gar nichts tun, du peinigst mich nur, wenn du mir Unheil prophezeist.«

Die Muskeln der Willenskraft, die bei ihm nie stark entwickelt waren, hatte er durch jahrelange Zügellosigkeit zerrüttet, während der Einfluß, der ihn aufpeitschte, stärker war, als ich ahnte. Wie ein Lamm wurde er zur Schlachtbank gejagt.

Obgleich jeder, der überhaupt nachdachte, wissen mußte, daß Queensberry den Prozeß gewinnen würde, glaubten viele Leute, daß Oscar einen glänzenden geistigen Kampf ausfechten und die Ehre, wenn nicht den Wahrspruch für sich erobern würde.

Die Verhandlung fand am 3. April 1895 vor dem Hauptkriminalgericht (Central Criminal Court) statt. Justice Collins Justice = Richter. Führte den Vorsitz, und der Prozeß wurde zuerst in jener äußerlich schicklichen Form und Korrektheit geführt, die eine besondere Eigenart der Engländer ist. Eine Stunde vor Beginn der Verhandlung war der Gerichtssaal überfüllt und selbst für Geld und gute Worte kein Sitz mehr zu haben: sogar nach Stehplätzen war große Nachfrage.

Die beiderseitigen Anwälte waren die besten Vertreter ihres Standes: der Königliche Rat Sir Edward Clarke sowie die Herren Charles Mathews und Travers Humphreys vertraten den Kläger, während der Königliche Rat Carson mit den Herren G. C. Gill und A. Gill den Beklagten vertrat. Der Königliche Rat Besley und Mr. Monckton wohnten der Verhandlung im Interesse der Brüder Lord Douglas of Hawick und Lord Alfred Douglas bei.

In Erwartung des Vorsitzenden wurde das Stimmengewirr im Gerichtssaal sehr vernehmlich, alle waren einstimmig der Meinung, daß Sir Edward Clarkes Vertretung für Oscar einen Vorteil bedeutete. Damals war Mr. Carson noch nicht so bekannt wie in späterer Zeit; er galt für einen scharfsinnigen Iren, der sich die Sporen erst noch verdienen mußte. Manche Leute wußten, daß er Oscars Schulkamerad gewesen war und sich im Trinity College in der zweiten Klasse ebenso ausgezeichnet hatte wie Oscar in der ersten. Es wurde auch behauptet, daß er Oscar den Ruhm seiner glänzenden Begabung nicht gönnte.

Plötzlich gebot der Gerichtsschreiber der Versammlung mit lauter Stimme Ruhe.

Als der Vorsitzende erschien, erhoben sich alle von ihren Plätzen, und Sir Edward Clarke gab unter lautlosem Schweigen seine Erklärungen im Namen der klägerischen Partei ab. Mit seinem bleichen Gesicht, der langen Oberlippe und dem würdevollen Backenbart glich der kleine Mann ganz genau einem Nonkonformisten-Pfarrer aus vergangenen Zeiten, aber seine Tonart und sein Benehmen waren modern – ruhig und gesellschaftsmäßig. »Die Anklage«, sagte er, »laute dahin, daß der Beklagte eine unwahre und gehässige Verleumdung gegen Mr. Oscar Wilde an die Öffentlichkeit gebracht habe. Die Verleumdung sei in Form einer Karte erfolgt, die Lord Queensberry in einem Klub abgegeben habe, zu dessen Mitgliedern Mr. Wilde gehöre: sie könnte nicht gerechtfertigt werden, es sei denn, daß die auf der Karte stehenden Behauptungen der Wahrheit entsprächen. Jedoch wäre es möglich gewesen, diese Karte mit einem starken, wenn auch falschen Gefühl von Seiten des Vaters zu entschuldigen. Aber durch den Schriftsatz, den der Beklagte dem Gericht eingereicht hatte, waren ernstere Fragen heraufbeschworen worden. Er besagte, daß die Behauptung wahr und im allgemeinen Interesse erfolgt wäre. Außerdem enthielt der Schriftsatz eine Reihe von Beschuldigungen (bei diesen Worten lauschten alle atemlos) mit den Namen bestimmter Personen, von denen behauptet wurde, daß Mr. Wilde sie zu groben Verfehlungen verleitet und sich mit allen und jedem unsittlicher Handlungen strafbar gemacht hatte …« Mein Herz schien stillzustehen, denn meine schlimmsten Ahnungen waren mehr als gerechtfertigt. Dumpf vernahm ich Clarkes Stimme, »schwere Verantwortlichkeit … ernste Belastungen … glaubhafte Zeugen … Mr. Oscar Wilde ist Sir William Wildes Sohn …« Eintönig sprach die Stimme weiter, und ich erwachte zu fieberhafter geistiger Klarheit. Queensberry hatte die Verteidigung zur Anklage umgewandelt. Weshalb hatte er das Wagnis unternommen? Wer hatte ihm diese neuen und genauen Auskünfte erteilt? Ich hatte das Gefühl, daß Oscar nichts anderes zu erwarten hatte als bedingungslose Vernichtung. Konnte man irgend etwas unternehmen? Er konnte selbst jetzt noch ins Ausland gehen, – selbst jetzt noch. Und so beschloß ich, noch einmal den Versuch zu machen und ihn zur Flucht zu bewegen.

Von diesen leidenschaftlichen Gedankenbildern wandte sich mein Interesse wieder der Wirklichkeit zu. Würde Sir Edward Clarke den Fall ausfechten, wie er ausgefochten werden mußte? Er hatte zuerst von der Freundschaft zwischen Oscar Wilde und Lord Alfred Douglas und auch von der Freundschaft zwischen Oscar Wilde und Lady Queensberry gesprochen, deren Ehe auf ihr eigenes Gesuch von dem Marquis geschieden worden war. Würde er nun zu der Schilderung der schrecklichen gegenseitigen Abneigung zwischen Lord Alfred Douglas und seinem Vater übergehen und dartun, wie Oscar in diesen bösen Familienzwist hineingezogen worden war? Nach der Auffassung des Juristen hatte das nicht viel mit dem Prozeß zu tun.

Anstatt dessen bekamen wir einen trockenen Bericht über die Tatsachen zu hören, die ich bereits in meiner Erzählung auseinandergesetzt habe. Der Pförtner des Albemarle-Club, namens Wright, wurde aufgerufen, um auszusagen, daß Lord Queensberry ihm die beigebrachte Karte eingehändigt hatte. Der Zeuge hatte sich die Karte angesehen und sie nicht verstanden, er steckte sie aber in einen Briefumschlag und übergab sie Mr. Wilde.

Dann wurde Mr. Oscar Wilde aufgerufen und betrat den Zeugenstand. Er sah etwas feierlich aus, benahm sich aber ruhig und ernst. Sir Edward Clarke ging in aller Kürze die einzelnen Vorgänge seines Lebens mit ihm durch: seine Erfolge auf der Schule und Universität, die Erpressungsversuche, die gegen ihn unternommen worden waren, und Lord Queensberrys Beleidigungen. Dann beschäftigte er sich mit den im Schriftsatz der beklagten Partei enthaltenen Bezichtigungen hinsichtlich seines Verhältnisses zu verschiedenen Personen. Mr. Oscar Wilde gab die Erklärung ab, daß an keiner dieser Behauptungen etwas Wahres sei. Hierauf setzte sich Sir Edward Clarke; Carson erhob sich, und der Zweikampf auf Leben und Tod nahm seinen Anfang.

Mr. Carson berichtete, daß Oscar Wilde vierzig Jahre und Lord Alfred Douglas vierundzwanzig Jahre alt sei. Bis zu jener Unterredung in der Tite Street habe Lord Queensberry freundlich mit Mr. Wilde verkehrt.

»Hatte Mr. Wilde für die Zeitschrift ›The Chameleon‹ Beiträge verfaßt?«

»Ja.«

»Hatte er für diese Zeitschrift die Erzählung ›The Priest and the Acolyte‹ verfaßt?«

»Nein.«

»War diese Erzählung unsittlich?«

Zur allgemeinen Belustigung erwiderte Oscar:

»Viel schlimmer als unsittlich, sie war schlecht geschrieben«, aber in dem Gefühl, daß diese spöttische Bemerkung dem Ernst des Anlasses nicht entsprach, fügte er hinzu:

»Sie war in jeder Beziehung anstößig und nichts als Faselei.«

Er gab ohne weiteres zu, daß er sein Mißfallen an dieser Erzählung nicht geäußert hatte; es war unter seiner Würde, »sich mit den Ergüssen eines literarisch unwissenden Studenten zu befassen«.

»Hat Mr. Wilde jemals daran gedacht, daß seine Schriften zur Unsittlichkeit reizen könnten?«

Oscar gab die Erklärung ab, daß er weder das Gute, noch das Böse als Ziel betrachtet habe, sondern bemüht gewesen sei, etwas Schönes zu gestalten. Über die unsittliche Gedankenrichtung des Artikels in der Zeitschrift »The Chameleon« befragt, erwiderte er, »daß es gedanklich keine Moral und Unmoral gebe«. Ein verständnisvolles und beifälliges Gemurmel ging durch den Saal; der Verstand ist von Grund aus amoralisch.

In dieser Weise übertrumpfte er Mr. Carson zu wiederholten Malen.

»Ein Kunstwerk bringt niemals Anschauungen zum Ausdruck. Anschauungen sind etwas für Philister und nicht für Künstler …«

»Was halten Sie von dieser Anschauung?«

»Von keiner Anschauung halte ich etwas, – abgesehen von meiner eigenen.«

Während dieser ganzen Zeit war Mr. Carsons Stoßkraft für einen Gegner berechnet gewesen, der mit ihm auf gleicher Stufe stand. Aber Oscar Wilde war ihm überlegen, und kein einziger Schlag verfing. Überdies wurde Oscar von einem Augenblick zum anderen unbefangener, und der Kampf schien sich vollkommen zu seinen Gunsten zu wenden. Schließlich ging Carson zu dem Roman »Dorian Gray« über und begann ein Kreuzverhör in bezug auf einzelne Stellen.

»Sie sprechen da von einem Mann, der einen anderen anbetet. Haben Sie jemals irgendeinen Mann angebetet?«

»Nein«, erwiderte Oscar in aller Ruhe, »ich habe außer meiner eigenen Person nie jemand angebetet.«

Die Versammlung brach in schallendes Gelächter aus, und Oscar fuhr fort:

»Es gibt, wie ich zu meinem Bedauern sagen muß, Menschen auf der Welt, welche kein Verständnis für die tiefe Zuneigung haben, die der Künstler für einen mit Schönheit begabten Freund empfinden kann.«

Dann wurde er über seinen (hier bereits angeführten) Brief an Lord Alfred Douglas befragt. Es sei ein Gedicht in Prosa, das er als Antwort auf ein Sonett geschrieben habe, lautete seine Aussage. In dieser Tonart habe er niemals an andere Leute – und auch an Lord Alfred Douglas nur dieses eine Mal geschrieben, da er in der Ausdrucksform keine Wiederholungen liebe.

Darauf verlas Mr. Carson einen zweiten, von Oscar Wilde an Lord Alfred Douglas gerichteten Brief, der ihre Beziehungen mit außerordentlicher Deutlichkeit schildert und folgenden Wortlaut hat:

Savoy Hotel
Victoria Embankment, London.

Mein einzig geliebter Junge!

Dein Brief war köstlich, er wirkte wie roter und weißer Wein auf mich, aber ich bin traurig und ganz aus dem Gleise. Du darfst mir keine Szenen machen, Bosie, sie bringen mich um und zerstören die Lieblichkeit des Lebens. Ich kann Dich in Deiner griechischen Schönheit und Anmut nicht vom Zorne entstellt sehen. Ich kann nicht hören, daß Deine feingeschwungenen Lippen mir abscheuliche Worte sagen. Lieber möchte ich – (»das nächste Wort ist nicht zu entziffern«, fuhr Mr. Carson fort, »aber ich will den Zeugen fragen Die Worte, die Mr. Carson nicht lesen konnte, lauteten: Lieber möchte ich mich ausrauben lassen. (Im englischen Original steht das Wort »rent«, ein Slang-Ausdruck für »erpressen«.)«) – als daß Du böse, ungerecht und haßerfüllt bist … Ich muß Dich bald sehen. Du bist das göttliche Wesen, dessen ich bedarf, das Wesen voller Genialität und Schönheit; aber ich weiß nicht, wie ich das bewerkstelligen kann. Soll ich nach Salisbury kommen? Meine hiesige Wochenrechnung beträgt £ 49. Ich habe auch ein neues Wohnzimmer bekommen … Weshalb bist Du nicht hier, mein lieber, mein herrlicher Junge? Ich fürchte, daß ich fort muß – kein Geld, keinen Kredit und ein bleischweres Herz.

Der Deinige
Oscar.

Oscar erklärte, daß dieser Brief ein Ausdruck seiner zärtlichen Verehrung für Lord Alfred Douglas war.

»Sie haben gesagt«, fuhr Mr. Carson fort, »daß alle Angaben über andere Personen in dem vom Beklagten zu seiner Rechtfertigung eingereichten Schriftsatz unwahr seien. Halten Sie diese Aussage noch aufrecht?«

»Jawohl.«

Hier machte Mr. Carson eine Pause und blickte den Vorsitzenden an. Justice Collins legte seine Akten zusammen und verkündete, daß das Kreuzverhör am nächsten Tage seinen Fortgang nehmen würde. Als der Vorsitzende hinausging, setzten sich im ganzen Saal alle Zungen in Bewegung. Oscar wurde von seinen Freunden umringt, die ihn beglückwünschten und in freudiger Stimmung waren.

Ich war weniger beglückt und ging fort, um über die Sache nachzudenken. Aber ich bemühte mich, guten Mutes zu bleiben, indem ich der humoristischen Bemerkungen gedachte, die Oscar beim Kreuzverhör gemacht hatte. So versuchte ich, mir selbst einzureden, daß alles den besten Verlauf nahm. Aber in einem verborgenen Winkel meines Geistes regte sich das Bewußtsein, daß Oscars Antworten, so charakteristisch und geschickt sie zum großen Teil waren, auf die Geschworenen ihren Eindruck verfehlt hatten und sogar eher dazu angetan waren, sie gegen ihn einzunehmen. Er hatte sich auf den rein künstlerischen Standpunkt gestellt und nicht versucht, darüber hinauszugehen und eine Synthese zu erzielen, welche sowohl die philiströsen Geschworenen, als das denkende Publikum und den Vorsitzenden für sich gewinnen konnte.

Mr. Carson stand in engerer Fühlung mit den Geschworenen, da seine geistige Stufe der ihrigen ähnlicher war, und seine letzten Worte enthielten eine furchtbare Drohung. Morgen – sagte ich mir – wird sich sein Verhör nicht mit Büchern, sondern mit Menschen beschäftigen. Bei der literarischen Frage hatte er keinen Erfolg zu verzeichnen, aber es war richtig, sie zur Erörterung heranzuziehen. Die von ihm angeführten Stellen und insbesondere Oscars Briefe an Lord Alfred Douglas hatten ein starkes Vorurteil bei den Geschworenen wachgerufen. Meines Erachtens hätten sie nicht in diesem Sinne wirken dürfen, aber es war der Fall gewesen. Die Verachtung, die ich für das Gerichtswesen empfand, verstärkte sich: diese zwölf Geschworenen waren dem Beschuldigten in keiner Weise ebenbürtig, wie durften sie ihm das Urteil sprechen? –

Der zweite Verhandlungstag unterschied sich wesentlich von dem ersten. Eine düstere Stimmung schien über dem Gerichtssaal zu liegen, und Oscar betrat den Zeugenstand, als hätte es sich um die Anklagebank gehandelt; er hatte seine ganze Spannkraft eingebüßt. Mr. Carson machte sich mit augenscheinlichem Behagen zum Kreuzverhör bereit. Schon aus seinem Benehmen konnte man ersehen, daß er auf die Dinge zu sprechen kam, die er als die Stärke seines Rechtsgrundes betrachtete. So begann er, Oscar über seine vertraulichen Beziehungen zu einem gewissen Taylor zu befragen.

»Ist Taylor in Ihrem Hause und in Ihren Zimmern gewesen?«

»Ja.«

»Sind Sie nachmittags in Taylors Wohnung zu Teegesellschaften gewesen?«

»Ja.«

»Ist Ihnen Taylors Wohnung besonders aufgefallen?«

»Es war eine sehr hübsche Wohnung.«

»Haben Sie sie jemals – selbst bei Tage – in anderer Beleuchtung gesehen als im Kerzenlicht?«

»Ich glaube. Das weiß ich nicht genau.«

»Sind Sie dort jemals mit einem jungen Mann namens Wood zusammen gewesen?«

»Einmal.«

»Sind Sie dort jemals zum Tee mit Sidney Mavor zusammengewesen?«

»Das kann möglich sein.«

»In welchem Verhältnis standen Sie zu Taylor?«

»Taylor war ein Bekannter von mir, er ist ein kluger und gebildeter junger Mann, der eine gute englische Schule besucht hat.«

»Haben Sie gewußt, daß Taylor unter polizeilicher Beobachtung stand?«

»Nein.«

»Haben Sie gewußt, daß Taylor zusammen mit einem gewissen Parker bei einer Razzia verhaftet worden ist, die im vorigen Jahre gegen ein Haus am Fitzroy Square unternommen wurde?«

»Davon habe ich in der Zeitung gelesen.«

»Hat Sie das veranlaßt, Ihren Verkehr mit Taylor abzubrechen?«

»Nein, Taylor erklärte mir, daß er zu einer Tanzgesellschaft in dieses Haus gegangen war, und daß die Behörde die gegen ihn erhobene Anklage fallen ließ.«

»Haben Sie Taylor veranlaßt, Abendgesellschaften für Sie zu veranstalten, um mit jungen Männern zusammenzukommen?«

»Nein; ich habe mit Taylor in einem Restaurant zu Abend gespeist.«

»Wieviel junge Männer hat Taylor mit Ihnen bekannt gemacht?

»Im ganzen waren es fünf.«

»Haben Sie diesen fünf jungen Leuten Geld gegeben oder Geschenke gemacht?«

»Das kann wohl sein.«

»Haben sie Ihnen irgend etwas geschenkt?«

»Nein.«

»War unter den fünf Männern, mit denen Taylor Sie bekannt gemacht hat, nicht ein gewisser Parker?«

»Ja.«

»Haben Sie freundschaftliche Beziehungen mit ihm angeknüpft?«

»Ja.«

»Haben Sie ihn ›Charlie‹ genannt und ihm gestattet, Sie ›Oscar‹ zu nennen?«

»Ja.«

»Wie alt war Parker?«

»Ich führe keine Tabelle über das Alter der Leute; es wäre unfein, die Leute nach ihrem Alter zu fragen.«

»Wo sind Sie zum erstenmal mit Parker zusammengekommen?«

»Ich lud Taylor ein, meinen Geburtstag bei Kettner Ein berühmtes italienisches Restaurant im Soho-Viertel, in dem sich mehrere »reservierte Zimmer« befanden. mit mir zu feiern, und sagte ihm, daß er so viel Freunde mitbringen könnte, wie er wollte. Darauf brachte er Parker und dessen Bruder mit.«

»Haben Sie gewußt, daß Parker ein stellenloser Kammerdiener und daß sein Bruder Stallknecht war?«

»Nein, das habe ich nicht gewußt.«

»Aber Sie haben gewußt, daß Parker keine literarische Persönlichkeit und kein Künstler, und daß die Kultur nicht seine starke Seite war?«

»Ja, das habe ich gewußt.«

»Was hatten Sie denn für Berührungspunkte mit Charlie Parker?«

»Mir gefallen die Leute, die jung, frisch, glücklich, sorglos und eigenartig sind. Sie gefallen mir nicht, wenn sie vernünftig und wenn sie alt sind. Standesunterschiede irgendwelcher Art gefallen mir nicht, und schon die Jugend an sich ist für mich etwas so Wundervolles, daß ich lieber eine halbe Stunde mit einem jungen Mann plaudern möchte, als mich von einem ältlichen Königlichen Rat kreuz und quer ausfragen lassen.«

Alle lächelten über diesen Bescheid.

»Haben Sie eine Wohnung am St. James Place gehabt?«

»Ja, vom Oktober 93 bis zum April 94.«

»Ist Parker dorthin gekommen, um mit Ihnen Tee zu trinken?«

»Ja.«

»Haben Sie ihm Geld gegeben?«

»Ich habe ihm drei oder vier Pfund gegeben, weil er mir gesagt hat, daß er in Verlegenheit sei.«

»Was hat er Ihnen als Entgelt gegeben?«

»Nichts.«

»Haben Sie Charlie Parker zu Weihnachten ein silbernes Zigarettenetui geschenkt?«

»Das habe ich getan.«

»Haben Sie ihn eines Nachts um ½1 Uhr im Park Walk in Chelsea besucht?«

»Das habe ich nicht getan.«

»Haben Sie irgendwelche schönen Gedichte in Prosa für ihn verfaßt?«

»Ich glaube nicht.«

»Haben Sie gewußt, daß Charlie Parker sich zum Heeresdienst gemeldet hatte?«

»Das habe ich gehört.«

»Was haben Sie getan, als Sie hörten, daß Taylor verhaftet wurde?«

»Ich war sehr betrübt und habe ihm geschrieben, um ihm das zu sagen.«

»Wann sind Sie zum erstenmal mit Fred Atkins zusammengekommen?«

»Im Oktober oder November 92.«

»Hat er Ihnen gesagt, daß er bei einer Buchmacherfirma angestellt war?«

»Das kann wohl sein.«

»Er war kein Literat oder Künstler, nicht wahr?«

»Nein.«

»Wie alt war er?«

»Neunzehn oder zwanzig Jahre.«

»Haben Sie ihn zum Abendessen bei Kettner eingeladen?«

»Ich glaube, daß ich bei Kettner einmal mit ihm zum Abendessen zusammengewesen bin.«

»Ist Taylor bei dem Abendessen zugegen gewesen?«

»Das kann wohl sein.«

»Sind Sie später mit ihm zusammengewesen?«

»Das bin ich.«

»Haben Sie ihn ›Fred‹ genannt und sich von ihm ›Oscar‹ nennen lassen?«

»Ja.«

»Sind Sie mit ihm nach Paris gefahren?«

»Ja.«

»Haben Sie ihm Geld gegeben?«

»Ja.«

»Ist zwischen Ihnen jemals etwas Ungehöriges vorgekommen?«

»Nein.«

»Wann sind Sie zum ersten Male mit Ernest Scarfe zusammengekommen?«

»Im Dezember 1893.«

»Wer hat Sie mit ihm bekannt gemacht?«

»Taylor.«

»Scarfe war stellenlos, nicht wahr?«

»Das kann wohl sein.«

»Hat Taylor Scarfe zu Ihnen nach dem St. James Place mitgebracht?«

»Ja.«

»Haben Sie Scarfe ein Zigarettenetui geschenkt?«

»Ja, ich hatte die Gewohnheit, Leute, die ich gern hatte, mit Zigarettenetuis zu beschenken.«

»Wann sind Sie zum erstenmal mit Mavor zusammengekommen?«

»Im Jahre 93.«

»Haben Sie ihm Geld oder ein Zigarettenetui geschenkt?«

»Ein Zigarettenetui.«

»Haben Sie Walter Grainger gekannt?« …

In dieser Tonart ging es weiter, bis selbst die Luft im Gerichtssaal mit Gespenstern erfüllt zu sein schien.

Im ganzen hielt sich Oscar bei dem Kreuzverhör sehr gut, – bis auf eine entsetzliche Entgleisung.

Mr. Carson bedrängte ihn mit seinen Fragen über die Beziehungen zu dem jungen Grainger, der in Lord Alfred Douglas' Wohnung in Oxford bedienstet war:

»Haben Sie ihn jemals geküßt?«

Da gab Oscar die unüberlegte Antwort: »Ach du meine Güte, nein! Er war ein besonders unansehnlicher Junge. Leider war er überaus häßlich, deshalb tat er mir leid.«

»Haben Sie ihn aus diesem Grunde nicht geküßt?«

»Ach, Mr. Carson, Sie sind im Interesse Ihrer Sache recht dreist.«

»Sagten Sie das zur Bekräftigung Ihrer Angabe, daß Sie ihn nie geküßt haben?«

»Nein. Es ist eine kindische Frage.«

Aber Carson ließ sich nicht zurückschrecken. Wie ein Terrier sprang er immer wieder los:

»Herr, weshalb haben Sie erwähnt, daß dieser Junge überaus häßlich war?«

»Aus folgendem Grunde: wenn ich gefragt würde, weshalb ich eine Fußmatte nicht geküßt habe, so müßte ich auch antworten, weil ich nicht gern Fußmatten küsse« …

»Weshalb haben Sie seine Häßlichkeit erwähnt?«

»Es ist lächerlich, daran zu denken, daß etwas Derartiges unter irgendwelchen Umständen vorkommen könnte.«

»Ich frage Sie, weshalb haben Sie dann seine Häßlichkeit erwähnt?«

»Weil Sie mich mit einer beleidigenden Frage beleidigt haben.«

»War das ein Grund, um zu sagen, daß der Junge häßlich war?«

(Hier fing der Zeuge verschiedene, fast unverständliche Antworten an, die er jedoch alle nicht zu Ende führte. In dem Bemühen, seine Gedanken zu sammeln, wurde er durch Mr. Carsons schneidende, grell betonte, wiederholte Worte: »Weshalb, weshalb, weshalb haben Sie das hinzugesetzt?« nicht gerade unterstützt.) Endlich erfolgte die Antwort des Zeugen:

»Sie reizen mich und beleidigen mich, und da drückt man sich eben manchmal leichtsinnig aus.«

Dann erfolgte das nochmalige Verhör von Sir Edward Clarkes Seite, das Lord Alfred Douglas' Haß gegen seinen Vater in ein sehr helles Licht rückte. Es wurden Briefe verlesen, und in einem dieser Briefe behauptete Lord Queensberry, daß Oscar sich geradezu feige benommen hatte, als er ihm seinen Besuch machte. Und man hatte die Empfindung, daß diese Bemerkung vermutlich der Wahrheit entsprach: in diesem Punkte konnte man sich auf Queensberrys Wort verlassen.

Bei dem nochmaligen Verhör beschäftigte sich Sir Edward Clarke hauptsächlich mit zwei jungen Leuten namens Shelley und Conway, die zufällig von Mr. Carson übergangen worden waren. In Beantwortung seiner Fragen sagte Oscar aus, daß Shelley bei den Verlagsbuchhändlern Mathews und Lane angestellt sei. Shelley hatte sehr viel Verständnis für die Literatur und den lebhaften Wunsch, sich Bildung anzueignen. Shelley hatte alle seine Bücher gelesen und Gefallen daran gefunden. Shelley hatte bei ihm und seiner Frau in der Tite Street gespeist. Shelley war in jeder Beziehung ein »gentleman«: er war nie mit Charlie Parker ins Savoy Hotel gegangen.

Als das Verhör bis zu diesem Punkte gekommen war, wünschte einer der Geschworenen zu wissen, ob der Zeuge über die Tendenz des in der Zeitschrift »The Chameleon« erschienenen Artikels »The Priest and the Acolyte« unterrichtet war.

»Davon habe ich nichts gewußt, es war für mich eine furchtbare Überraschung.«

Diese Antwort stand in seltsamem Gegensatz zu der leichtfertigen Tonart der Erwiderung, die er am vorhergehenden Tage auf dieselbe Frage gegeben hatte.

Durch das nochmalige Verhör wurde Oscars Lage nicht verbessert: die Tatsachen blieben unverändert bestehen, und bei jedem Zuhörer blieb zum mindesten ein Argwohn zurück.

Sir Edward Clarke verkündete, daß damit die Beweisaufnahme für die klägerische Partei beendigt sei, worauf sich Mr. Carson erhob, um die einleitende Rede für die beklagte Partei zu halten. Ich zitterte vor Furcht.

Er erkannte zunächst die schwere Verantwortlichkeit an, die auf Lord Queensberry lastete, der bereit wäre, sie im vollsten Maße zu übernehmen. Lord Queensberry wäre berechtigt, alles zu tun, was in seinen Kräften stand, um einen Verkehr, der für seinen Sohn verhängnisvoll sein mußte, zu hintertreiben. Mr. Carson wünschte die Geschworenen auf die Tatsache aufmerksam zu machen, daß alle diese jungen Leute, mit denen Mr. Wilde verkehrte, entlassene Diener oder Stallknechte waren, die sich alle fast in demselben Alter befanden. Und er bat die Geschworenen auch zu beachten, daß Taylor, um den sich die ganze Angelegenheit drehte, noch nicht als Zeuge aufgerufen worden war. Weshalb nicht? Er wies die Geschworenen daraufhin, daß derselbe Gedanke, der in der Erzählung »The Priest and the Acolyte« entwickelt wurde, in Oscar Wildes Briefen an Lord Alfred Douglas enthalten sei, und daß derselbe Gedanke wiederum in Lord Alfred Douglas' Gedicht »The Two Loves« zu finden sei, das in »The Chameleon« erschienen war. Er führte ferner aus, daß der Priester in der Erzählung »The Priest and the Acolyte« – als der Knabe in seinem Bett Hier liegt von Mr. Carsons Seite ein Irrtum vor. Die Geschichte enthält keinen derartigen Zwischenfall; der Fehler dient nur zum Beweis seiner Voreingenommenheit. entdeckt wird – dieselbe Entschuldigung geltend macht wie Mr. Wilde, nämlich daß die Welt für die Schönheit dieser Liebe kein Verständnis habe. Derselbe Gedanke wäre wiederum in dem Roman »Dorian Gray« zu finden, – und er las zur Bekräftigung zwei oder drei Stellen aus dem Buche vor. Ferner hätte Mr. Wilde seinen Brief an Lord Alfred Douglas als ein Sonett in Prosa bezeichnet. Er möchte ihn dem Gerichtshof noch einmal vorlesen, – und er verlas die beiden Briefe. »Mr. Wilde findet sie schön«, fuhr er fort, »ich nenne sie ein abscheuliches Dokument ekelhafter Unsittlichkeit.«

Bei diesen Worten legte der Vorsitzende wiederum seine Akten zusammen und flüsterte mit ruhiger Stimme, daß die Verhandlung auf morgen vertagt würde. Sprach's und verließ den Saal.

Mr. Carson hatte an diesem Tage den Siegespreis davongetragen, während Oscar den Zeugenstand in niedergeschlagener Stimmung verließ. Ein oder zwei Freunde gingen auf ihn zu, aber die Mehrzahl hielt sich fern, und in fast lautlosem Schweigen schlüpften alle aus dem Saal. Merkwürdigerweise blieb mir noch ein einziger kleiner Hoffnungsschimmer. Mr. Carson legte noch immer großes Gewicht auf den Artikel in »The Chameleon« und vereinzelte Stellen des Romans »Dorian Gray«, auf Oscars Briefe an Lord Alfred Douglas und Lord Alfred Douglas' Gedichte in der eben erwähnten Zeitschrift. Meines Erachtens mußte er einsehen, daß das alles äußerst hinfällig war; man konnte darauf rechnen, daß Sir Edward Clarke derartige Argumente, die sich auf literarische Arbeiten stützten, vollkommen entkräften würde. Derartige Dinge boten Anlaß zu reichlich berechtigtem Zweifel.

Weshalb hatte Mr. Carson nicht einige der von ihm erwähnten jungen Leute als Zeugen aufgerufen? Würde er in der Lage sein, das zu tun? Er nannte Taylor den Mann, »um den sich die ganze Angelegenheit drehte«, und stichelte gegen die klägerische Partei, weil sie Taylor nicht als Zeugen aufgerufen hatte. Würde er Taylor als Zeugen aufrufen? Und wenn ihm derartige Zeugen zu Gebote und zur Verfügung standen, weshalb legte er dann solches Gewicht auf das haltlose, hinfällige Beweismaterial, das aus Stellen in Wildes Büchern, aus Gedichten und Briefen entnommen werden mußte? Das eine stand fest: wenn er in der Lage war, irgendeinen der jungen Leute, über die er Oscar vernommen hatte, als Zeugen aufzurufen, dann war Oscar verloren. Und auch wenn er seine Verteidigung auf die Briefe und Gedichte stützte, würde er Sieger bleiben und Oscars Ruf vernichtet werden. Denn es stand bereits fest, daß kein Geschworenengericht einen Wahrspruch zugunsten Oscar Wildes gegen einen Vater abgeben würde, der seinen Sohn zu schützen bemüht war. Die Sache war in eine furchtbare Sackgasse geraten: würde Oscar ganz zugrunde gerichtet werden oder nur den Prozeß und seinen guten Namen verlieren? Nur noch sechzehn Stunden brauchten wir uns zu gedulden, und mir schien es, als bargen sie die letzte Hoffnung.

In der Erwartung, Oscar zu sprechen, fuhr ich nach der Tite Street. Ich war überzeugt, daß Carson über wichtige Zeugen verfügte und der Prozeß einen unglücklichen Ausgang nehmen würde. Weshalb sollte Oscar nicht selbst jetzt noch, an demselben Abend, nach Calais hinüberfahren und für seinen Rechtsbeistand sowie für den Gerichtshof die schriftliche Mitteilung zurücklassen, daß er von dieser unsinnigen Klage Abstand nahm?

Das Haus in der Tite Street schien verödet zu sein. Mein Klopfen und Klingeln blieb geraume Zeit unbeantwortet, bis sich ein Diener zeigte, der mir ganz einfach den Bescheid gab, daß Mr. Wilde nicht zugegen sei. Er wußte nicht, ob Mr. Wilde zurückerwartet würde oder nicht; er glaubte nicht, daß er zurückkommen würde. Ich machte kehrt, um nach Hause zu gehen, und dachte, daß Oscar mir wahrscheinlich wieder sagen würde:

»Ich kann nichts, gar nichts machen, Frank.« –

Am nächsten Morgen war die Stimmung im Gerichtssaal gemütlich, ja sogar munter. Auf allen Bänken saßen junge Barristers, die sämtlich davon durchdrungen waren, daß die Zeugenaussagen das sein würden, was einer von ihnen ›heiter‹ nannte. Jeder betrachtete den Fall als bereits erledigt.

»Aber Carson wird doch Zeugen aufrufen?« fragte ich.

»Freilich wird er das tun«, wurde mir geantwortet, »aber auf jeden Fall ist es um Wilde so bestellt, daß er nicht die geringste Aussicht hat, einen Wahrspruch zu Queensberrys Ungunsten zu erzielen; er war ein hanebüchener Narr, daß er eine solche Klage angestrengt hat.«

»Es fragt sich, ob Wilde seinen Mann stehen wird«, sagte irgend jemand.

Mein Herz pochte vor Freude. Vielleicht war er fort, vielleicht bereits nach Frankreich geflüchtet, um dieser schrecklichen, zwecklosen Marter zu entgehen. Ich sah die Meute mit offenem Maule, mit speichelnden weißen Hauern und gierigen Augen vor mir, die insgesamt das wehrlose Wild umzingelte. Würde der Jäger das Zeichen geben? Darüber sollten wir nicht lange im Zweifel bleiben.

Mr. Carson setzte seine Darlegungen für die beklagte Partei fort. Seines Erachtens hätte er den Geschworenen hinlänglich bewiesen, daß Lord Queensberry, soweit er in Betracht kam, unbedingt berechtigt war, auf die von ihm gewählte Art einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen Mr. Oscar Wilde und seinem Sohn herbeizuführen. Es trat eine dramatische Pause ein.

Dann, nach einem Augenblick, nahm der geschickte Advokat von neuem das Wort: leider müßte er nun den peinlicheren Teil des Falles berühren. Es wäre seine peinliche Pflicht, ihnen jetzt die jungen Leute, über die er Mr. Wilde vernommen hatte, einzeln vorzuführen und von ihnen zu hören, was sie zu berichten hätten. Keiner dieser jungen Leute stehe in irgendeiner Hinsicht mit Mr. Wilde auf gleichem Fuße. Mr. Wilde habe ihnen gesagt, daß die Jugend etwas Schönes und Reizvolles an sich habe, das ihn dazu bewog, diese Bekanntschaften zu machen. Das sei eine Entstellung der Tatsachen. Mr. Wilde zog es vor, über diese jungen Leute und ihr Vorleben nichts wissen zu wollen. Er wußte nichts über Wood; er wußte nichts über Parker; er wußte nichts über Scarfe, nichts über Conway und nicht viel über Taylor. In Wirklichkeit war Taylor Mr. Wildes Kuppler; die Geschworenen würden von diesem jungen Parker, der ihnen seine unglückliche Geschichte vortragen sollte, selbst hören, daß er arm, stellen- und mittellos war und leider Mr. Wilde zum Opfer fiel. (Bei diesen Worten verließ Sir Edward Clarke den Saal.)

An dem Abend ihres ersten Zusammenseins nannte Mr. Wilde Parker bei seinem Vornamen »Charlie«, und Parker nannte ihn »Oscar«. Es mag ja bei manchen Menschen eine sehr edle Regung sein, wenn sie den Wunsch haben, soziale Schranken niederzureißen, aber Mr. Wildes Verhalten war nicht von großherzigen Regungen geleitet. Üppige Abendessen und Champagnerwein wären kein Mittel zur Unterstützung eines armen Mannes. Parker werde ihnen mitteilen, daß Mr. Wilde ihn nach diesem ersten Abendessen aufforderte, mit ihm ins Savoy Hotel zu fahren. Mr. Wilde hatte ihnen nicht mitgeteilt, zu welchem Zweck er seine Zimmerflucht im Savoy Hotel gemietet hatte. Parker werde ihnen mitteilen, was sich zutrug, als sie im Hotel eintrafen. Dieses Ärgernis war es, auf das Lord Queensberry bereits in seinem vom Juni oder Juli vorigen Jahres datierten Briefe Bezug nahm. Die Geschworenen würden nicht verwundert sein, daß diese Gerüchte Lord Queensberry zu Ohren kamen, sondern daß Oscar Wilde in der Londoner Gesellschaft so lange geduldet wurde. Parker sei inzwischen in den Heeresdienst getreten und führe sich dort gut. Mr. Wilde hatte selbst gesagt, daß Parker ein achtbarer Mensch wäre. Parker werde ungern als Zeuge auftreten, um den Geschworenen seine Geschichte vorzutragen.

Während dieser ganzen Zeit schien die Versammlung vor Scheu und Staunen erstarrt zu sein, alle fragten sich, was in aller Welt Wilde bewogen hatte, diese Klage einzuleiten. Von welchem Wahnsinn war er getrieben, und weshalb hatte er dem tollen Rat Gehör gegeben, den Prozeß anzustrengen, da er wissen mußte, wie das Beweismaterial geartet war, das gegen ihn beigebracht werden konnte.

Nachdem Mr. Carson somit in Aussicht gestellt hatte, Parker und die übrigen jungen Leute vorzuführen, verstummte er und fing an, seine Akten durchzusehen. Und alle lauschten atemlos, als er seine Rede wieder aufnahm: was sollte nun kommen? In derselben sachlichen und ernsten Art ging er dazu über, den Fall des jungen Conway zu besprechen. Es ergab sich, daß Conway in Worthing mit Mr. Wilde und seiner Familie bekannt geworden war. Conway war sechzehn Jahre alt …

In diesem Augenblick kehrte Sir Edward Clarke in Begleitung von Mr. Charles Mathews in den Saal zurück und bat den Vorsitzenden um Erlaubnis, einige Worte mit Mr. Carson zu sprechen. Als diese Unterredung zwischen den Anwälten nach wenigen Minuten beendet war, erhob sich Sir Edward Clarke und teilte dem Vorsitzenden mit, daß er es nach Vereinbarung mit Mr. Oscar Wilde für besser halte, die Klage zurückzuziehen und sich einem auf »Nichtschuldig« lautenden Wahrspruch zu fügen.

Er beschönigte die Niederlage und erklärte, er könne sich in Anbetracht der mit der Literatur und Korrespondenz verbundenen Angelegenheiten dem auf »Nichtschuldig« lautenden Wahrspruch nicht widersetzen, in Berücksichtigung der Tatsache, daß Lord Queensberry keine direkte Beschuldigung ausgesprochen, sondern die Worte gebraucht habe: »es ist ebenso schlimm, den Schein zu erwecken, als es wirklich zu tun«. Überdies wünsche er die Geschworenen der Notwendigkeit zu entheben, diese geradezu entsetzlich gearteten Einzelheiten eingehend nachzuprüfen. Er wünschte der Sache ein Ende zu machen. – Sprach's und setzte sich nieder.

Um alles in der Welt, – weshalb hatte Sir Edward Clarke Oscar nicht bereits vor Wochen in dieser Weise beraten? Weshalb hatte er ihm nicht gesagt, daß er seinen Prozeß unmöglich gewinnen konnte?

Später habe ich aus glaubwürdigster Quelle gehört, daß Sir Edward Clarke, ehe er den Prozeß übernahm, Oscar Wilde gefragt hatte, ob er schuldig sei oder nicht, und der Versicherung seiner Unschuld im Ernst Glauben geschenkt hatte. Sobald er sich vor Gericht über die Wucht der Oscar belastenden Tatsachen klar wurde, riet er ihm, die Klage fallen zu lassen. Und zu seiner Überraschung war es Oscars lebhafter Wunsch, sie zurückzuziehen. Später übernahm Sir Edward Clarke lediglich aus Pflichtgefühl und Mitleid die Verteidigung seines unglücklichen Mandanten, da Oscar ihm von neuem seine Unschuld beteuerte.

Mr. Carson erhob sich sogleich und stellte seinem Recht entsprechend die Forderung, daß dieser auf »Nichtschuldig« lautende Wahrspruch dahin gedeutet werden müßte, daß Lord Queensberrys Wahrheitsbeweis gelungen war.

Nach der Meinung des Justice Collins gehörte es nicht zu den Obliegenheiten des Vorsitzenden und der Geschworenen, die kitzligen Einzelheiten unbedingt durchhecheln zu wollen, die auf den vorliegenden Prozeß, der bereits im Einverständnis mit der klägerischen Partei durch den Wahrspruch »Nichtschuldig« entschieden worden war, keine Wirkung hatten. Ein solcher Wahrspruch wäre selbstverständlich dahin zu deuten, daß der Wahrheitsbeweis erbracht war. Nachdem die Geschworenen sich einige Minuten beraten hatten, stellte der das Urteil ausfertigende Beamte die Frage:

»Sind Sie der Meinung, daß der Wahrheitsbeweis erbracht ist oder nicht?«

Der Obmann: »Ja.«

»Sie erklären, daß der Angeklagte ›nicht schuldig‹ ist, und daß dieser Wahrspruch im Namen aller Geschworenen erfolgt ist?«

Der Obmann: »Ja, und wir sind auch der Meinung, daß das im allgemeinen Interesse ist.«

Das war der letzte Fußtritt, der den toten Löwen traf. Als der Wahrspruch verlesen wurde, gaben die Zuschauer im Saal ihrem Beifall lauten Ausdruck.

Carson: »Selbstverständlich wird die Kostenfrage zugunsten des Angeklagten entschieden werden?«

Justice Collins: »Ja.«

C. F. Gill: »Und Lord Queensberry kann entlassen werden?«

Justice Collins: »Gewiß.«

Der Marquis von Queensberry verließ die Anklagebank unter erneuten Beifallsrufen, die auch auf der Straße kein Ende nehmen wollten. –


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