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In den beiden Jahren 1893 und 1894 stand Oscar Wilde auf dem höchsten Gipfel des Erfolges. Thackeray, der sich im Vergleich zu Dickens in pekuniärer Beziehung immer als Stiefkind betrachtete, nennt den Erfolg »einen der größten Vorzüge eines großen Mannes«. Und Oscar war nicht nur erfolgreich, sondern auch siegreich. Diese hohe Warte hat weder Sheridan am Tage nach seiner Hochzeit, noch Byron erreicht, als er über Nacht berühmt geworden war. Seine Stücke waren so einträglich, daß er mit dem Gelde umgehen konnte, als wäre es Wasser. Er hatte die Gunst des Publikums in allen Kreisen erobert: den plumpen Beifall der großen Menge und den zarteren Weihrauch der wenigen, welche die Preisrichter des Ruhmes sind. Auch seine Persönlichkeit erfreute sich außergewöhnlicher, allgemeiner Gunst. Tausende bewunderten ihn, viele hatten ihn gern; so schien er alles zu besitzen, was das Herz begehrt, und eine tadellose Gesundheit obendrein. Selbst sein Familienleben war wolkenlos. Zwei Geschichten, die er damals zum besten gab, bieten uns ein Bild seines Wesens. Die eine handelt von seinen beiden Söhnen Vyvyan und Cyril:
»Kinder sind zuweilen interessant«, begann er seine Erzählung. »Als ich neulich abends beim Lesen war, kam meine Frau und holte mich nach oben, um dem älteren Knaben einen Verweis zu geben: Anscheinend hatte sich Cyril geweigert, sein Gebet aufzusagen, nachdem er sich mit Vyvyan gezankt und ihn geschlagen hatte. Als er dann gezaust und zum Beten ermahnt wurde, wollte er weder niederknien, noch Gott bitten, ein artiges Kind aus ihm zu machen. Natürlich mußte ich hinaufgehen und Rat schaffen. Ich nahm also den dicken, kleinen Kerl auf den Schoß und sagte ihm in ernster Weise, daß er sehr unartig gewesen war, erstens, weil er seinen kleinen Bruder geschlagen, und zweitens, weil er seiner Mutter Kummer bereitet hatte. Er sollte nun sofort niederknien und Gott bitten, daß er ihm verzeihen und ein artiges Kind aus ihm machen möge.
»›Ich bin nicht unartig gewesen‹, sagte er schmollend, ›Vyvyan ist's, der ist unartig gewesen!‹
»Ich erklärte ihm, daß seine Heftigkeit unartig sei, und daß er gehorchen müsse. Mit einem leichten Seufzer glitt er von meinem Schoß, kniete nieder, faltete seine Händchen, wie es ihm beigebracht worden war, und begann das ›Vaterunser‹ zu beten. Als das Gebet zu Ende war, blickte er zu mir auf und sprach ganz ernsthaft: ›Nun werde ich leise beten.‹
»Er schloß die Augen und bewegte die Lippen. Als er fertig war, nahm ich ihn wieder auf den Arm, küßte ihn und sagte: ›So ist's recht.‹
»›Hast du auch gesagt, daß es dir leid tut‹, fragte seine Mutter und neigte sich über ihn, ›und Gott gebeten, daß er ein artiges Kind aus dir macht?‹
»›Ja, Mutter‹, nickte er, ›ich habe gesagt, daß es mir leid täte, und Gott gebeten, daß er Vyvyan artig macht.‹
»Ich mußte aus dem Zimmer gehen, Frank, sonst hätte er bemerkt, daß ich lächelte. War das nicht entzückend von ihm? Wir möchten Gott alle gern bitten, daß er die anderen zu guten Menschen macht.«
Diese Geschichte zeigt ihn von seiner liebenswerten Seite; aber er besaß auch eine andere, die weniger anmutig war. Sein Lustspiel »A Woman of no Importance« (Eine Frau ohne Bedeutung) wurde im April 1893 von Herbert Beerbohm Tree im Haymarket-Theater zur Darstellung gebracht und Abend für Abend, bis zum Ende der Spielzeit, am 16. August, also noch über die Jagderöffnung hinaus aufgeführt. Der überraschende Erfolg seines zweiten Theaterstücks befestigte die Gunst, die Oscar Wilde beim Publikum genoß, brachte ihm Geld in Hülle und Fülle ein und hob sein Selbstvertrauen. Im Sommer mietete er in Goring am oberen Lauf der Themse ein Haus, das er mit Lord Alfred Douglas bezog. Zu uns nach London drangen unheimliche Geschichten über ihr Zusammenleben. Es war wohl im Laufe des Monats September, da fragte ich ihn, wie es sich in Wahrheit mit diesen Gerüchten verhielte.
»Lästergeschichten und Verleumdungen haben mit der Wahrheit nichts zu tun, Frank«, erwiderte er.
»Ich weiß nicht recht, ob das wahr ist«, sagte ich, »Verleumdungen haben häufig einen wahren Hintergrund. Sie gleichen der Wahrheit wie ein riesiger Schatten, wenigstens im Umriß ist eine Ähnlichkeit vorhanden.«
»Das könnte wahr sein«, gab er zurück, »wenn sozusagen die Leinwand, auf die der Schatten fällt, glatt und echt wäre, aber das ist sie nicht. Lästergeschichten und Verleumdungen entstammen dem Haß der Leute, von denen sie ersonnen werden, und sind selbst nicht einmal im schattenhaften Sinne Abbilder oder Darstellungen der angefeindeten Person.«
»Also viel Rauch und kein Feuer?« fragte ich zweifelnd.
»Nur kleine Feuer«, versetzte er, »verursachen viel Rauch. Die Veranlassung zu allem, was du gehört hast, ist ebenso geringfügig wie harmlos. Wie du weißt, ist das Wetter in diesem Sommer sehr warm und schön gewesen, und ich war mit Bosie draußen in Goring. Oft war es uns in den Mittagsstunden zu heiß, um auf dem Fluß zu fahren. So war es auch eines Nachmittags drückend schwül, und Bosie kam auf die Idee, sich von mir mit dem Gartenschlauch abspritzen zu lassen. Er ging ins Haus und warf die Kleider ab, – ich folgte seinem Beispiel, und nach ein paar Minuten saß ich im Bademantel auf einem Stuhl, während Bosie etwa zehn Meter entfernt auf dem Rasen lag. Da erschien der Prediger, um uns einen Besuch zu machen. Er hatte vom Diener gehört, daß wir im Garten waren, ging uns nach und fand uns dort. Du kannst dir keinen Begriff machen, Frank, was er für ein Gesicht geschnitten hat. Und was sollte ich ihm wohl sagen?
»Er verneigte sich mit gewichtiger Förmlichkeit und sprach: ›Ich bin der Prediger dieses Kirchspiels.‹
»›Ich freue mich sehr, Sie bei mir zu sehen‹, sagte ich, stand auf und verhüllte mich sorgfältig. ›Sie sind gerade zur rechten Zeit gekommen, um eine echt griechische Szene zu genießen. Ich bedaure, daß wir beide‹ – und ich zeigte auf den im Rasen liegenden Bosie – ›kaum dazu angetan sind, Sie zu empfangen.‹ Der Vikar wandte den Kopf und sah Bosies weiße Glieder; aber der Anblick ging über seine Kräfte. Er wurde ganz rot, rang nach Luft und floh von hinnen.
»Ich setzte mich platt auf meinen Stuhl und schrie vor Lachen. Wie er die Szene geschildert, wie er sie gedeutet, und was für gemeine Kommentare er sich dazu ausgedacht hat, das weiß ich nicht, und das ist mir gleichgültig. Ich zweifle nicht daran, daß er mit dem Kopf gewackelt, die Lippen gespitzt und so ausgesehen hat, als wären unaussprechliche Dinge vorgefallen. Aber man muß wirklich ein Heiliger sein, um solche Narren mit guter Miene zu dulden.«
Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als ich an das Gesicht des Predigers dachte, aber Oscars Tonart gefiel mir nicht.
Die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war, überstieg meine Befürchtungen. Jetzt bekundete er die vollkommenste Verachtung gegen jeden Tadel und wollte keinen Rat annehmen. Er war auch plump geworden, das üppige Essen und der Wein schienen sichtbare Spuren zu zeitigen, und sein Benehmen war trotzig und gefühllos. Er glich einem großen Heiden, der entschlossen ist, sein Leben bis zur letzten Neige auszuleben, unbekümmert um das, was die anderen sagen, denken oder tun könnten. Auch die Erzählungen, die er zu dieser Zeit schrieb, tragen den schlimmsten Stempel seines Heidentums:
»Als Jesus willens war, nach Nazareth zurückzukehren, war Nazareth so verändert, daß er seine eigene Stadt nicht mehr wiedererkannte. Das Nazareth, in dem er gewohnt hatte, war voller Wehklagen und Tränen gewesen; diese Stadt hallte von wildem Lachen und Singen …
»Christus verließ das Haus, und siehe: auf der Straße erblickte er eine Frau, deren Gesicht und Gewand bemalt und deren Füße mit Perlen beschuht waren. Und hinter ihr ging ein Mann, der trug einen zweifarbigen Mantel, und seine Augen funkelten vor Begierde. Und Christus trat zu dem Manne, berührte seine Schulter und sprach zu ihm: ›Sage mir, weshalb folgest du dieser Frau, und weshalb schauest du sie auf diese Weise an?‹ Und der Mann wandte sich um, erkannte ihn und sprach: ›Ich bin blind gewesen, du hast mich geheilt; was soll ich denn sonst mit meinem Augenlicht tun?‹«.
Dieselbe Note klingt noch in zwei oder drei anderen Gleichnissen an; aber das eben angeführte ist das treffendste, und man hätte es für sich allein sprechen lassen sollen. Es ist als Gotteslästerung bezeichnet, aber nicht als solche beabsichtigt worden. Wie gesagt, Oscar dachte sich immer ganz naiv in die Rolle jeder historischen Persönlichkeit hinein.
Die Nichtachtung der öffentlichen Meinung, die Oscar jetzt nicht nur in seinen Schriften, sondern in seinen Erwiderungen auf jede Kritik zur Schau trug, wandelte die Abneigung des Publikums in tödlichen Haß um. Im Jahre 1894 erschien ein Buch »The green Carnation« (Die grüne Nelke), – gewissermaßen Oscars Photographie als Redner und eine Karikatur seiner Gedankenrichtung. Diese Klatschgeschichte hatte einen überraschenden Erfolg, der in jeder Beziehung weit über ihre Verdienste hinausging. Er liefert nur einen Beweis für das starke Interesse, das jeder Verdacht, der auf eine perverse Veranlagung hindeutet, für die Mentalität des gewöhnlichen Menschen besitzt. Das Buch spricht überhaupt nicht von Oscars Genialität, weist aber auf seinen Humor hin und unterstreicht immer wieder den gehässigen Zweifel an seiner Sittlichkeit. Das Gerücht wollte wissen, daß es in allen Einzelheiten der Wahrheit entspräche, daß sein Verfasser namens Hichens sich Abend für Abend Oscars Gespräche aufnotiert und sie ganz einfach abgedruckt hatte. Und so erkundigte ich mich bei Oscar, ob das wahr wäre.
»Nur zu wahr, Frank«, erwiderte er mit einer gewissen Verachtung, die ihm sonst fremd war. »Hichens lernte Bosie Douglas in Ägypten kennen. Sie fuhren, soviel ich weiß, mit Benson, dem Verfasser des Romans ›Dodo‹, den Nil hinauf. Selbstverständlich hat Bosie viel von mir gesprochen, und Hichens wollte mich kennen lernen. Als sie nach London zurückkehrten, gefiel er mir ganz gut, wir waren häufig zusammen. Ich hatte keine Ahnung, daß er den Reporter zu spielen beabsichtigte; ich halte das für einen Vertrauensbruch – für nichtswürdig!«
»Das Buch ist nicht dein Bildnis«, sagte ich, »aber eine gewisse Ähnlichkeit ist vorhanden.«
»Eine Photographie ist stets ähnlich und unähnlich zugleich, Frank«, erwiderte er, »auch die Sonne ist, wenn sie zu mechanischen Zwecken ausgenutzt wird, nur ein Reporter und kopiert dich, anstatt dich nachzubilden.«
»Die grüne Nelke« verlästerte Oscar Wildes Charakter beim großen Publikum. Von allen Seiten wurde das Buch als Bestätigung der schlimmsten Verdächtigungen angeführt: die Wolke, die über ihm schwebte, wurde immer dunkler.
Das Lustspiel »The Ideal Husband« (Der ideale Gatte), das er im Laufe des Sommers 1894 schrieb, verdankte seine Entstehung einer Geschichte, die ich ihm erzählte. Ich selbst hatte sie von einem Amerikaner, mit dem ich in Kairo zusammen gewesen war, einem Mr. Cope Whitehouse. Der erzählte mir, daß Disraeli die Rothschilds mit dem Ankauf der Suezkanal-Aktien beauftragt hätte und dadurch reich geworden wäre. Es kam mir merkwürdig vor, daß diese Behauptung – sofern sie der Wahrheit entsprach – niemals von maßgebender Seite zur Erörterung gebracht worden war. Aber die Geschichte war besonders zeitgemäß und hatte manches für sich. Oscar gab später zu, daß er den Gedanken übernommen und im »Idealen Gatten« verwertet habe.
Auch sein bestes Lustspiel »The Importance of being Earnest« (Bunbury) schrieb er in demselben Sommer. Er reiste an die See und beendete es nach seiner eigenen Aussage in drei Wochen. Und als ich von der Freude sprach, die ihm die Tatsache bereiten mußte, daß zwei seiner Stücke zu gleicher Zeit in London aufgeführt wurden, antwortete er mir:
»Nächstes Jahr, Frank, werden es vielleicht vier oder fünf. Ich könnte mit der größten Leichtigkeit alle acht Wochen ein Stück schreiben. Es ist eine reine Geldfrage. Wenn ich Geld brauche, werde ich nächstes Jahr ein halbes Dutzend schreiben.«
Seine Worte erinnerten mich an das, was Goethe von sich gesagt hat: in jedem der zehn Jahre, die er mit seiner »Farbenlehre« hingebracht hatte, wäre es ihm wohl möglich gewesen, zwei Theaterstücke zu schreiben, die es mit seinen besten Bühnenwerken hätten aufnehmen können. Das Land der »Möglichkeiten« ist mit diesen herrlichen Schattengestalten bevölkert.
Oscar hatte bereits sein Publikum gefunden, ein Publikum, das imstande war, das Allerbeste zu würdigen, was er zu leisten vermochte. Sobald »The Importance of being Earnest« auf die Bühne kam, erzielte er einen außergewöhnlichen Erfolg, einen Erfolg im besten Sinne. Selbst die Zeitungskritiker hatten allmählich aufgehört, ihre eigene Beschränktheit durch törichte Nörgeleien zur Schau zu stellen, sie plapperten nun, als Echo größerer Geister, die Ausdrücke verschwenderischen Lobes nach.
Oscar nahm die Anerkennung ebenso auf, wie er die Lästergeschichten und Verleumdungen aufgenommen hatte: mit wohlgefälliger Überlegenheit. Er hatte sich stark zu seinem Nachteil verändert. Mit jedem Jahre wurde er roher und gefühlloser, was keinem seiner Freunde verborgen blieb. Selbst André Gide, der ihn sehr verehrte und kurz nach seinem Tode die beste Darstellung von ihm gab, die in die Öffentlichkeit gekommen ist, konnte nicht umhin, seine Entartung mit Bedauern zu beklagen.
»Man empfand«, so lauten seine Worte, »daß sein Blick weniger weich war, daß sein Lachen einen rauhen Klang hatte und seine Lustigkeit tolle Ausgelassenheit atmete. Er schien einerseits überzeugt zu sein, daß er gefallen müsse, und andererseits weniger ehrgeizig, auf diesem Gebiet etwas zu erreichen. Er war rücksichtslos, gefühllos und eingebildet geworden, und merkwürdigerweise sprach er nicht mehr in Gleichnissen.«
Sein Bruder Willie beklagte sich in ähnlicher Weise bei Sir Edward Sullivan, der sich schriftlich folgendermaßen äußert:
»William Wilde erzählte mir, als Oscar im Gefängnis war, daß die einzige Unstimmigkeit zwischen ihm und seinem Bruder durch Oscars maßlose Eitelkeit in der Zeit vor seiner Verurteilung verursacht wurde. William sagte: ›Er hatte eine Bande von Schmarotzern um sich geschart, die ihn den ganzen Tag verhimmelten und denen er Zigarettentaschen, Krawattennadeln und dergleichen mehr zum Lohn für ihre ekelhafte Schmeichelei zu verehren pflegte. Kein Mensch, nicht einmal ich, als Bruder, wagte es, eine kritische Bemerkung über seine Werke laut werden zu lassen, ohne ihn zu beleidigen.‹«
Wenn es eines Beweises für seine rücksichtslose Nichtachtung der öffentlichen Meinung sowie für die gehässige Art, in der er verkannt wurde, bedürfen sollte, so könnte ein Vorfall, der sich gegen Ende des Jahres 1894 ereignete, diesem Zweck entsprechen. Oscar hatte für die Oxforder Studentenzeitschrift »The Chameleon« ein paar Sentenzen geschrieben, die er »Phrases and Philosophies for the Use of the Young« nannte (Sätze und Lehren zum Gebrauch für die Jugend). Seine Epigramme waren ganz harmlos, aber in derselben Nummer erschien eine Erzählung »The Priest and the Acolyte« (Priester und Meßgehilfe), die sich kaum rechtfertigen ließ. Die Tatsache an sich, daß diese Arbeit in derselben Zeitschrift abgedruckt war, rief einen Sturm der Entrüstung hervor, obwohl Oscar Wilde die Erzählung vor ihrer Veröffentlichung nie gesehen und mit ihrer Aufnahme in diesem Blatte nichts zu tun hatte.
Nemesis folgte ihm auf den Fersen. Zu Ende des Jahres sprach er aus eigenem Antriebe mit mir über Lord Queensberry und wollte meinen Rat hören:
»Lord Queensberry belästigt mich«, sagte er, »ich habe wirklich mein möglichstes getan, um ihn mit Bosie auszusöhnen. Als Bosie und ich eines Tages im Café Royal zu Mittag speisten, kam Lord Queensberry herein, da veranlaßte ich Bosie, zu seinem Vater zu gehen und ihn an unseren Tisch zu holen, um mit uns zu speisen. Bis vor ganz kurzer Zeit war er nicht unfreundlich gegen mich, trotzdem er Bosie einen abscheulichen Brief über uns geschrieben hat. Was soll ich machen?«
Ich fragte ihn, woran Lord Queensberry denn etwas auszusetzen hätte.
»An meiner Freundschaft mit Bosie.«
»Und weshalb gibst du denn deinen Verkehr mit Bosie nicht auf?«
»Das ist unmöglich, Frank, es ist eine Lächerlichkeit; weshalb soll ich um Queensberrys willen meine Freunde im Stich lassen?«
»Ich würde Queensberrys Brief gern sehen, wenn es möglich ist«, sagte ich.
»Ich werde ihn dir mitbringen, Frank, aber es steht nichts darin.« Nach ein bis zwei Tagen zeigte er mir den Brief, und als ich ihn gelesen hatte, brachte er eine Abschrift des Telegramms zum Vorschein, das Lord Alfred Douglas seinem Vater als Antwort geschickt hatte. Ich lasse beide hier im Wortlaut folgen, da sie in recht unverblümter Form für sich selbst sprechen:
Alfred,
es ist mir äußerst schmerzlich, daß mir nichts anderes übrigbleibt, als Dir in dieser Tonart zu schreiben; aber laß es Dir bitte gesagt sein, daß ich es ablehne, von Dir irgendeine Antwort anzunehmen, die Du mir als Entgegnung schreiben könntest. Nach Deinen letzten, hysterischen und frechen Antworten weigere ich mich, damit belästigt zu werden, und lehne es ab, weitere Briefe zu lesen. Wenn Du mir irgend etwas zu sagen hast, so komme her und sage es persönlich. Soll ich ad eins annehmen, daß Du jetzt beabsichtigst, zu bummeln und herumzulungern, nachdem Du Oxford in dieser Weise zu Deiner Schande verlassen hast, deren Gründe mir Dein Lehrer vollkommen klargelegt hat? Während der ganzen Zeit, die Du in Oxford vertrödelt hast, wurde ich mit der Versicherung vertröstet, daß Du möglicherweise in die Zivilverwaltung oder ins Auswärtige Amt eintreten würdest, und dann wurde ich mit der Versicherung vertröstet, daß Du Advokat werden wolltest. Es kommt mir so vor, als beabsichtigst Du, gar nichts zu tun. Ich lehne es jedoch ein für allemal ab, Dich auch noch mit genügenden Mitteln zu versehen, damit Du herumlungern kannst. Du schaffst Dir selbst eine unglückliche Zukunft, und es wäre sehr grausam und unrecht von mir, Dich darin zu bestärken. Nun komme ich ad zwei zu dem schmerzlicheren Teil dieses Briefes, – nämlich zu Deinen vertraulichen Beziehungen mit diesem Burschen, dem Oscar Wilde. Sie müssen entweder ein Ende nehmen, oder ich verstoße Dich und entziehe Dir alle Geldzuschüsse. Ich will nicht versuchen, diesen vertraulichen Beziehungen auf den Grund zu gehen, und ich beschuldige niemand, aber nach meiner Meinung ist es ebenso schlimm, den Schein zu erwecken, als etwas wirklich zu tun. Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, daß Ihr das ekelhafteste und widerwärtigste Verhältnis habt, das durch Euer Benehmen und Euren Gesichtsausdruck zum Ausdruck kommt. In meinem Leben habe ich noch nie einen solchen Anblick gehabt, als Eure schrecklichen Gesichtszüge. Kein Wunder, daß die Leute so reden, wie es der Fall ist. Wie ich jetzt auch von glaubwürdiger Seite höre – vielleicht stimmt es aber doch nicht –, reicht seine Frau die Scheidungsklage wegen Päderastie und anderer Laster ein. Ist das wahr, oder weißt Du nichts davon? Wenn ich dächte, daß die betreffende Sache wirklich wahr ist und in die Öffentlichkeit dringt, wäre ich vollkommen berechtigt, ihn niederzuschießen, sobald ich ihn zu Gesicht bekomme. Dieses feige englische Christentum, diese angeblichen Männer müssen aufgerüttelt werden.
Dein empörter sogenannter Vater
Queensberry.
In Erwiderung dieses Briefes sandte Lord Alfred Douglas folgendes Telegramm an seinen Vater:
»Was bist Du für ein komisches Männchen!
Alfred Douglas«
Dieses Telegramm war vorzüglich ersonnen, um Queensberrys Wut bis zum äußersten zu steigern. Es lag weibliche List darin, seine Eitelkeit in dieser Form zu verletzen.
Kurze Zeit darauf erzählte mir Oscar, daß Queensberry ihn in Begleitung eines Freundes besucht habe.
»Und was ist vorgefallen?« fragte ich.
»Ich habe zu ihm gesagt: ›Vermutlich sind Sie zu mir gekommen, Lord Queensberry, um sich wegen des ehrenrührigen Briefes zu entschuldigen, den Sie über mich geschrieben haben.‹
»›Nein‹, erwiderte er, ›ich hatte ein gutes Recht zu diesem Briefe, denn er war an meinen Sohn gerichtet.‹
»›Wie konnten Sie sich erlauben, so etwas über Ihren Sohn und mich zu behaupten?‹
»›Ihr seid beide wegen Eures empörenden Benehmens aus dem Savoy-Hotel hinausgeworfen worden‹, erwiderte er.
»›Das ist nicht wahr‹, sagte ich, ›ganz und gar nicht wahr.‹
»›Wegen eines empörenden Briefes, den Sie an meinen Sohn geschrieben haben, sind auch Erpressungsversuche gegen Sie unternommen worden‹, fuhr er fort.
»›Ich weiß nicht, wer Ihnen alle diese albernen Geschichten erzählt hat‹, erwiderte ich, ›jedenfalls sind sie nicht wahr und geradezu lächerlich.‹
»Zum Schluß sagte er noch, daß er mich verhauen würde, wenn er mich noch einmal mit seinem Sohne zusammen erwischte, und ich erwiderte:
»›Über die Grundsätze der Familie Queensberry bin ich nicht unterrichtet, ich für mein Teil befolge jedoch den Grundsatz, jemand ohne weiteres niederzuschießen, der sich an mir vergreift.‹ Und mit diesen Worten forderte ich ihn auf, mein Haus zu verlassen.«
»Selbstverständlich hat er dich herausgefordert?« fragte ich.
»Sein Benehmen war von Anfang bis zu Ende unhöflich und widersinnig, Frank.«
Als Oscar mir die Geschichte erzählte, hatte ich das Gefühl, als spräche ein anderer Mensch aus ihm. Der Gedanke, daß Oscar sich Queensberry »zum Kampf stellen« oder ihn »ohne weiteres niederschießen würde«, war zu ungereimt. Wer beeinflußte ihn? sollte es Alfred Douglas sein?
Und ich fragte ihn: »Was ist später noch vorgefallen?«
»Nichts«, erwiderte er, »vielleicht wird er sich jetzt ruhig verhalten. Bosie hat ihm einen schrecklichen Brief geschrieben. Er muß jetzt einsehen, daß er sein eigenes Fleisch und Blut schädigt, wenn er es in dieser Weise weitertreibt.«
»Wenn ich ihn richtig verstehe, wird er sich dadurch nicht zurückhalten lassen«, erwiderte ich. »Wenn du mir aber Alfred Douglas' Brief zu lesen geben würdest, wäre ich eher in der Lage, die Wirkung zu beurteilen, die er auf Queensberry ausüben wird.«
Bald darauf bekam ich den Brief zu lesen, er kennzeichnet die Charaktere der Menschen, die in dieser unsauberen Geschichte die Hauptrolle spielten, besser als meine Worte es vermögen:
Da Du meine Briefe uneröffnet zurückschickst, bin ich gezwungen, Dir eine Postkarte zu schreiben, um Dir mitzuteilen, daß ich Deine albernen Drohungen mit vollkommener Gleichgültigkeit aufnehme. Seit Deiner Aufführung in Oscar Wildes Haus habe ich es direkt darauf angelegt, mich mit ihm in vielen öffentlichen Restaurants zu zeigen, wie z. B. im Berkeley, bei Willis, im Café Royal usw., und ich werde auch künftig in allen diesen Lokalen verkehren, so oft es mir beliebt und mit wem es mir beliebt. Ich bin mündig und mein eigener Herr. Du hast mich schon mindestens zwölfmal verstoßen und mir in ganz gemeiner Weise Geld entzogen. Deshalb hast Du weder gesetzliche noch moralische Gewalt über mich. Wenn O. W. beim Hauptkriminalgericht eine Verleumdungsklage gegen Dich einreicht, wirst Du sieben Jahre Zuchthaus wegen ehrenrühriger Verleumdungen bekommen. So sehr ich Dich verabscheue, bin ich doch darauf bedacht, das aus Familienrücksichten zu verhüten. Wenn Du aber versuchen solltest, tätlich gegen mich einzuschreiten, werde ich mich mit einem geladenen Revolver, den ich immer bei mir trage, wehren. Und wenn ich Dich niederschieße, oder wenn er Dich niederschießt, werden wir vollkommen im Recht sein, da wir dann aus Notwehr gegen einen gewalttätigen und gefährlichen Raufbold handeln. Ich glaube, viele Leute würden Dich nicht vermissen, wenn Du tot wärst.
A. D.
Ich fand diesen Brief des Sohnes geradezu entsetzlich. Meine Vermutung stimmte, Oscar war sein Sprachrohr; die Drohung, ihn ohne weiteres niederzuschießen, ging von ihm aus. Damals konnte ich nicht die ganze Sachlage übersehen; ich kannte Lady Queensberry noch nicht. Und ich hätte mir auch nicht vorzustellen vermocht, was diese entzückende, feingebildete Frau mit dem auserlesenen literarischen und künstlerischen Geschmack unter ihrem Gatten gelitten hatte, – die von zartester, zitternder Feinfühligkeit und edler Hochherzigkeit beseelte Frau, die an dieses gewalttätige, rohe Tier mit den leidenschaftlichen Augen und dem kampflustigen Wesen gebunden war. Ihr Eheleben war ein Martyrium gewesen. Selbstverständlich hatten sich die Kinder bei dem Zerwürfnis ganz auf ihre Seite gestellt, und ihr besonderer Liebling, Lord Alfred Douglas, hatte sich tatsächlich vollkommen eins mit ihr gefühlt, was gewissermaßen die unnatürliche Gehässigkeit seines Briefes erklären, wenn auch niemals rechtfertigen kann. Ich ersah aus dem Briefe, daß das Zerwürfnis viel tiefer und erbitterter war, als ich glaubte, – eines jener furchtbaren Familienzerwürfnisse, in dem das Bewußtsein, daß der eine den anderen vollkommen durchschaut, den Zorn zur Raserei aufpeitscht. Ich konnte nichts anderes tun als Oscar warnen.
»Es ist die uralte Geschichte«, sagte ich. »Du stellst dich zwischen Tür und Angel und wirst dafür büßen müssen.« Aber das wollte er nicht einsehen.
»Was soll man mit einem solchen verrückten Menschen machen?« fragte er in kläglichem Ton.
»Meide ihn, wie du einen Verrückten meiden würdest, der mit dir Händel sucht; oder suche ihn zu versöhnen; etwas anderes gibt's nicht.«
Er ließ sich nicht warnen, und bald fing die Sache von neuem an. Bei der ersten Vorstellung des Lustspiels »The Importance of being Earnest« erschien Lord Queensberry mit einem großen Bündel weißer Rüben und Karotten im Theater. Was dieses Gemüse bedeuten sollte, das konnte nur dieser Mann nebst seinen Gesinnungsgenossen erraten. Ich befragte Oscar über diese Angelegenheit. Er schien verdrießlich zu sein, sich aber doch letzten Endes als Sieger zu fühlen.
»Queensberry hatte sich einen Parkettplatz im St. James-Theater bestellt, sicherlich um eine Lärmszene zu veranstalten«, sagte er. »Aber sobald ich davon erfuhr, veranlaßte ich Alick (George Alexander), ihm sein Geld zurückzuschicken. Am Abend der Erstaufführung erschien Queensberry mit einem großen Karottenbund und wurde an der Eintrittskasse abgewiesen. Als er dann die Galerie zu betreten versuchte, wurde ihm der Einlaß von der Polizei verweigert. Glaubst du nicht, daß er verrückt ist, Frank? Ich freue mich, daß er sich eine Schlappe geholt hat.«
»Er ist rasend gewalttätig«, sagte ich, »und wird weiter gegen dich vorgehen.«
»Was soll ich denn aber machen, Frank?«
»Du mußt nicht um Rat fragen, wenn du ihn nicht befolgen willst«, erwiderte ich. »Es gibt ein französisches Sprichwort, das mir immer gut gefallen hat: ›Im Krieg und in der Liebe gibt's keinen Rat.‹ Aber laß dich um Gottes willen nicht widerstandslos treiben. Halt' ein, solange du es kannst.«
Aber um einzuhalten, hätte Oscar einen Entschluß fassen und handeln müssen, und diese Willenskraft vermochte er nicht aufzubringen. Die wilden Rosse des Schicksals hatten den leichten Siegeswagen seines Glücks entführt, und kein Mensch konnte das Ende voraussehen. Es nahte mit entsetzlicher Geschwindigkeit.
Eines Abends im Februar 1895 hörte ich, daß der Marquis von Queensberry im Albemarle-Club eine beleidigende Karte für Oscar abgegeben habe. Mein Gewährsmann fügte belustigt hinzu, daß Oscar nun seinen Mann stehen müsse und wir alle sehen würden, was an ihm wäre. In dieser Bemerkung lag keine Böswilligkeit, sondern nur etwas von der Lust, die jeder Engländer an einem verzweifelten Kampf hat, und eine gewisse Neugierde auf den endgültigen Ausgang.
Kurze Zeit darauf erhielt ich einen Brief von Oscar mit der Anfrage, ob mir sein Besuch in den Nachmittagsstunden angenehm wäre. Ich blieb daheim, und gegen vier Uhr stellte er sich bei mir ein.
Zuerst hüllte er sich in die alte herrische Maske, die er in letzter Zeit zu tragen pflegte:
»Ich werde Queensberry wegen strafbarer Verleumdung verklagen, Frank«, begann er in ernstem Ton. »Er ist nichts anderes als ein wildes Tier. Meine Anwälte behaupten, daß ich den Prozeß zweifellos gewinnen werde. Aber sie sagen, daß manches, was ich geschrieben habe, bei Gericht gegen mich vorgelegt werden wird. Nun, du kennst ja alles, was ich geschrieben habe. Würdest du in deiner Eigenschaft als Redakteur der ›Fortnightly Review‹ für mich als Zeuge erscheinen und die Erklärung abgeben, daß mein Roman ›Dorian Gray‹ nicht unsittlich ist?«
»Gewiß«, erwiderte ich ohne weiteres, »ich bin sehr gern dazu bereit und könnte sogar noch mehr aussagen, – nämlich daß du zu den sehr wenigen Menschen meiner Bekanntschaft gehörst, deren Sprache in Wort und Schrift die Roheit in jeglicher Form abgeschworen hat.«
»Ach! würdest du das tun, Frank? Das wäre sehr gütig von dir«, rief er laut. »Meine Anwälte haben mich veranlaßt, dich darum zu bitten, befürchteten aber, daß du nicht gern als Zeuge erscheinen würdest. Durch deine Aussage wird der Prozeß zu unseren Gunsten entschieden werden. Es ist wirklich gut von dir.« Sein ganzes Gesicht zuckte, und er wandte sich ab, um die Tränen zu verbergen.
»Alles, was ich tun kann, Oscar, werde ich mit Vergnügen – und das weißt du wohl – nach besten Kräften tun«, sagte ich. »Aber ich möchte, daß du dir die Angelegenheit reiflich überlegst. Ein englischer Gerichtshof bietet mir keine Gewähr für ein gerechtes Verfahren, oder besser gesagt: ich bin überzeugt, daß ein englischer Gerichtshof auf künstlerischem oder sittlichem Gebiet ungefähr das schlechteste Tribunal in der ganzen zivilisierten Welt ist.«
Ungeduldig schüttelte er den Kopf.
»Ich kann nichts dagegen machen und kann es nicht ändern«, sagte er.
»Du mußt auf mich hören«, sagte ich nachdrücklich. »Du besinnst dich doch auf den Prozeß Whistler gegen Ruskin und weißt, daß Whistler ihn gewinnen mußte. Du weißt, daß Ruskin sich schmählich geirrt hatte; aber die britischen Geschworenen und die sogenannten britischen Künstler behandelten Whistler und seine herrlichen Werke mit Verachtung. Nun denke an einen ganz anderen Fall, – den Fall Belt, in dem alle Akademiker als Zeugen auftraten und nach bestem Wissen und Gewissen Belt für einen Betrüger erklärten; nichtsdestoweniger lautete der Wahrspruch der Geschworenen auf £ 5000. Und doch wurde er ein Jahr später wegen derselben Verfehlungen, die er – nach dem bei der ersten Untersuchung von den Geschworenen verkündeten Wahrspruch – nicht begangen haben sollte, zu Zuchthaus verurteilt. Ein englischer Gerichtshof eignet sich ganz gut für zwei Durchschnittsmenschen, die einen gewöhnlichen geschäftlichen Streit auszutragen haben. Das ist sein Zweck, – wenn er aber über Whistler oder die Begabung oder die Unsittlichkeit eines Künstlers ein Urteil abgeben soll, so ist das mehr verlangt, als er überhaupt zu leisten vermag. Es gibt keinen englischen Richter, dessen Meinung über eine derartige Frage die geringste Berücksichtigung verdient; und die Geschworenen sind noch tausend Jahre rückständiger als die Richter.«
»Vielleicht ist das wahr, Frank, aber ich kann nichts dagegen machen.«
Aber ich ließ mich nicht beirren:
»Vergiß nicht, daß alle echt englischen Vorurteile gegen dich sprechen, und daß diese Narren sagen werden: da ist ein Vater, der sich bemüht, seinen jungen Sohn zu schützen. Wenn er einen Fehler begangen hat, so geschah es nur im Überschwang seines löblichen Eifers. Du müßtest nachweisen können, daß du an religiösem Wahnsinn leidest, um in England gegen ihn aufkommen zukönnen.«
»Du bist schrecklich, Frank. Weißt du, Bosie Douglas verlangt von mir, daß ich die Sache auskämpfen soll, und meine Anwälte sagen mir, daß ich den Prozeß gewinnen werde.«
»Anwälte leben vom Zank. Selbstverständlich wünschen sie sich einen Fall, an dem sie Hunderte, wenn nicht Tausende von Pfunden verdienen. Außerdem lieben sie den Kampf. Sie haben den ganzen Ruhm und den ganzen Spaß davon, und du wirst die Zeche bezahlen. Laß dich um Gottes willen nicht dazu verleiten, das führt zum Wahnsinn!«
»Aber Frank«, lautete sein willenloser Einwand, »wie kann ich eine solche Beleidigung ruhig dulden? Ich muß etwas unternehmen.«
»Das ist etwas anderes«, erwiderte ich, »wir wollen auf alle Fälle erwägen, was man machen kann, aber zunächst die Gerichtshöfe ganz aus dem Spiel lassen. Vergiß nicht, daß du zum Kampf auf Leben und Tod herausgefordert worden bist; wir wollen überlegen, wie man sich zu der Herausforderung stellen muß, aber nicht nach Queensberryschen Grundsätzen kämpfen, weil Queensberry zufällig der angreifende Teil ist. Vergiß nicht, daß alle der Ansicht sein werden, daß du dich eines unsäglichen Lasters schuldig gemacht hast, wenn du unterliegst und Queensberry frei ausgeht. Gib den Gedanken an das Gerichtsverfahren auf. Was du auch sonst unternimmst, du darfst keine Verleumdungsklage gegen Queensberry einreichen. Du wirst den Prozeß mit Sicherheit verlieren; du hast nicht die bescheidenste Aussicht, und der Engländer verachtet den Besiegten – vae victis! Du mußt keinen Selbstmord begehen.«
Als es Zeit war, auseinanderzugehen, war noch nichts beschlossen.
Dieses Gespräch fand, soviel ich weiß, am Freitag oder Sonnabend statt, und am Sonntag bemühte ich mich von früh bis spät, ausfindig zu machen, was die Leute über Oscar Wilde wußten und was gegen ihn vorgebracht werden würde. Zugleich wollte ich ermitteln, wie man in einem gewöhnlichen englischen Bürgerhause über ihn dachte.
Meine Nachforschungen hatten erschreckende Ergebnisse. Alle hielten es für ausgemacht, daß Oscar Wilde das Schlimmste, was ihm jemals zugetraut worden war, tatsächlich begangen habe. Dieselben Leute, die ihn in ihrem Hause empfingen, verurteilten ihn erbarmungslos, und je mehr ich mich der Hauptquelle meiner Erkundigungen näherte, desto bestimmtere Formen nahmen die Beschuldigungen an; zu meinem Entsetzen sollten seine Vergehen bei der Amtsstelle des öffentlichen Anklägers (Public Prosecutor's Office) bekannt und in den Listen verzeichnet sein.
Alle »maßgebenden Persönlichkeiten« waren einstimmig der Meinung, daß er seinen Prozeß gegen Queensberry verlieren müsse, »kein englisches Geschworenengericht würde einen Wahrspruch zugunsten Oscar Wildes gegen irgend jemand abgeben«, so lautete die Meinung der Sachverständigen.
»Wie ungerecht!« rief ich.
Ein nachlässiges Achselzucken war die einzige Antwort, die mir zuteil wurde.
Ich kehrte an diesem Sonntag gegen Abend von meinem Erkundigungsgange heim, und unserer Verabredung entsprechend fand sich Oscar wenige Minuten später bei mir ein. So sagte ich ihm denn, daß er nach meiner durch diese Erfahrungen noch mehr gefestigten Überzeugung die Klage nicht durchführen könnte, da er den Prozeß bestimmt verlieren würde. Ohne weiter auf den Busch zu klopfen, erklärte ich ihm, daß er nach Menschenermessen keine Aussichten hätte.
»Es sind Briefe vorhanden«, sagte ich, »die unvergleichlich schlimmer sind als deine veröffentlichten Schriften, und die als Belastungsmaterial gegen dich vorgebracht werden sollen.«
»Was für Briefe meinst du, Frank?« fragte er. »Vielleicht die Wood-Briefe an Lord Alfred Douglas, von denen ich dir erzählt habe? Darüber kann ich alle erforderlichen Aufklärungen geben.«
»Für deine an Douglas geschriebenen Briefe hast du Wood Erpressungsgelder gezahlt«, erwiderte ich, »und du wirst nicht in der Lage sein, diese Tatsache zur Zufriedenheit eines Geschworenengerichts aufzuklären. Wie man sagt, besteht die Möglichkeit, daß Zeugen gegen dich vorgeladen werden. Hör' auf mich, Oscar, du hast nicht die geringsten Aussichten.«
»Um Gottes willen, Frank, sage mir, was du damit meinst«, rief er.
»Ich kann dir nur das eine sagen, daß du deinen Prozeß verlieren wirst. Ich habe mein Wort gegeben, nicht weiter darüber zu sprechen«, erwiderte ich.
Nun versuchte ich, ihn bei der Eitelkeit zu fassen, und sagte zu ihm:
»Du mußt bedenken, daß du gewissermaßen ein Fahnenträger für die künftigen Geschlechter bist. Wenn du unterliegst, wirst du allen Schriftstellern in England ihren Weg noch schwerer machen, obwohl er weiß Gott schon schwer genug ist. Du wirst die Zeiger der Uhr um fünfzig Jahre zurückstellen.«
Fast schien es, als hätte ich ihn überredet, denn er fragte mich:
»Was bleibt mir denn sonst noch übrig, Frank? Sag' mir, was du für das ratsamste hältst, und was ich tun soll.«
»Ins Ausland gehen«, erwiderte ich, »geh mit deiner Frau ins Ausland und überlaß es Queensberry und seinem Sohn, ihre eigenen elenden Zerwürfnisse allein auszufechten; sie sind einander würdig.«
»Ach, Frank«, rief er, »das kann ich doch nicht tun.«
»Beschlafe es dir«, erwiderte ich; »das will ich auch tun, dann können wir morgen oder übermorgen alles noch einmal besprechen.«
»Aber ich muß mich morgen früh entschieden haben, Frank«, sagte er nachdenklich.
»Bernard Shaw speist morgen mittag mit mir im Café Royal«, erwiderte ich. Er machte eine ungeduldige Kopfbewegung.
»Er pflegt ja meist zeitig fortzugehen«, fuhr ich fort, »und wenn du nach drei Uhr hinkommen willst, können wir uns darüber unterhalten und alles in Erwägung ziehen.«
»Kann ich Bosie mitbringen?« fragte er mich.
»Das möchte ich lieber nicht«, erwiderte ich, »aber ich überlasse es dir, das zu machen, wie du willst. Meinetwegen kann jeder hören, was ich zu sagen habe.« Mit diesen Worten trennten wir uns.
Wie es kam, weiß ich nicht, aber am nächsten Tage beim Mittagessen plauderten wir beide – Shaw und ich – so angeregt, daß wir noch bei Tisch saßen, als Oscar eintrat. Ich wollte sie miteinander bekannt machen, aber sie waren schon früher zusammengetroffen. Shaw stand auf, um sich sogleich zu entfernen, als Oscar ihm mit gewohnter Höflichkeit die Versicherung gab, daß er sich über sein Verweilen freuen würde.
»Vielleicht hast du dann nichts dagegen, Oscar, daß Shaw meinen Rat mit anhört?«
»Nein, Frank, ich habe nichts dagegen«, und er seufzte mit kläglich niedergeschlagener Miene.
Ich weiß es nicht genau und finde auch in meinen Aufzeichnungen nichts darüber vermerkt, ob Bosie Douglas mit Oscar zusammen oder ein wenig später ins Café Royal kam, – jedenfalls hörte er unser Gespräch zum größten Teil mit an. Ich setzte die Sache klipp und klar auseinander:
»Zunächst«, sagte ich, »gehen wir von der Gewißheit aus, daß du den Prozeß gegen Queensberry verlieren wirst. Du mußt ihn aufgeben, die Klage sofort fallen lassen. Aber dann kannst du nicht in England bleiben. Wahrscheinlich würde Queensberry immer von neuem über dich herfallen. Ich kenne ihn genau, er ist ein halber Barbar, Mitleid hält er für Schwäche und kennt nicht die geringste Achtung vor anderen Leuten.
»Du solltest ins Ausland gehen und – als höchsten Trumpf – deine Frau mitnehmen. Was nun den erforderlichen Vorwand anbetrifft, würde ich mich an deiner Stelle hinsetzen und an die ›Times‹ einen Brief schreiben, wie nur du ihn zu schreiben vermagst. Du müßtest besonders hervorheben, daß der Marquis von Queensberry dich beleidigt hat und du selbstverständlich gerichtliche Hilfe in Anspruch genommen, aber dich sehr bald davon überzeugt hättest, an die falsche Adresse geraten zu sein. Denn kein Geschworenengericht würde einen Wahrspruch gegen einen Vater abgeben, wenn auch sein Unrecht noch so groß wäre. Deshalb bleibe dir keine andere Wahl, als ins Ausland zu gehen und die ganze Arena mit ihren Fechthandschuhen und Seilen, mit ihren Schwämmen und Eimern Lord Queensberry zu überlassen. Du mußt erwähnen, daß du der Schöpfer schöner Kunstwerke, aber kein Ringkämpfer bist, während der Marquis von Queensberry an nichts anderem seine Freude finde als am Ringkampf. Unter diesen Umständen lehnst du es ab, mit einem Vater zu fechten.«
Oscar schien geneigt, meinem Vorschlag nachzukommen. Ich zog Shaw zu Rate, der mir recht gab, da er ebenfalls glaubte, daß der Prozeß höchstwahrscheinlich für Oscar schlecht ablaufen würde. Ein Geschworenengericht würde schwerlich einen Wahrspruch gegen einen Vater abgeben, der seinen Sohn zu schützen bemüht sei. Oscar schien sehr bewegt zu sein. Ich glaube, daß Bosie Douglas zu dieser Zeit erschien. Auf Oscars Wunsch wiederholte ich meine Argumente, und zu meiner Überraschung stand Douglas sofort auf und schrie, während sein junges Gesicht bleich, bösartig und verzerrt aussah:
»Dieser Rat beweist, daß Sie nicht Oscars Freund sind.«
»Wie meinen Sie das?« fragte ich ganz erstaunt. Er aber drehte sich um und verließ auf der Stelle den Raum. Zu meiner Überraschung erhob sich Oscar ebenfalls.
»Das ist nicht freundschaftlich von dir, Frank«, sagte er in seiner willenlosen Art, »das ist wirklich nicht freundschaftlich.«
Ich blickte ihn starr an: er plapperte Douglas' blöde Worte nach.
»Sei nicht albern«, sagte ich. Er aber wiederholte:
»Nein, Frank, das ist nicht freundschaftlich«, ging zur Tür und verschwand.
Blitzartig wurde mir wenigstens ein Teil der Wahrheit klar. Oscar hatte Douglas niemals verführt, sondern Lord Alfred Douglas trieb Oscar dahin, wo er ihn hinhaben wollte.
Nun wandte ich mich an Shaw:
»Habe ich im Eifer der Beweisführung irgend etwas gesagt, wodurch Oscar oder Douglas sich beleidigt fühlen konnte?«
»Nein«, sagte Shaw, »nicht ein einziges Wort: Sie haben sich nichts vorzuwerfen
Es freut mich sehr, daß Bernard Shaw unlängst seine Erinnerungen an dieses Gespräch in Druck gegeben hat. Die oben angeführte Schilderung wurde im Jahre 1911 gedruckt, wenn auch nicht veröffentlicht, und im Jahre 1914 veröffentlichte Shaw seine Eindrücke über den Verlauf dieser Unterredung. Die Leser können sich durch einen Vergleich überzeugen, wie weit meine Gesamterzählung glaubwürdig ist. In der Einleitung zu seinem kleinen Theaterstück »The Dark Lady of the Sonnets« schreibt Shaw:
Aber er (Harris) hat Verständnis für den Geschmack und den Wert des Humors. Er war einer der wenigen Literaten, die Oscar Wilde wirklich zu würdigen wußten, obwohl er erst leidenschaftlich für Oscar Partei ergriff, als die Welt ihm in seinem Unglück untreu wurde. Ich war selbst bei einer merkwürdigen Zusammenkunft zwischen Oscar Wilde und Harris zugegen, als dieser kurz vor dem Queensberry-Prozeß seinem Freunde alles das, was unmittelbar nachher geschah, mit wunderbarer Genauigkeit prophezeite und ihm riet, außer Landes zu gehen. Meines Wissens erlebte ich es zum erstenmal, daß sich eine derartige Voraussage als wahr erwies. Wilde gab sich zwar keiner Täuschung über die Torheit dieses ganz selbstlosen Rechtstreits hin, den er nur auf Überreden eingeleitet hätte. Dennoch schätzte er die Macht der gesellschaftlichen Rache, die er gegen sich selbst entfesselte, sehr falsch ein. Denn er glaubte, ihr Einhalt gebieten zu können, wenn er den Herausgeber der ›Saturday Review‹ (das war Harris zur damaligen Zeit) zu der Erklärung veranlaßte, daß seines Erachtens der Roman ›Dorian Gray‹ ein höchst sittliches Buch sei, was es sicherlich auch ist. Als Harris ihm die Wahrheit voraussagte, warf Wilde ihm vor, daß er ein kleinmütiger Freund sei, der ihn in der Stunde der Not im Stich ließ, und ging im Zorn aus dem Café. Durch seine fast krankhafte Mitleidsfähigkeit wurde Harris davor bewahrt, auch nur den leisesten Groll zu empfinden oder zu bekunden. Und bald wurde Wilde durch die Ereignisse davon überführt, daß jener Rat, den Prozeß einzuleiten, ein Wahnsinn gewesen war, und daß Harris die Verhältnisse vollkommen richtig ermessen hatte..«
Als ich allein war und darüber nachdachte, in welcher Absicht Lord Alfred Douglas Oscar zum Kampf gegen seinen Vater aufhetzte, fand ich des Rätsels Lösung nicht.
Ich war über sein bleiches, erbittertes Gesicht noch mehr verwundert und konnte diesen Eindruck lange Zeit nicht loswerden. Während ich über diese Betrachtungen grübelte, kam mir plötzlich der Gedanke an eine gewisse Ähnlichkeit, eine Verwandtschaft im Ausdruck und in der Wesensart zwischen Lord Alfred Douglas und seinem unglücklichen Vater. Es wollte mir nicht aus dem Sinn gehen – dieses junge, vor Zorn erblaßte Gesicht mit den wilden, haßerfüllten Augen, und auch seine gellende Stimme glich Queensberrys Organ.