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9

Das Ufer des Sees, so breit und lang er war, glich einem flachen Gebirge aus Menschenleibern, und dieses Gebirge wiederum schien aus lauter Vulkanen zu bestehen, die sich kurz vor der Eruption befanden.

Der 24. Juni wuchs sich nicht nur zu einem denkwürdigen Tag in der Geschichte der Weltraumforschung aus – er bedeutete ebenso eine Sensation in der Statistik der Verkehrsmittel und der Rote-Kreuz-Ambulanzen, der Buchmacher und der Feuerwehr, der Eisverkäufer und der Stuhlverleiher, der Photographen und der Kameramänner, der hysterischen Frauen, der Zeitungsverkäufer, der Taschendiebe, der Musikkapellen, der Tobsuchtsanfälle, der Polizei, der schreienden Lautsprecher, der verlorenen Kinder, der heulenden Hunde, des Staubes, der Grobheiten, der guten und der schlechten Witze, der Notverordnungen, der Ratlosigkeiten, der Geldumsätze, der Begeisterungsfähigkeit, der menschlichen Geduld und der Gauner.

Dor zwei Tagen hatte in der »Blauen Sau« eine aus allen Gegenden der Erde sehr gut beschickte Versammlung der Spezialisten für Wohnungseinbrüche stattgefunden. Man sprach dem 24. Juni ein Vertrauensvotum aus, und das Ergebnis, getragen von der ausgezeichneten Disziplin aller Beteiligten, übertraf alle Berechnungen. Es brach den Weltrekord, den bis dahin die Hochzeit des Präsidenten der Vereinigten Staaten gehalten hatte.

Die Verkehrspolizei befand sich bereits um 12 Uhr mittags in einer Art von Trancezustand. Es war der heißeste Tag des bisherigen Jahres. Und die jüngeren Beamten, noch nicht durch Erfahrung kühlweise gemacht, kämpften mit ungeheuerlicher Selbstzucht gegen eine Abart von Tropenkoller, der sie angesichts ihrer Hilflosigkeit vor dieser vulkanischen Masse zwangläufig zu erliegen drohten. Denn obwohl an mehr als vierhundert Stellen riesige Schilder angebracht waren, auf denen in allen lebenden Sprachen der Menschheit geschrieben stand, daß der Start des Weltraumschiffes 21 Uhr 30 stattfinden würde – obwohl unzählige Lautsprecher in Abständen von zehn Minuten mit unerschütterlichem Gleichmut dasselbe verkündeten, lebten die Hunderttausende, die um den See versammelt waren, doch ununterbrochen in der Angstpsychose, den großen Augenblick zu versäumen, und der lächerlichste Anlaß – ein Ruf, ein Hüteschwenken, das plötzliche Aufwehen einer Fahne – genügte, das gesamte Menschengebirge rund um den See in kochende Lava zu verwandeln.

Diese Psychose wuchs mit dem Quadrat der Entfernung von der Halle der Versuchsstation III, die wie ein niedriges, aber unerhört breites und machtvoll auf vorgestreckten Pranken gelagertes Tier sich unweit des Sees in den Sand duckte und mit geschlossenen Toren zu schlafen schien. Die Menschen, die diesen Schlaf mit mißtrauischer Wachsamkeit beobachten konnten – und daß er nur Verstellung war, lag auf der Hand –, bewahrten noch am ersten (schon, weil sie auf den Tausendmarkplätzen saßen) einen, wenn auch fadenscheinigen, Rest von Gelassenheit. Aber die weniger Glücklichen, die nur eben noch das schräg ansteigende Ende der Gleitbahn als schwarzen Doppelstrich gegen den glasklaren Himmel wahrnehmen konnten, und die ganz Unglücklichen, die sich alles Wissens- und Sehenswerte von bevorzugteren Vordermännern einholen mußten, die verloren mit dem Fortschreiten des Tages mehr und mehr die Nerven und bildeten ununterbrochen neue kleine Brandherde in einer mit Explosivstoffen geschwängerten Luft.

Das Wasser des Sees war so durchsichtig wie eine Kristallscheibe, und von Sonnenfunken durchzuckt bis auf den dämmernden Grund. Schwalben flirrten tief darüber hin, und wenn ihre geschwinden Leiber für den Bruchteil einer Sekunde das Wasser berührten, schossen Goldblitze auf, als hätte ein Schnitt die Hülle eines Hortes aufgeschlitzt.

Über dem See und seiner brausenden Belagerung zogen zahllose Flugzeuge müßige Kreise im Blau, das allmählich an den Rändern verblaßte, während die Höhe der unermeßlichen Kuppel des Himmels sich tiefer färbte und höher zu wölben schien. Denn es wollte Abend werden über dem See und über der Erde.

In der Flugzeughalle der Versuchsstation III brannten sämtliche Fünftausendkerzenlampen mit beißendem Licht. Die wenigen Menschen, die sich in ihm bewegten, wirkten neben den Mammutmassen des Flugzeug-Doppelkörpers wie Fliegen, die an den gigantischen Formen eines noch ruhenden Riesen sinnlos herumkrochen. Aber sie krochen nicht sinnlos. Zum tausendundersten Male prüfte Helius selbst in Begleitung von Windegger und dem Kommandanten des Mutterflugzeugs, das dem Weltraumschiff Anschwung und Auslauf geben sollte, jede winzige Kleinigkeit, jede Nut und jeden Niet, der im Bruch oder Versagen zur Katastrophe führen konnte. Die Prüfung erfolgte in tiefster Schweigsamkeit. Zu besprechen gab es nichts mehr – das war in den hinter ihnen liegenden Wochen bis auf den letzten Rest eines Quergedankens ausgeschöpft und erledigt worden. Und dennoch sah Helius aus, als läge in seinem sehr verschlossenen Munde noch ein Wort bereit, daß um Gottes willen gesprochen werden mußte, bevor die Fahrt zwischen Leben und Tod begann.

In einem Winkel der Halle hockte Grotjan auf einem alten, abmontierten Propeller. Es war ein ungemütlicher Platz; aber er hätte sich auf eine Säge gesetzt, ohne es zu merken. Er sah wie ein Verdammter der Hölle aus, der nebenbei mit einer Magengrippe und mit 40 Grad Fieber zu kämpfen hat. Er drehte ein armes Stück Holz in seinen Schlosserhänden zu Bast und merkte es nicht, und immer folgten seine verzweifelten Augen dem Manne im Taucheranzug ohne Helm, der für ihn Herr und Gott war, und der eine Straße betrat, auf der ihm Grotjan nicht zu folgen vermochte.

Sooft Helius auf seinem Kontrollgang sich den Augen Grotjans entzog, fraßen sich dessen Blicke an zwei anderen Dingen fest: an dem Ungeheuer selbst, das ihm den Herrn entführen würde, und an der Gruppe von Menschen, die ihn begleiten durfte.

Da war das Mädchen. Da war der alte Mann. Da war der Dritte, der Fremde, der Eindringling …

Der alte Manfeldt bot einen erstaunlichen Anblick in seinem Raumschiffhabit, das wie ein Spiegel gleißte und bei der Ruhelosigkeit seines Trägers unablässig funkelnde Reflexbündel nach allen Seiten schoß. Ununterbrochen flog sein Blick wie ein hungriger Raubvogel auf die riesige Uhr los, die in die Kopfseite der Halle eingelassen war. Ununterbrochen schwatzte er vor sich hin. Aber nur Turner, sonst außerordentlich schweigsam, gab ihm ab und zu eine höfliche Antwort, welche der Alte mit Knurren quittierte; wodurch er augenscheinlich festzustellen wünschte, daß seine Bemerkungen keineswegs für Herrn Turner bestimmt gewesen waren.

Das Mädchen war still wie ein Bild. Es stand als silberner Schimmer, als ein groß und weiß brennendes Licht, unbeweglich, einer Traumwandlerin gleichend, an die Leiter gelehnt, über die sie das Weltraumschiff besteigen würde. Ihr Gesicht war so hell und so durchsichtig, als sei es auch aus Glas und Leichtmetall geschaffen. Sie schien das Geschwätz des Alten nicht zu hören, und ganz gewiß sah sie nichts außer dem schwarzweißen Wunder des Weltraumschiffs, das auf sie wartete.

Die Doppeltüren, die es bei seiner Abfahrt hermetisch von der Außenwelt abschließen würden, standen zum Teil noch offen. Die kleinen Kreiselschwungräder, mit deren Hilfe allein es im luftleeren Raum zu steuern war, schienen, geladen mit Energien, auf den Augenblick zu warten, da man sie zum Sausen bringen würde. Der Führer- und Beobachterraum, der die stumpfe Spitze der Mondfahrtrakete einnahm, barg eine sinnverwirrende Fülle von Instrumenten, Hohlspiegeln, Hebeln, Haltegriffen. Der Passagierraum dahinter, sehr eng geworden durch die ursprünglich nicht vorgesehene und darum auch nicht berechnete Teilnahme von fünf statt vier Personen, war eigentlich nur ein Labyrinth von Hängematten und Leitstricken; außerdem war eine winzige Kammer, die nichts enthielt als eine Liegestatt, doch mit fester Tür verschlossen werden konnte, ausschließlich für Friede bestimmt; sie hatte ein kleines Fenster und lag an der Sonnenseite, was tröstlich zu denken war.

Hinter dem Passagierraum, bereits hermetisch verschlossen, befand sich der Raum, der sämtliche Hilfsmittel barg, mit deren Kraft nicht nur die Reise zum Monde und der mögliche Aufenthalt in der neuzuerschließenden Welt, sondern vor allem auch die Rückkehr zur Erde bewerkstelligt werden sollte.

Und daran fügte sich der mächtige Raum, der für Friede noch immer ein Anlaß zum Schaudern war: das Gebiet der geheimnisvollen Windegger-Raketen.

Dies war der einzige Punkt, wo ihre Nerven versagten: bei dem Gedanken an die ungeheuerlichen brüllenden Mächte, denen das Weltraumschiff mit einem einzigen Druck auf den Zündungshebel ausgeliefert sein würde. Sie kannte die Stoffe nicht, die sich da mit dem Getöse von tausend losbrechenden Höllen vermischen mußten, um dem Weltraumschiff den Ansturm nach oben zu geben. Sie wußte sie nicht einmal mit Namen zu nennen. Sie waren ganz neu erschaffen, aus glühenden Tagen und Nächten der Laboratorien zur Erde entbunden. Sie waren erprobt worden, ja, und sie hatten gehorcht. Aber würden sie immer gehorchen? Glichen sie nicht einem neuen Geschlecht von unsichtbaren Riesen, die ihre Kraft und die armselige Schwäche des Menschen nur noch nicht kannten – aber einmal, ein einziges Mal mit beiden vertraut gemacht, sich losreißen und die Erde und ihre Geschöpfe zertrampeln würden, zerfetzen, in Atome auflösen …

Mit einer kleinen, fast schüchternen Gebärde wandte Friede sich ab von Manfeldt und Turner und legte die schönen Hände auf das tiefschwarz gefärbte Metall der Seite, die das Weltraumschiff auf seiner Reise zum Mond der Sonne zukehren würde.

›Geschöpf meines Liebsten!‹ dachte sie. ›Geschöpf einer großen Idee! Wir wollen ans Ziel kommen, nicht wahr? … Es soll kein Mensch und es sollst auch du nicht zugrunde gehen, nicht wahr? …‹

Die Augen von Grotjan rissen das Weltraumschiff mit tobsüchtiger Gewalt auseinander. Er haßte es. Er haßte es mit dem rasenden Haß eines Tieres, das sich von seinen viel zahlreicheren und viel mächtigeren Feinden rettungslos in die Enge getrieben sieht. Und im nächsten Augenblick wieder liebte er es – nein, das war wohl nicht Liebe, es war beschwörende Angst, die ihn stumm und verzweifelt betteln ließ: Sei brav! Halte durch! Komm ans Ziel! Und vor allem – komm wieder zurück!

Er warf das unförmliche Gebilde, das er noch immer in seinen Fäusten drehte und das einmal ein Stück Holz gewesen war, mit einem Fluch und Seufzer zugleich beiseite und biß in die Knöchel seiner gefalteten Hände.

In diesem Augenblick durchdröhnte ein Gongschlag die riesige Halle sanft und unwiderstehlich.

Das hieß: Die Sonne ist unter dem Horizont verschwunden.

So dicht die Tore der Halle auch schlossen – der Gongschlag war doch nach außen gedrungen und weckte ein Brausen unter den Menschen, die der Halle am nächsten waren. Es klang wie das Rauschen von Wasser, das einen Staudamm durchbricht.

Helius und Windegger kehrten von ihrem letzten Kontrollgang zu Friede und den beiden anderen zurück. Windegger war sehr ruhig. Sein schönes, immer zornmütiges Erzengelgesicht trug einen fremden Ausdruck von starker Klarheit in den Augen. Aber Helius erschien so blaß, daß es wundernehmen mußte, wie dieser Mann nicht nur die Fähigkeit, sich aufrecht zu halten, besaß, sondern auch noch die Kraft aufbrachte, zu reden und zu handeln.

Seine Augen gingen einen Herzschlag lang über Friedes ihm zugewandte Augen.

Aber das sind ja gar keine Augen! dachte das Mädchen. Das sind ja zwei Wunden, die nach innen bluten!

Der Kommandant des Mutterflugzeugs begab sich in seine Kabine. Helius wischte sich mit dem Taschentuch über die Stirn. Er setzte zum Reden an, aber es glückte ihm erst beim dritten Male, die Worte hervorzubringen.

»Ich muß euch«, sagte er, »in dieser Stunde, die vor der Fahrt in den Weltraum die letzte ist, noch einmal bitten, mich zu euch sprechen zu lassen und euch noch einmal bitten, meine Worte als das zu nehmen, was sie wirklich sind: als eine letzte und eindringlichste Warnung für Sie, Manfeldt, und für Herrn Turner – Windegger nehme ich aus – und als eine letzte und eindringlichste Bitte an Sie, Friede: Geben Sie Ihre Teilnahme an der Mondfahrt auf!«

Er machte eine Pause, als warte er auf eine Entgegnung, aber die vier Menschen, die ihn umstanden, blieben wie auf Verabredung stumm. Nur über Friedes Gesicht ging ein kleines, perlmutternes Lächeln, das sich im Schimmer ihrer Augen verlor. Aber Helius hatte es doch gesehen, und es schien ihm das noch zu Sagende nicht leichter zu machen.

»Ich bitte euch,« fuhr er fort, »euch nicht durch die kleine menschliche Furcht vor einem Gelächter bestimmen zu lassen, etwas noch zwischen dem elften und zwölften Glockenschlage aufzugeben, dessen ungeheuerliche Tragweite kein einziger lebender Mensch zu ermessen vermag. Ich gehe so weit, zu sagen – Friede, Sie würden mir die kaum erträgliche Last der Verantwortung um die Hälfte abnehmen, wenn Sie auf meine inbrün– auf meine inständige Bitte hören wollten! Bleiben Sie hier! Fahren Sie nicht mit uns, Friede!«

»Bitten Sie mich nicht, Helius!« sagte das Mädchen leise.

Er holte zweimal, dreimal Atem wie ein Kranker. Seine Augen, die es bisher vermieden hatten, den ihren zu begegnen, sahen sie an. Er wiederholte seine Bitte nicht, aber sie stand in seinen ihrer Machtlosigkeit vollauf bewußten Augen.

»Es ist zwecklos, mich zu bitten, Helius«, sagte das Mädchen und schüttelte das schöne, stürmische Haar. »Ich bin zu dieser Fahrt so fest entschlossen, wie ich noch niemals in meinem Leben zu etwas entschlossen war. Lassen Sie mich und versäumen Sie Ihre Zeit nicht …«

»Es gibt nichts mehr, das zu versäumen wäre«, antwortete Helius tonlos. »Ich habe nichts weiter zu tun, als noch einmal zu wiederholen, was ihr alle schon wißt. So gut oder schlecht uns die immer noch mangelhaften Erfahrungen mit der Weltraumschifffahrt gezeigt haben, gibt es für uns die erste Todesgefahr in den ersten Minuten – den ersten acht Minuten nach dem Start des uns tragenden Mutterflugzeugs. Wie weit wir, das heißt, jeder einzelne von uns, dem Andruck bis zur erreichten Geschwindigkeit von 11 200 Sekundenmetern gewachsen sein werden, kann niemand voraussagen. Ich hoffe, von mir sagen zu dürfen, daß ich nach sechs Versuchen, von denen der zweite mir fast das Leben gekostet hat, für mich so weit einstehen kann, daß ich die Herrschaft über den Gashebel in der entscheidenden Sekunde zwischen Leben und Sterben behalten werde, um die tödliche Übersteigerung der Geschwindigkeit, die uns in die Unendlichkeit schleudern würde und nicht die entfernteste Möglichkeit zur Rückkehr böte, rechtzeitig abzudrosseln. Aber ich habe, um die Sicherheit für euer Leben, das ihr in meine Hände gelegt habt, nach Möglichkeit zu erhöhen, Windegger gebeten, neben mir auszuharren und mit seiner Kraft mir auszuhelfen, wenn es not tun sollte …«

Er sah Windegger an, der kurz und ruhig nickte.

»Außer ihm«, sagte Helius und blickte über die anderen fort, »ist niemand berechtigt, den Führerraum zu betreten. Ich bitte jeden einzelnen, sich diese Worte wie eines der Zehn Gebote einzuprägen. Kein Mensch außer mir und Windegger ist berechtigt, den Führerraum zu betreten. Ich würde den Versuch dazu, von welcher Seite er auch käme, als eine feindselige Handlung auffassen müssen, die das Gelingen unseres Unternehmens aufs schwerste gefährden könnte, und würde mit alleräußerster Rücksichtslosigkeit diesen Versuch nicht nur zu verhindern wissen, sondern dann auch dafür Sorge tragen, daß der Betreffende nicht in der Lage wäre, ihn zu wiederholen. – Ist das klar?«

»Vollkommen«, antworteten alle außer Walt Turner. Er lächelte Helius ins Gesicht. Seine vertrackten Mestizenzüge hatten mehr als je einen olivigen Ton und schienen ein rasch verdunstendes Öl abzusondern. Im übrigen war das Lächeln um seinen Mund wie festgeleimt; es schien nicht ihm zu gehören, sondern eine schlechtsitzende Maske zu sein, der eine besondere, aber nicht erfüllbare Mission anvertraut worden war.

»Ich glaube nicht,« fuhr Helius fort, »daß sonst noch etwas zu sagen übriggeblieben wäre. Unsere Erklärungen für die Vertreter der Presse haben wir lückenlos abgegeben. Es ist nicht zu vermeiden, daß unsere Besteigung des Weltraumschiffs für die unwiderrufliche Fahrt von dem Maschinengewehrfeuer der Photographen und Filmoperateure aufgenommen wird. Ich habe mich damit einverstanden erklärt, da ich mich der Ansicht, es handle sich hier um einen welthistorischen Augenblick, nicht ganz verschließen konnte. Bevor ich aber den betreffenden Herren die Erlaubnis zum Betreten der Halle und Aufstellen ihrer Apparate gebe, frage ich euch, ob ihr von irgendeinem Menschen noch Abschied zu nehmen habt … Denn dieses Schauspiel möchte ich nicht gern preisgeben, nicht wahr …«

»Es fügt sich seltsam,« sagte Hans Windegger laut, »daß hier fünf Menschen zusammenstehen, die von keiner fremden oder verwandten Seele Abschied zu nehmen wünschen … Was mich und Friede betrifft – an uns hängt kein Schmerz als niederziehender Ballast, wenn wir die Erde verlassen haben …«

»Mich brauchen Sie wohl nicht zu fragen«, meinte Professor Manfeldt mit einer Stimme, die sich durch Erinnerungen durchzutasten schien. »Was hinter mir bleibt, ist höchstens einen Fußtritt noch wert und keinen Händedruck …«

»Und Sie, Herr Turner?«

»Ich habe Ihnen erzählt, Herr Helius, wie mein Vater starb … Ich lernte ihn übrigens erst in der Stunde seines Todes kennen. Seitdem habe ich es ängstlich vermieden, mich in irgendeiner Form mit Menschen zu verketten … es sei denn, um Geschäfte mit ihnen zu machen …«

»Oder Gaunereien …« murmelte Hans Windegger deutlich.

»Ist das nicht dasselbe?« fragte Herr Turner sanft.

Wolf Helius kam der Antwort Windeggers zuvor.

»Was mich betrifft,« sagte er, »so bleibt mir nur noch übrig, Grotjan die Hand zu drücken. Ich hoffe, er macht es kurz, wenn auch nicht schmerzlos. – Übrigens ist ein Berg von Glückwunschtelegrammen aus allen Teilen der Windrose eingelaufen. Ich habe sie, euer Einverständnis voraussetzend, der Presse zur Benutzung überlassen. Windegger, ich bitte dich noch einmal, zu kontrollieren, ob die Telephonverbindung zwischen unserem Führerraum und der Kommandantenkabine des Flugzeugs einwandfrei intakt ist. Ein Überhören meines Signals zum Loswurf könnte unsere Fahrt schon zu Beginn mit einer Katastrophe enden lassen.«

Windegger machte sich schweigend daran, der Weisung nachzukommen.

Wolf Helius sprang auf den Boden der Halle. Als habe er damit bei ihm eine haltende Klammer ausgelöst, schoß Grotjan in gleicher Sekunde von seinem Propellersitz in die Höhe.

Nun war es so weit …

Ja, Hölle und Teufel, nun war es wirklich so weit.

Er sah seinen Herrn auf sich zukommen, und er wußte, daß es höflich gewesen wäre, ihm entgegenzugehen. Aber er konnte es nicht. Er hatte Knie aus Watte. Und wo ihm die Füße sitzen sollten, saßen zwei mangelhaft befestigte Bleiklötze und schlappten ihm an den Knöcheln.

Er mühte sich, stramm zu stehen. Das war man dem Herrn ja schuldig. Aber, himmlischer Vater! – wenn er nur rasch kam … Sonst war's mit der strammen Haltung so sicher Essig, wie er nicht würde reden können.

Ja, da stand er nun vor ihm. So erschreckend fremd in dem metallischen Ding von Taucheranzug, der blitzblank poliert war. Es hieß, das müsse so sein, um in der unmeßbaren Kälte da jenseits der Erde Sonnenwärme zu speichern … Was verstand er, Grotjan, davon … Er hätte ihn gern putzen wollen, diesen befremdlichen Anzug, alle Tage und, wenn es nicht anders ging, sogar für Herrn Turner … wenn er nur bei seinem Herrn hätte bleiben dürfen …

»Auf Wiedersehen, Grotjan!« sagte Wolf Helius. Er lächelte gut und nahm sich selber die willenlose Hand, die Holz zu Bast zu drehen verstand und jetzt wie ein Tier in der Falle zuckte. »Grüße die gute Hippolt noch einmal von mir und sage ihr, sie soll sich die Augen nicht ganz aus dem Kopfe weinen, damit sie in der Nacht, wenn wir wieder herunterkommen vom Mond zu der alten Erde, unsern Anflug auch richtig beobachten kann – verstanden?«

Aus Grotjans Kehle kam ein zerquetschter Laut, der mit einigem guten Willen als ein Ja gedeutet werden konnte. Aber schon dieser armselige Laut war stark genug, den letzten Halt in ihm zu zermalmen.

Mit beiden Händen nach der Hand von Helius packend, gab er laut weinend dem Schluchzen seiner so treuen und so einfältigen Seele nach, und was er stammeln wollte, ertrank in der Salzflut, die ihm über die Backen in den Mund hineinlief.

»Na, Grotjan,« sagte Helius und fühlte sein Herz in einer tiefen Dankbarkeit aufbrennen, daß er fast hätte lachen können, »nimm dich so weit zusammen, daß du mir wenigstens Auf Wiedersehen! sagen kannst. Ich will's als gute Vorbedeutung mit mir nehmen. Ich brauch' sie, Grotjan … Ich hab' sie nötig, Grotjan … Ich will an dein Auf Wiedersehen! denken, wenn's hart auf hart geht, und es wird mir gut tun … Wir wollen noch manche Fahrt zusammen machen. Siehst du, ich schwatze jetzt, nur, um dir Zeit zu geben, daß du Auf Wiedersehen! sagen kannst. Nun … willst du nicht?«

Aber es wurde kein »Auf Wiedersehen!« daraus. Es blieben nur immer zwei unlösbare Schlosserhände, die sich um die Hand von Helius klammerten. Die freilich waren beredt, und die Augen waren es auch.

Helius befreite sich endlich.

»Geh nun!« sagte er gut. »Mach' dich frei von dem Rummel, der jetzt hier losgeht, und pflanze dich draußen neben einem der Scheinwerfer auf, die die Gleitbahn beleuchten werden. Da hast du den Start am besten vor Augen und kannst uns noch einen Gruß zuwinken und uns dreimal nachspucken, wenn du willst … Und ja – daß ich's ja nicht vergesse: Grüße Gustav von mir und sage ihm, ich sei sehr empört über seinen Wortbruch gewesen! Denn ich hätte mich fest darauf verlassen, daß er mit mir zum Monde fahren würde, wie es ja eigentlich zwischen uns beiden abgemacht war … Wirst du ihm das ausrichten?«

»Zuverlässig, Herr Helius!« antwortete Grotjan mit seiner verklemmten Stimme.

»Schön. Also auf Wiedersehen, Grotjan!«

»Auf Wiedersehen, Herr Helius!«

Nun tappte er halbblind hinaus durch die kleine Seitentür und schnüffelte ärgerlich und mit blinzelnden Augen dem Klumpen Menschen entgegen, der davor stand und nach Einlaß fieberte: die schußbereite Legion der Nahrungbringer für die menschliche Neugier.

Er drückte sich weg von ihnen. Er sah den Himmel von allem Licht verlassen und sah die Kugelketten der Bogenlampen rund um den See und sah sie sich spiegeln im dunklen Wasser des Sees und sah die Gleitbahn, den ungeheuren Wegweiser, der doppellinig, schräg sich anhebend, Richtung und Grad der Steigung für das von Raketen mit Explosivstoff getriebene Mutterflugzeug bestimmen sollte.

Der erste Scheinwerfer flammte auf und schwang seinen mächtigen Kegel herum und lag als leise in sich selber zitterndes Kreislicht auf der mennigroten Kilometermarkung, die nahe am Ende die Gleitbahn zu spalten schien.

Bis dahin, das wußte auch Grotjan, mußte das Flugzeug schon eine Geschwindigkeit haben, die vor ihm noch kein von Menschen geschaffenes Beförderungsmittel erreicht hatte, an der gemessen, jeder Weltrekord von Auto und Flugzeug zur Lächerlichkeit herabsank. Und dann – kam das Wettrasen mit dem Tode, das Unvorstellbare – das, was schon beim Versuch, es auszudenken, alle Rippen im Brustkasten knirschen machte.

11 200 Meter in einer Sekunde …

Menschen hatten es ausgerechnet. Ob Menschen es aushalten würden?

Wie immer, wenn er bei diesem Punkte des Denkens angelangt war, blieb Grotjan stehen, als sei er damit auch körperlich vor einem Hindernis gelandet, das einfach nicht zu nehmen war.

11 200 Meter in der Sekunde …

Er hatte einen hilflosen Blick in den Augen. Er war nicht fromm. Er wußte nicht mehr so recht, wie man sich mit dem Gott, an den so viele und ganz vernünftige Menschen glaubten, in solchen Fällen auseinandersetzen könnte. Auf keinen Fall konnte es schaden, aus einer verstörten Seele heraus zu seufzen: Lieber Gott, steh ihnen bei!

Er hob den Kopf, um nach alter Gewohnheit aus Kindertagen den Gott, den er anrief, droben im Himmel zu suchen; aber da hörte er plötzlich einen Schrei.

Eine hohe, hoch über den Massen aufstrahlende Stimme schrie hell und klingend wie eine Silberfanfare:

»Der Mond –! Der Mond –!«

Ja … Und da kam er hervor. Groß, übergroß, rötlich schimmernd, vertraut und fremd tauchte er über dem Kamm eines Hügels auf, schien für Sekundendauer in den Wipfeln des hügelkrönenden Waldes zu ruhen, löste sich sanft und schwamm sehr sachte empor.

Und die Stimmen der Hunderttausende schrien in einer jähen, erschütternden Ekstase – froh, sich endlich in irgendeiner Form entladen zu können –, als würfe einer dem andern einen goldenen Ball zu:

»Der Mond –! Der Mond –!«

Es war, als hätte ihn keiner bis heute gesehen. Es war, als sei er heute aus seiner Himmelstiefe zum ersten Male hervorgetaucht – aller Geheimnisse voll, aller Rätsel voll, wie eine Gottheit schön, wie eine Gottheit anbetungswürdig. Es hätte nur eines sehr geringen Anstoßes bedurft – und Hunderttausende von Menschen hätten sich trunken auf ihre Knie geworfen, um den Mond mit schluchzender Inbrunst anzubeten.

Und wie er höher stieg, zog er einen silbernen Steg auf dem Wasser des Sees bis an das jenseitige Ufer, wo die Halle mit ihren geschlossenen Toren lag. Er schien an diese geschlossenen Tore zu klopfen – mit einer magischen Hand, denn sie taten sich vor ihm auf.

Alle Scheinwerfer rings um die Halle entflammten sich plötzlich. Ihr Licht war blauweiß und durchdringend kalt wie Eis. In ihrem Lichte erschien, aus der Tiefe der Halle geschoben, langsam ein schwarz-weißer, bebender Koloß, das Flugzeug, das zwischen seinen zwei riesigen Leibern das Weltraumschiff trug.

Da verstummten die Menschen plötzlich.

Es war, trotz allem, als habe bis jetzt noch keiner ernstlich geglaubt, daß sich das Ungeheure wirklich ereignen würde. Der halsabschnürende Ernst des Wahrheitwerdens griff jedem nach der Kehle. Die Luft um die Halle her, über See und Menschengebirgen, schien stillzustehen, selber den Atem anzuhalten.

Dann fing das Flüstern an:

»Wo sind sie – die Menschen?«

Man sah wohl Gestalten undeutlich sich regen hinter den Glasscheiben der Fenster, aber es schien zwischen ihnen und den Menschen außerhalb des Weltraumschiffes schon keine noch so schwache Gemeinschaft mehr zu geben. Sie waren schon Wesen nicht mehr von dieser Welt.

Die Photographen und Kameraleute, die aus der geöffneten Halle nachgequollen waren, umschwirrten das Behemoth-Fahrzeug wie Mückenschwärme. Sie waren alle sehr weiß im Gesicht und hatten die Augen von Fieberkranken. Der Schweiß rann ihnen in Strömen herab. Manch einer mochte nicht weit von einem Weinkrampf sein.

Der älteste von ihnen, ein untersetzter Mensch mit einem enormen Schädel und scheinbar soviel Augen, wie ein Meerpolyp Fangarme hat, war auf das Eisengestell eines Scheinwerfers geklettert und verteidigte seinen Platz gegen den fluchenden Beleuchter mit stummen, erbitterten Fußtritten, ohne zu weichen.

Noch immer Warten … Noch immer, noch immer Warten …

Worauf wartete man noch, da alle Nerven schon bis zum Zerreißen gespannt waren? … Und mit einem Schlage dröhnte aus sämtlichen Lautsprechern das aufgespeicherte Wort:

»Aaaachch – – tung – –!!!«

Das grelle Aufweinen einer Frau zerfetzte die ihm folgende, unbeschreibliche Stille.

Ein Mann im Fliegeranzug stand regungslos wie ein Steinblock mitten im blauweißen Scheinwerferkegel. Er hatte die Uhr in der Hand. Der Steinblock geriet ins Zittern. Einen Augenblick lang schien es, als sollte dieser Mann, beauftragt, das Zeichen zum Start zu geben, die Uhr wegschleudernd, mit an den Kopf geschlagenen Händen zusammenbrechen oder davonstürzen, irgendwohin, nur weg von hier und von der Verantwortung. Aber er hob nur den Arm, hielt ihn hoch – und riß ihn wieder nach unten – –

Das Flugzeug begann zu beben. Und jäh in die Nacht hinein brüllte das Untier und heulte – hundert Sirenen von Ozeanriesen gemeinsam hätten nicht solch ein Heulen hervorgebracht. Krachender Schlag, als platze die Erde auf. Feuer schoß meterlang lohend aus zwanzig entflammten Düsen. Brüllendes Feuer. Schreiendes, heulendes Feuer. Das Flugzeug begann zu gleiten, zu rennen, zu rasen, stürmte, laut brüllende Urgewalt, die Steigung hinauf –

Wie eine Woge erhob sich das Menschengebirge rings um den See –

Und brauste wie ein Sturm in den Bergen und Sturm auf dem Meere –

Wortloses Schreien –

Und eine Million von Händen emporgeworfen –

Und Hunderttausende von Gesichtern ekstatisch in Schreien und Schluchzen dem großen Erlebnis zugekehrt …

Mit dem Sprung eines übergewaltigen, herrlichen, siegenden Tieres ließ das Flugzeug, das die Bürde des Weltraumschiffs auf seinem Rücken trug, aus allen seinen Düsen Feuer verheulend, die Gleitbahn hinter sich, schwang sich hinaus ins Leere und raste, sich mehr und immer mehr beschleunigend, schräghin gegen den Himmel, ein aufwärts dem Monde zustürzendes Meteor …

Ein kleiner Reporter, ein schlotterndes Bündel Mensch, lehnte, das unbeschriebene Notizbuch und den unbenutzten Bleistift sinnlos in beiden Händen, an einem Gerüst und starrte dem Wunder nach.

»Hast du's gesehen?« fragte er einen andern, der unter allen Reportern, soweit die Erde damit gesegnet ist, als Meister der Zunft galt, »er hat das Weltraumschiff ›Friede‹ genannt …«

»Wenn du weiter nichts gesehen hast?« meinte der große Kollege achselzuckend und stürzte sich wieder in die Orgie der Debattenschrift.

Woraus erhellt, daß die großen Kollegen nicht immer die klügsten sind und durchaus nicht immer die hellsichtigsten …


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