Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

8

Professor Manfeldt hatte einen sonderbaren Traum. Eingeschlafen auf dem Beobachterstuhl vor dem Teleskop der Kleinen Sternwarte, sah er sich selbst als den alten Mann, der er war, vom Haus seiner Mutter weg zur Schule gehen.

Er hatte einen Matrosenanzug an, der ihm, wie schon damals immer, um vieles zu kurz und zu eng war, und eine Mütze hatte er auf, eine blaue Matrosenmütze; auf ihrem Bande stand: Raketendivision.

Er hörte im Traum den trockenen, scharfen Laut, der ihn als Kind an jedem Morgen von neuem traurig und hilflos gestimmt hatte, wenn die Staketentür des mütterlichen Gartens hinter ihm zufiel und er aus einer Welt der Sicherheit in eine andere ewigen Verschüchtertwerdens mußte. Er trug den Ranzen mit dem schäbigen Seehundfell auf dem alten, gebeugten Rücken. Das gelbe Schwämmchen der Schiefertafel baumelte an einem vielgeknoteten Bindfaden hin und her. Immer rutschten die Wadenstrümpfchen an seinen mageren Beinen hinunter, und die in der Eile nicht ordentlich verschnürten Senkel der Schuhe lösten sich mehr und mehr.

Es war schon acht Uhr. Er hörte die grimmigen Schläge der zwölfhändigen Mahnerin vom Schuldach rufen. Er fing zu laufen an, aber es war, als rollte die Straße nach rückwärts mitsamt dem alten Manne, der keuchend zur Schule strebte. Jede Laterne sah boshaft aus, jedes Fenster schielte ihn höhnisch an. Die Marktweiber hielten sich die dicken Bäuche vor Lachen. Polizisten mit Schnauzbart und Säbel, mit Helmen auf den Köpfen rannten, dicke Notizbücher ziehend, hinter ihm her und wollten ihn verhaften; Häuser sprangen ihm tückisch in den Weg. Kanäle und Brücken dehnten sich rechts und links, Bahnschranken senkten sich. Eine singende Prozession versperrte die Straße. Die ganze verschlafene Barockstadt hatte sich auf die Beine gemacht, um den unpünktlichen Jungen zu hetzen, der ein alter Mann war und im Matrosenanzug mit schepperndem Ranzen in die Schule keuchte.

Da kam ihm plötzlich der Marktplatz entgegen; aber es war gar nicht der Marktplatz, es war die Schultreppe. Nur oben, auf der letzten Stufe, stand der wunderschöne Brunnen, der gleichsam das Wappen seiner Kindheit gewesen war: drei Putten, die vor Gesundheit und Lebensfreude platzen wollten, mit Grübchen überall, wo ihr verliebter Schöpfer sie anzubringen vermochte, und mit zwei ungebärdigen Karpfen im Kampf, die loszukommen strebten und nicht loskommen konnten und aus den verdrossen lachenden Schnuten das kühlste und das süßeste Wasser spritzten. Ach Gott, ein Trunk aus diesem Brunnen, mit der hohlen Hand geschöpft – noch in Gottes Paradiesen mußte man sich nach solchem Trunke sehnen …

Der alte Mann im Matrosenanzug stolperte die Treppe hinauf, und es wurden immer mehr und mehr Stufen, und der brennende Schweiß lief ihm am ganzen Körper entlang, und der Ranzen wurde schwer wie ein Getreidesack, und oben lockte das Wasser des Puttenbrunnens, und neben dem Brunnen – Gott, wie breit und dick! – stand der Schuldiener und läutete aus Leibeskräften seinen eigenen Kopf, der eine Glocke war und ihn giftig ansah.

»Na warte – na warte – na warte!« kläffte der Glockenkopf.

Krach! sprang mitten in der Treppe eine Tür auf, weit wie die Tür des Fegefeuers, und da stand er mitten in der Klasse, auf seinem alten Platz in der tintenfleckigen Bank, und alle Schüler drehten sich nach ihm um, wie er da stand, unwahrscheinlich groß und lächerlich in seinem Matrosenanzug und mit dem zerfaserten Bart, mit dem Matrosenmützchen auf dem grauen Wirrhaar, mit den heruntergerutschten Wadenstrümpfchen und den offenen Schuhen.

»Hahaha – die Mondrakete! Hahaha – die Mondrakete! Hahaha – die Mondrakete!« krähte die Klasse im Chor und klappte dazu mit den Pultdeckeln.

Neben der schwarzen Tafel stand der Lehrer – nie in seinem haßreichen Leben hatte Manfeldt einen Menschen wieder so gehaßt wie diesen Mann mit den Bumerangbeinen und dem Spitzbauch, über dem ein schmieriger Lüsterrock, immer schief zugeknöpft, hämische Falten zog. Sooft der Lehrer den Schüler Manfeldt dem allzu bereiten Gelächter seiner Mitschüler preisgab, lachte zuerst dieser speckige Spitzbauch, bevor noch das Grinsen der Schadenfreude ins Gesicht hinaufstieg, auf seine infernalische Rechnung wie ein Satan. Er hüpfte unter dem Lüsterrock wie ein enger Sack voll Kröten, und es war scheußlich, sich vorzustellen, daß auch der letzte Knopf, der diesen Rock zusammenhielt, abplatzen könnte und dem hüpfenden Bauch Gelegenheit gäbe, sich ungehemmt zu tummeln. Von dieser Zwangsvorstellung war schon der Knabe nicht losgekommen. Er hatte dem Lehrer nie ins Gesicht gesehen, immer nur hypnotisiert auf den schwarzen, schon defekten Knopf, in dessen vier Nählöchern grauer Staub saß.

Und jetzt wuchs aus diesem teuflisch lachenden Bauch eine Hand und ein endloser Arm mit schnappenden Scharnieren und packte den Alten-Mann-Schüler bei der Mütze, riß sie ab, warf sie hoch –

– da hing sie als Mond an der Tafel.

Ja, aber die Tafel war der nächtliche Himmel, nur sternenlos und eigentlich mehr ein Weg aus schwarzem Samt. Man hätte auf ihm nach dem Monde wandern können.

»Nun, Mondprofessor«, sagte der Lehrer mit der Kellerstimme eines Bauchredners – (und wirklich, das Gesicht saß ihm am Bauche und an Stelle seines Kopfes hatte er die Mondkugel auf dem Halse sitzen, und dieser Mond war fast dunkel, hatte nur eine schmale, zunehmende Sichel) – »nun, Mondprofessor, wollen wir einmal sehen, wie es mit deinen Kenntnissen vom Monde steht! Du bist ja bekanntlich klüger als die ganze Welt – oh, lacht nicht, lacht nicht, meine lieben Kinderchen! Euer lieber Kollege Manfeldt ist äußerst reizbar und könnte es euch übelnehmen, wenn ihr ihn auslacht! – Nun, Manfeldt? Nun, mein Lieber? Erzähle uns von deinem Steckenpferd! Du bist ja gewissermaßen zu Hause auf dem Monde! Du fährst ja, habe ich mir sagen lassen, allabendlich – pfffsssst! – mit einer Rakete auf den Mond hinauf und fällst gegen Morgen – bubbubbubbubbub! – als Mondschnuppe wieder herunter … Kommst du deswegen immer zu spät zur Schule? Das macht nichts, das macht nichts! Wir wollen es dir verzeihen, wenn du uns jetzt nur recht viele schöne Dinge vom Mond zu erzählen weißt! – Wie weit, mein lieber Junge, ist denn der Mond von der Erde entfernt?«

Er wußte es nicht. Er wußte es nicht. Die Klasse begann zu kichern. Hier fuhr ein Finger hoch und da und dort … Alle Kinder wußten, wie weit der Mond von der Erde entfernt ist, aber er wußte es nicht.

Die Mondsichel auf dem Halse des Lehrers begann zu lächeln und nahm behaglich zu.

»Nun, nun, wir werden uns doch nicht gleich bei der ersten Frage blamieren, Herr Mondprofessor?« sagte die Bauchrednerstimme schmalzig.

»Nein,« antwortete der alte Mann, der ein Knabe war, mit gellender Stimme – aber kein Laut wurde hörbar – »ich weiß, ich weiß, wie weit der Mond von der Erde entfernt ist … so weit, wie dein Gehirn von meinem – so weit wie deine Seele von meiner, – aber in Kilometern läßt sich das nicht ausdrücken, du verdammter Eunuch des Wissens …

Hinter dem Lehrer stand plötzlich Helius. Er hatte ein Reisigbündel auf dem Rücken und war der Mann im Mond. Er winkte Manfeldt lautlos, auf ihn achtzugeben und schrieb mit Kreide auf die schwarze Tafel die Zahl der Entfernung. Aber sooft er sie schrieb, – die Ziffern erloschen ihm unter der schreibenden Hand, und Manfeldt konnte sie nicht erhaschen.

»Ei, ei, wie peinlich!« sagte der Lehrer und schüttelte den Mondkopf. »Weißt du denn wenigstens, mein liebes Kind, woraus der Mond besteht?«

Er wußte es nicht. Er wußte es nicht. Das kleine Gelächter der Klasse verstärkte sich prustend. Zehn, zwanzig Hände auf einmal bohrten die Zeigefinger in die Luft und zischende Stimmen wurden vernehmlich:

»Ich – ich – ich, Herr Lehrer! – Ich – ich – ich!«

Jetzt war auch Helius verschwunden. Der Mann im Monde half ihm nicht aus, versuchte es nicht einmal. Die Stubendecke senkte sich tief und legte sich auf den Schädel des grauen Schülers, als wollte sie die Antwort aus ihm herauskeltern. Da schrie er – er schrie, daß ihm die Halsadern platzen wollten; aber wer sollte ihn hören, da er sich selber nicht hörte?

»Ich weiß schon,« schrie er, »woraus der Mond bestünde, wenn es nach dir ginge, Schulmeister! – ja! Aus demselben Stoff, aus dem dein Schädel besteht: aus Wüste und Eis – aus unfruchtbarem Sande – aus Schlacke und Tuffstein! Aber das ist ja nicht wahr! Das ist ja nicht wahr! Ich weiß es besser, Herr Lehrer! Ich weiß es besser!«

Auf dem glucksenden Halse des Lehrers wuchs der behäbige Halbmond.

»Manfeldt! Manfeldt! Manfeldt!« kreischte seine Stimme plötzlich, wie ein Pfau aufkreischt aus dem Schlaf, »wie heißen die Niederungen und die Mare des Mondes?«

Er wußte es nicht. Er wußte es nicht. Die grauen Wände der Stube drangen erbittert auf ihn ein. Die Deckel sämtlicher Pulte standen auf wider ihn. Das wiehernde Gelächter seiner Mitschüler ohrfeigte ihn.

Es gellte: »Mondprofessor –! Mondprofessor –!«

Der Lehrer stand und hielt sich den hüpfenden Bauch. Auf seinem Halse saß ein wackliger Vollmond. Manfeldt, umtobt von der grölenden Klasse, stand plötzlich wie ein Gigant unter lauter Pygmäen, die an ihm hochzuklettern versuchten. Und dennoch war er nicht mehr als ein schluchzender Schuljunge, der sich verständlich machen wollte und nicht konnte.

»Einen Spiegel! Einen Spiegel!« schrie er verzweifelt, aber sein Schreien blieb lautlos. »Du kannst ja die Namen aus deinem eigenen Schädel lesen. Da –! Der See des Todes … bist du nicht innerlich tot –?! Da –! Das Meer des Eises … bist du nicht innerlich Eis –?! Das Meer der Wolken … bist du nicht gallschwarz wie Wolken –?! Da –! Das Nebelmeer … bist du nicht giftiger Dunst –?!

Ogottogottogott – Kinderkinderkinder –! Ogottogottogott – Kinderkinderkinder –!« krähte das Bauchgesicht, und auf dem wackelnden Halse tanzte der Vollmond wie auf Sprundfederspiralen.

Da hatte Manfeldt plötzlich einen Stock in der Hand und schlug damit auf den tanzenden Mondkopf los. Der Kopf sprang ab; der Körper schnurrte zusammen wie ein aufgeblasenes Spielzeug, aus dem die Luft entweicht. Die Decke schnellte sich hoch. Die Wände wichen zurück. Die Pultdeckel klappten zusammen. Die Klasse rührte sich nicht.

Am Stock von Manfeldt aber hing der Vollmond als leise schaukelnde Laterne, golden und milde anzusehen, vertraut und schön.

»Ja, meine Kinder,« sagte Manfeldt leise und ein wenig schüchtern; denn nun saß er selbst als Lehrer am Katheder, und er kam sich recht fremd und seltsam vor, weil hundert Kinderaugen mit dem reinsten Ausdruck von Liebe und von Wißbegier auf ihn gerichtet waren – Ja, meine lieben Kinder, dann wollen wir also heute einen kleinen Spaziergang in den Himmel machen! Wer will mich begleiten?«

»Ich!« klang ein leiser Chor von Stimmen auf zu ihm, nicht lauter als das Wispern von Blättern, die der Wind bewegt. Auch war der Laut ganz schwer von Sehnsucht, von dem Wissen um ferne Himmelsdinge.

»Kommt!« sagte Manfeldt, und den Vollmond an schwanker Stange vor sich hertragend, schritt er dem Zug der Kinder voran in die schwarze Tafel hinein.

Im Vorbeigehen pflückte er seine alte Mütze vom Himmel herunter, die als Neumond da hing.

»Ja, dich brauchen wir ja nun nicht mehr«, sagte er und schob sie in die Tasche. Aber kaum hatte er das getan, als die goldene Mondlaterne sich schwebend von dem Stock, den er in der Hand trug, löste, und höher und immer höher hinauf in den Himmel schwebte, immer strahlender werdend, immer silberner, immer unerreichbarer, immer ferner …

Manfeldt strebte ihr nach. Der Weg ging steil bergan. Er trat auf Dunkelheit, auf schwarzes Nichts, und trat doch auf Quader, zu endloser Treppe getürmt. Er hörte hinter sich das Rauschen ihm folgender Schritte. Aber der Weg wurde immer mühseliger. Seine Füße konnten die Stufen nicht mehr erschreiten; die Quader waren zu hoch; er mußte sich mit den Händen von einer Stufe zur andern höherziehen.

Das Rauschen der Schritte hinter ihm wurde leiser und leiser. Ein unaussprechlicher Jammer erfaßte ihn. Er wollte rufen: »Verlaßt mich nicht – nicht alle!«

Aber schon erlosch auch der letzte Laut, und unausdenkbare Stille umfing ihn. Aus der Unendlichkeit des Himmels, aus der unermeßlichen Höhe stürzte Verlassenheit über ihn wie ein Berg, der ihn fast zermalmte.

Aber traumschön am Himmel stand der lockende Mond.

Der Mensch, der allein war, raffte sich stöhnend auf. Er ließ nicht nach. Er strebte und strebte höher. Und wie erschüttert, ja, wie bezwungen von dieses einsamen Menschen titanischer Willenskraft, traten – nicht plötzlich, nein, sanft, in aufdämmernder Schönheit – aus der Schwärze des Himmels alle Sterne hervor und schauten den Menschen an.

Groß und schrecklich waren ihre Gesichter, lodernde Flammen – Flammenseen die Augen, aber herrlich waren sie, und das Herz des einsamen Menschen flammte auf wie die Sterne im Feuer der Anbetung.

»Gott –rief sein Herz. »Gott-Schöpfer – mir nahe –! Mir nahe – mein Gott –!«

Er hob die Augen. Er sah ein Licht, das er nicht ertrug. Er sah, der Mond war nur ein Schemen des Lichts, das er nicht ertrug. Er sah, die große, strahlende Sonne war nur ein Lächeln des Lichts, das er nicht ertrug. Die schrecklich-herrlichen Sternengestalten des Himmels waren nur Boten des Lichts, nur Gedanken des Lichts …

Er fiel auf die Knie nieder und betete an.

Die Sterne zur Linken wurden zu Cherubim. Die Sterne zur Rechten wurden zu Seraphim. Musik der Sphären füllte das All des Himmels.

Der Mensch, geblendet, erschüttert, aufgelöst, vernahm die Musik der Sphären, den Chor der Sterne. Eine dröhnende Stimme sprach, daß das All erbebte:

»Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und die Feste verkündiget seiner Hände Werk.

Ein Tag sagt es dem andern, und eine Nacht tut es kund der andern.

Es ist keine Sprache noch Rede, da man nicht ihre Stimme höret.«

Das Licht wurde stärker und stärker. Es drang durch die Lider des Menschen. Er fühlte sich angefaßt und freundlich aufgehoben –

– und die Stimme von Helius sagte: »Professor, es ist Zeit …«


 << zurück weiter >>