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Es war ein merkwürdiger Zustand, in dem Wolfgang Helius nach Hause fuhr.
Alle Dinge, die ihn umgaben, gingen ihn persönlich nahe an und liebten ihn mit einer geschwisterlichen Liebe, mit der Absicht und dem gegenseitigen Übereinkommen, ihm helfend wohlzutun. Das sanfte Gleiten des großen, ruhigen Wagens, der ihm gehörte und in dessen guten Kissen er lehnte, hielt zu ihm wie ein Kamerad und wollte ihm Zeit verschaffen, sich ganz zu sammeln. Die sehr tiefe, warnende Stimme der Hupe fegte Hindernisse ohne Heftigkeit, aber bestimmt und unnachgiebig beiseite, und die herabgelassene Scheibe der rechten Tür ließ nicht mehr Licht und Lärm der frühabendlichen Stadt hereindringen, als ihr gut dünkte, um den Mann mit der Mappe auf den Knien von sich selbst abzulenken.
Wolfgang Helius fühlte sehr deutlich diese pulsnahe Zärtlichkeit der Dinge, und er hätte ihnen gern gezeigt, daß er sie erwiderte; aber er fühlte auch, daß die kleinste Bewegung, selbst der Schatten eines Lächelns, den Dingen gespendet, von ihm die Kraft eines Titanen gefordert hätte. Und er war in dieser Stunde, du großer Gott im Himmel, nichts weniger als ein Titan … Es war – ja, was? – irgend etwas mit Un … ein Unsinn, eine Unkraft, ein Unwille … etwas von unvorstellbarer innerer Leere und Mattheit … ein Unwesen mit der gespenstischen Menschlich-Unmenschlichkeit einer Gliederpuppe. Augen, erschöpft und unfähig selbst zu der Wanderung von rechts nach links in ihren eigenen Höhlen, starrten tot geradeaus.
Aus der schwarzspiegelnden Scheibe im Rücken des Fahrers starrte ihnen etwas entgegen: das Bild eines Mannes. Der Mann saß aufrecht in den Lederkissen des Wagens: es sah aus, als stemme er sich mit einem verschwenderischen und doch notwendigen Aufwand von Kraft dagegen. Der Mann hatte eine große und vollgepfropfte Mappe auf beiden Knien: er hielt sie mit den Händen fest, doch schien er ihr im Augenblick keine sonderliche Beachtung zu schenken. Der Mann war bemerkenswert blaß, und sein Gesicht zeigte, während Wolfgang Helius es mit den starren Augen der Gliederpuppe betrachtete, den unbewachten Ausdruck eines so heftigen und maßlosen Leidens, daß es war, als müßten die Dinge um ihn her, zum Leben entzündet an der Passion dieses preisgegebenen Gesichts, um seinetwillen zu schluchzen beginnen.
Wolfgang Helius schob langsam den Kopf nach vorn. Der Mann in der spiegelnden Scheibe schob ihm den seinen entgegen. Ein Zug von Befremdung ging über das tote Gesicht.
›Das bin ja ich‹, dachte Wolfgang Helius und starrte in seine eigenen, starrenden Augen. ›Das bin ja ich … Wie sonderbar! … Heute ist ein großer und krönender Tag meines Lebens gewesen. Warum sehe ich aus wie einer, den man von schlecht überstandener Folter genommen hat? Was ist das für eine tolle Fahrt! Ich halte den goldenen Mond auf den Knien. Die ganze Stadt tanzt mir entgegen und braust. Die ganze Welt tanzt mir entgegen und braust. Ja, große Taten geschehen, o Stadt, o Welt! Das erste bemannte Weltraumschiff … Ziel: der erschrockene Mond. Wackere Vertreter der Erde werden da oben landen: ein halbtoller und ein halbtoter Mann. Denn ich liege im Sterben, ihr guten Leute. Das Blut ist schon weggetropft. Mein Kopf ist ein baumelnder Spuk. Und warum das alles, in Gottes Namen? Weil –‹
Er warf den Kopf vornüber, daß seine Stirn die weißen Knöchel der Fäuste berührte. Er biß die Zähne so wütend übereinander, daß seine Ohren ertaubten, daß ihm das Blut wie eine trübrote Welle hinter geschlossenen Lidern aufbrandete. Ja, das half nun alles nichts. Eine vergiftete Wunde muß man ausbrennen. Aber war er nicht ganz und gar eine Wunde, vom Kopf bis zu den Füßen? War er denn nicht von Grund auf vergiftet durch diesen einzigen Tag, daß es ein Wunder war, keine schwarzblauen Flecke auf der Haut zu haben?
›Friede … Friede … Nein, du kannst nichts dafür, du morgenblondes Geschöpf, du junge Gottheit … Schmalgliedrige – Antilope … du mit den schönen, ungeduldigen Brauen, auf denen deine schnellen Gedanken reiten … du Leichterzürnte, du Jungfräulich-Bösartige, du schuldlos Prahlende in aller Herrlichkeit … Nun, Weltraumschiffer, Mathematikgenie, kannst du errechnen, wie lange eines Mannes Mund braucht, um diesen kindschmalen Leib mit Küssen ganz zu bedecken? Sieh, da versagen die Zahlen und alle Zeit. Was außerhalb dieser Erde, was an den Rändern der Ewigkeit sich sinnvoll-chaotisch zum Weltall fügt, das hast du ermessen. Aber das wußtest du nicht, daß Erde und Weltall für dich in den Händen eines so jungen Weibes lagen und daß du Weib und Erde und Weltall verlorst, weil sie tat, was ihr Recht war zu tun: sich einem andern zu schenken.‹
Haß sprang im Blutstoß gegen sein Herz an, daß er meinte, es winseln zu hören. Er richtete sich auf, rang Kopf und Hals aus einer abwürgenden Klammer. »Ihr Dinge, helft mir! Fahrt – Abend – Stadt – Luft – – steht mir bei!«
Aufstöhnend öffnete er die Lider, lehnte sich weit zurück und atmete tief.
Die Dinge, die er zu Hilfe gerufen hatte, bemächtigten sich seiner Augen und seiner Ohren …
Irgend etwas – und nichts Geringes – schnürte weit vorn an der strahlenreichen Straßenkreuzung den Verkehr ab. Die Autos stauten sich zu Hunderten. Aus dem Wirrwarr ihrer flachen Verdecke hoben sich, wie aus einem Acker mattglänzender Schollen, die Kentaurengestalten berittener Polizisten ruhig und voll Besonnenheit. Ein unermeßliches Meer von Lichtfunken und leuchtenden, buntfarbigen Kaskaden überschäumte, übersprühte den frühen Abend und gab den Straßen und allem, was sie bevölkerte, eine wunderbare, wenn auch grundlose Fröhlichkeit.
Die Menschen gingen rasch, doch nicht mit der gehetzten Eilfertigkeit des Tages. Es war, als gingen sie nach einer unhörbaren, vielleicht nur in ihnen selbst erklingenden, Melodie, mit leichten, schönen Schritten zu einem nahen und erhofften Ziel.
Es herrschte ein vieltöniger, doch in seiner orchestralen Einheit beinahe zart wirkender Lärm auf der hellfrohen Straße, und es dauerte ziemlich lange, bis das Ohr von Wolfgang Helius aus diesem rauschenden Orchester das feine Soloinstrument einer einzelnen Stimme heraushörte, die in weichen Rhythmen, als sänge sie einen Vers, stets das gleiche wiederholend, am Rand der Straße sprach:
»Frische Veilchen, mein Herr? Frische Veilchen?«
Seine langsamen Augen suchten das Mädchen, das diese Worte mehr sang und sprach, und blieben mit einem verlorenen und schweren Ausdruck auf ihm haften. Das Mädchen war schön, und es lächelte mit seinem ganzen zartgeschminkten Gesicht. Es war, als böte es seine Augen dem Manne zum Kuß, als es, den kleinen dunklen Strauß aus dem Korb auf der Hüfte hebend, sagte:
»Frische Veilchen, mein Herr? Frische Veilchen?«
Wolfgang Helius wollte ihr Lächeln erwidern, aber auf seinen Lippen, die trocken wie verschmachtete Erde waren, formte sich nur ein Grinsen. Er dachte: ›Wie heißt es, Hamlet? – »Das ist nicht und das wird auch nimmer gut« … Heil unserer Bildung! Passende Zitate für alle Lebenslagen …‹
Da warf ihm das Mädchen den Veilchenstrauß in den Schoß. Ihr Lächeln vertiefte sich, daß die kleinen weißen Zähne sichtbar wurden.
Helius hob den kühlen, dunklen Strauß zu seinen Augen, als höben seine Hände eine Last. Er sog den Duft tief ein, die Augen schließend. ›Wahrhaftig frische Veilchen!‹ dachte er.
Das Mädchen trat an die Wagentür. Es streckte die Hand aus.
Grotjan, der Fahrer, räusperte sich gereizt. Den Kontakt berührend, ließ er die Hupe warnend aufbrummen, einmal und noch einmal. Konnten die da vorn nicht endlich fertig werden mit ihrem Verkehrsgulasch? – Daß so ein Frauenzimmer nur ja Zeit genug fand, sich an seinen Herrn heranzuschmieren …
Im Spiegel der Windscheibe konnte er recht gut beobachten, wie sie lächelte und Zähne und Augen blitzen ließ, und es mochte auch sein, daß sein Herr zu ihr sprach. Was sie sich wohl daraufhin einbildete, die Ziege mit ihrem Gekicher …
Der Verkehrspolizist hob rückwärtswinkend die Hand. Nun würde sie wohl endlich die Finger vom Türrahmen lassen, die eifrige Dame … Aber Grotjans Voraussage ging nicht in Erfüllung. Das Mädchen mit dem Blumenkorb trat keineswegs zurück, als der gestockte Strom der Wagen wieder zu strömen begann – es ließ auch die Hand nicht von der Autotür. Es lachte, leise und herzlich, wie zur Antwort auf etwas, das ihm Freude machte, und es öffnete die Tür des schon gleitenden Autos und schlüpfte zu Wolfgang Helms in den Wagen hinein.
»Himmellaudon …« sagte Grotjan vorsichtig.
Er hielt den Blick starr nach vorn gerichtet und war so hilflos, wie ein Mann nur sein kann, dessen Weltanschauung ins Schleudern geraten ist.
»Nach Hause!« hatte Wolfgang Helius zu Beginn der Fahrt gesagt. Er hatte keinen Gegenbefehl erteilt. Wollte er das Frauenzimmer etwa mit nach Hause nehmen? – In die großen, immer wie leeren Zimmer hinauf, deren kühle, saubere Luft in all den Jahren, da Grotjan Wolfgang Helius als dienender Tyrann ergeben war, noch nie von dem Getue und Gelache und Drum und Dran, das von den Weibern nicht zu trennen war, beleidigt wurde?
Grimmig zog Grotjan die Bremse an. Wieder ein Aufenthalt von Minuten. Gedränge und Huschen, hart am Kühler vorbei. Grotjan sah aus wie der leibhaftige Mord. Dies war eine Welt, von einem Idioten für Idioten gemacht. Eine Welt, in der es als wohlerzogen galt, das Maul zu halten und stillschweigend zuzusehen, wie einer Sumpfwasser trank, weil er irr war vor Durst; in der ein redlicher Mensch nicht hingehen durfte zu der einzigen, auf die es ankam, und sagen: Mädel, der Mann, der mehr wert ist als die ganze übrige Menschheit zusammengenommen, der ist auf dem besten Wege, an dir zugrunde zu gehen; jetzt hilf ihm, so oder so, daß er wieder gesund wird …
Statt dessen: nach Hause fahren mußte er das Unglück auch noch … Ohne, in Gottes Namen die eigenen Knochen riskierend, den Wagen gegen die nächste Litfaßsäule zu knallen. Denn sein Herr saß ja auch darin …
Sie waren ans Ziel gelangt. Der Wagen hielt. Grotjan stellte den Motor ab und lehnte sich breit zurück. Nicht ums Verrecken würde er den Kopf wenden. Seinetwegen konnten alle vier Pneumatiks im Asphalt Wurzel schlagen und sich zu kleinen Gummibäumen auswachsen. Er hatte Zeit.
Aus dem Fenster neben der überwölbten Steintreppe, die ins Haus hineinführte, ringelte sich der schmale Jungenkörper Gustavs, des Hausmeistersprößlings. Gott hatte ihn sommersprossig und furchtlos geschaffen und ihm weniger Zuneigung für Bücher und Lehrer eingepflanzt als für Motoren und die kühnen Männer, die mit Motoren wie mit guten Freunden umgingen.
»'nen Abend, Herr Grotjan«, sagte Gustav herzlich.
Grotjan antwortete nicht. Aber das vermochte Gustavs freundschaftliche Laune nicht zu trüben. Motorenmänner, die sich im Dienst befanden, taten manchmal so, als seien sie für kleine Jungen unnahbar. Das machte ihre Herrlichkeit nur größer. Gustav strolchte, Hände in den Taschen, um das Auto herum, es mit den Augen liebender Kennerschaft betrachtend.
»Is doch der feinste Wagen in der Stadt«, stellte er fest, nicht völlig absichtslos. »Fahren Sie die Karre nich in'n Stall?«
Grotjan schweig. Gustav begann zu pfeifen. Seine musikalische Begabung war so groß, daß man ihn in der Schule aus Mitleid mit den anderen vom Singen dispensiert hatte. Aber er liebte sein Pfeifen. Grotjan nicht.
»Halt's Maul, Lausejunge«, sagte er unterdrückt, doch deutlich. »Nimm die Flossen vom Lack herunter und glotz' nicht so in den Wagen. Das schickt sich nicht.«
»Warum nich?« fragte der gründliche Gustav, »Is ja keener drin.«
Grotjan fuhr mit dem Blick dem Jungen ins Gesicht. Das sah ganz redlich aus. Er wandte den Kopf ganz über die Schulter. Er sagte: »Himmellaudon …« und war in einem Schwung mit beiden Beinen aus dem Sitz heraus und auf der Straße.
Er riß die Tür des Autos auf.
Gustav hatte sich geirrt. Es war doch »eener drin«. Aber vom Standpunkt und der Nasenhöhe des Jungen aus hatte es sich schwer feststellen lassen.
Denn Wolfgang Helius lag, vom Sitz geglitten, auf dem Boden des Autos in tiefer Bewußtlosigkeit.
Drei Kleinigkeiten aber fehlten in der Tat: der Veilchenstrauß, das Mädchen und die Mappe mit dem Manuskript, das von den goldenen Bergen des Mondes handelte.