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Die Stimmen Windeggers und Friedes wurden laut, wie sie auf Frau Hippolt einsprachen. Diese Stimmen klangen besorgt und abgehetzt, vertraut und gut, und sie weckten in Wolfgang Helius, der wie ein Verwunschener starr im Raume stand, eine brennende Vorfreude auf die Menschen, die seinesgleichen waren. Es drehte ihn gewaltsam der Türe zu, den beiden entgegen, die da zu ihm kamen – aber ein anderes hielt ihn auf seinem Platze fest: das verrückte Verlangen, Friede mit ihrem federnden Tierschritt geduldlos und schön auf sich zukommen zu sehen.
Ja, nun schwang die Tür auf, und da standen die beiden, die neue Einheit, atemlos und außer sich vor Sorge um den Freund; sie mußten die Treppen im Sturm genommen haben. Windeggers sonst so blasses Schwärmergesicht leuchtete dunkel und feucht, und der köstliche Bronzeton von Friedes Freilufthaut war einer perlmutternen Durchsichtigkeit gewichen. Ihre Kampfaugen überströmten den Mann im Raum von der Tür her mit Fragen: Was ist geschehen? Was muß geschehen? Was kann ich dabei helfen?
»Verzeih,« begann Windegger ohne Gruß, mit der Hast seiner Abgejagtheit, »daß wir so spät kommen – aber wir –«
»Ich weiß, ich weiß!« unterbrach ihn Helius mit halbem Lachen, »ihr habt eine Panne gehabt! Euer Auto hat ein Hinterrad verloren – nicht wahr?«
»Ja – aber woher weißt du –?«
Wolfgang Helius schüttelte den Kopf, als risse er ihn gewaltsam aus einer eisernen Klammer.
»Kommt her!« sagte er heiser. Er stand halb sitzend gegen den Zeichentisch gelehnt. Er streckte die Hände aus. Er sah das Mädchen ganz als Schimmer und Licht, zu einem Fest gekleidet. Das Blut wich ihm aus dem Kopfe und polterte roh auf sein Herz los. »Es tut mir verdammt leid,« sagte er, »daß ich euch den heutigen Abend verderben mußte –«
»Genug, genug –!« rief das Mädchen und schüttelte den Kopf, daß sein morgenblondes Haar einen gleißenden Triumphbogen um seine ungestüme und kriegerische Magdlichkeit bildete. »Das haben Sie bereits einmal gesagt, Helius – und nun war es zweimal zu oft – ganz abgesehen davon, daß Sie uns den Abend schon verdorben hatten, als Sie sich weigerten, ihn mit uns zu feiern. Aber – da sind wir und wollen wissen, was es für uns heute gibt!«
Helius antwortete nicht sofort. Er hielt die Hände der zwei, die Hand in Hand vor ihm standen, und die kühle, elementare Hand des Mädchens, deren straffer Blutschlag so arglos an den seinen pochte, erfüllte ihn plötzlich mit der Passion eines ungerechten und armseligen Grolles gegen ihre unbeschwerte Ahnungslosigkeit.
»Ich wollte nur mit Windegger sprechen«, sagte er und sah das Mädchen mit verdunkeltem Herzen an. »Ich wollte Sie gar nicht in diese Sache hineinzerren, Friede. Aber ich muß mich wohl daran gewöhnen, daß ich von nun an zu einer Zweieinheit spreche …«
»Das müssen Sie, Helius«, antwortete das Mädchen und lächelte nicht. Er sah ihre Augen, die sehr schönen Aquamarinen glichen, und die Versuchung, vor ihnen mit seinem ins Weltall greifenden Entschluß zu prahlen, nur um zu sehen, ob sie sich trüben würden, wuchs fast übermächtig in ihm auf. Aber die Disziplin des Schweigens war stärker. Er drückte die Hand des Mädchens an seine Augen; dann gab er sie frei.
»Setzt euch«, sagte er tonlos. »Ich will euch erzählen …«
Sie saßen dicht beieinander, während er sprach, und da er unwillkürlich die Stimme aufs äußerste dämpfte, beugten die zwei ihre Köpfe ganz zu ihm hin, Schulter an Schulter gedrückt, mit offenen Lippen im gleichen Raschtakt atmend, oft Worte, noch nicht gesprochen, von seinem Munde holend.
Hans Windegger wußte nicht, mit was für zugleich verhaltenen und heftigen Gebärden er gleichsam spielte, was der Freund ihm schilderte. Eine unverschließbare Seele strömte aus offenen Augen. ›Ja, ich verstehe, daß Friede dich liebt, du Junge!‹ dachte Wolf Helius und betrachtete das von stets gesträubten Haaren überhelmte Gesicht eines krakeelsüchtigen Erzengels, das ihm aus Windeggers Zügen entgegensah, in bitterer Zuneigung.
»Da rief ich dich an, Hans, und bat dich, zu mir zu kommen«, schloß er seinen Bericht mit dem trüben Versuch eines Lächelns.
Windegger schoß von seinem Stuhl in die Höhe, als sei dies nun das Äußerste gewesen, was er an Stillsitzen leisten konnte.
»Sage mir nur, warum um alles in der Welt du den Kerl nicht festgehalten hast, bis wir kamen?« fragte er, außer sich.
»Ich wollte keine Auseinandersetzung mit Herrn Turner in Gegenwart einer Frau – – –«
»Oh – Friede! Friede mit ihrer Penthesilea-Natur …«
»Und außerdem bezweifle ich – nach den Erfahrungen, die ich mit Herrn Turners Umsichtigkeit gemacht habe –, daß wir dadurch unsere Skizzen und Pläne wiederbekommen hätten …«
»Der Diebstahl der Skizzen und Pläne fällt nicht ins Gewicht,« sagte Hans Windegger, »ich habe die Duplikate in meinem Besitz.«
»Bist du dessen ganz sicher?« fragte das Mädchen.
»So sicher wie meiner Haut.«
»Ich an deiner Stelle würde das nicht sein«, sagte das Mädchen mit einem Achselzucken.
Helius und Windegger sahen sich in die Gesichter. Im nächsten Augenblick war Windegger an der Tür und Helius mit einem Sprung ihm nach.
»Wohin, Hans –?!«
»Wartet –!«
Zuruf und Abwehr des Freundes holten ihn schon nicht mehr ein. Die Flurtür krachte. Kalk rieselte an den Wänden. Helius blieb auf der Schwelle des Zimmers stehen und stemmte die Fäuste rechts und links in die Pfosten. Und das Mädchen, das stumm seine Augen auf ihm ruhen ließ, dachte, daß er mit den ausgespannten Armen und dem zur Brust gesenkten Kopfe aussah wie einer, der an ein unsichtbares Marterholz geschlagen wurde.
Zögernd wandte sich Helius und schloß die Tür. Zögernd fügte er sich in den Raum zurück, der sonst so groß und leer war und dessen Enge jetzt mit lauter nichtatembaren Stoffen erfüllt schien. Er wollte irgendein belangloses Wort zu dem Mädchen sagen, mit dem er allein war zwischen den gleichen vier Wänden; aber als er sie ansah, war unter all den Millionen Worten der Welt nicht ein einziges bereit, ihm aus der Stummheit zu helfen.
Das Mädchen saß regungslos. Es hatte die Hände im Schoß so zusammengelegt, daß die aufwärtsgerichteten Finger sich außen berührten und die Spitzen der Daumen geheimnisvolle Zwiesprache zu halten schienen. Ihre Stirn war ein wenig zusammengezogen und die Brauen gesenkt, doch mit einem Ausdruck mehr des Grübelns als des Erzürntseins.
Wolfgang Helius ging auf das Fenster zu, wie um es zu öffnen und von außen her die Atemluft zu holen, die ihm das Zimmer versagte. Aber er ließ das Fenster ungeöffnet, wandte sich um und kam bis zum Zeichentisch.
Da stand die kleine, stets bereite Glasmaschine, in der sich das Zimmer verbogen spiegelte.
»Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?« fragte der Mann, zweimal zum Sprechen ansetzend.
»Ja, Helius …«, sagte Friede Velten.
Wolf Helius nahm das kleine Hütchen vom Spirituskocher und zündete die Flamme an. Er schob sie unter die gläserne Kugel und sah ihr zu, wie sie blau und heiß um das Glas her leckte, in dem das Wasser leise zu zittern begann.
Von der Straße herauf klang, sonderbar an- und abschwellend, das Geräusch eines vorüberfahrenden Autos. Dann wieder Stille. Das Wasser begann zu singen. Das war, als würde ein dünner silberner Nerv von einer silbernen Spindel aufgespult.
Wolf Helius ließ seine Augen durchs Zimmer laufen. Alle Dinge sahen ihn an und schienen zu warten. Er schöpfte Atem, einmal, mit offenem Munde, und wandte sich Friede Velten wieder zu.
»Zigarette, Friede?«
Sie nickte, sonderbar abwesend.
Er ging zu ihr hin. Das war nun nicht mehr zu vermeiden. Aber das Näherkommen des Mannes schien gar nicht in ihr Bewußtsein vorzudringen. Sie saß in einer Aura von Abgeschlossenheit, in ihrem weißen Festkleid wie in einem fremden Glanze – die Stirn zusammengezogen, die Brauen gesenkt, die Fächerschatten der Wimpern dicht auf den Wangen. Selbst die Zigarette, die er ihr darbot, schien sie nicht aus dem Gefäß in seiner Hand, sondern aus der ihr dienstbaren Luft zu nehmen.
Aber als er ihr die kleine Flamme des Feuerzeugs hinhielt, sah er plötzlich ihre Augen auf sich gerichtet, groß wach und durchdringend, wie nie von Lidern geschlossen. Diese Augen waren stark und unerbittlich wie die Wahrhaftigkeit selbst, und die Flamme, die sich in ihnen spiegelte, zeigte, undeutbar, aber unverkennbar, in diesen Augen einen Hauch von Spott.
Die kleine Flamme bog sich und flackerte, als sei sie, ein schmerzempfindliches Wesen, verwundet worden.
»Warum,« fragte das Mädchen in einem Ton, der verriet, daß es darauf bestehen würde, die Wahrheit zu erfahren, »warum, Helius, haben Sie Hans und mir nicht gesagt, daß Sie die Fahrt zum Monde jetzt wirklich antreten wollen?«
Wolf Helius löschte die kleine Flamme aus. Es war vielleicht ganz unwillkürlich geschehen, doch es wirkte wie ein Symbol, und das Mädchen nahm es als solches. Sie warf die Zigarette zurück auf den Tisch.
»Oh –!« rief sie in leisem und leidenschaftlichem Zorn – und ihre von vielen und wundervollen Energien beseelte Hand schloß sich um das Gelenk des Mannes –, »versuchen Sie nicht, mich zu belügen! Versuchen Sie nicht, sich vor mir zu verstecken! Leugnen Sie, wenn Sie sich trauen, mir in die Augen hinein! Da –!« Sie sprang auf und stellte sich dicht vor ihn hin, die Hände auf seinen Schultern, ihm nahe wie niemals. »Wollen Sie leugnen? Wollen Sie mich belügen?«
In den Augen des Mannes erwachte ein schlimmer Ausdruck. Sein Gesicht, das so blaß war wie frischgeschältes Holz, schien plötzlich vom Krampf eines stummen Gelächters befallen, daß hinter sich öffnenden Lippen die Zähne sichtbar wurden. Langsam hob er die Hände. Die Hände wurden zu Fäusten. Und während er mit einer Anstrengung, die seinen Schädel mit Blut bis zum Platzen füllte, seinen Blick von dem Mädchen nahm und die Augen schloß, schob er die Fäuste in die Hosentaschen und sagte zwischen verbissenen Zähnen:
»Nein!«
Es war zu dem Mädchen und zu sich selber gesprochen. Es war ein Etwas in dem Klang dieses Nein, das ihre Hände von seinen Schultern wegnahm. Aber sie war zu zornig, um darüber nachzudenken.
»Das ist Ihr Glück, Helius!« sagte sie und atmete wie nach einem Ringkampf. Unablässig sahen ihre erzürnten Augen ihn an, wie er mit gesenktem Kopfe, geschlossenen Augen, die Fäuste in den Taschen, vor ihr stand. Sie löste die Augen nur so lange von ihm, als sie brauchte, um mit einer kleinen Gebärde des Grimms den Spirituskocher unter der geleerten Glaskugel wegzuziehen.
»Man schaltet seine Freunde nicht aus von dem Werk, an dem sie seit Jahren und Jahren mitbauen und schleppen! Das ist Raub an der Seele, Helius! Raub an der Treue!« sagte sie unbesänftigt, schön erbittert.
Mit einer Gebärde untragbarer Müdigkeit setzte er sich und ließ den erschöpften Kopf sinken.
»Raub an der Treue!« wiederholte er. »Weil ich es ihm ersparen will, eines Tages vielleicht seine Liebe zu Ihnen als Treulosigkeit gegen mich zu empfinden! … Das nennen Sie ›Raub an der Treue‹?«
»Ja, Helius, ja! Ich weiß sehr gut, was ich sage! Seit ich Hans Windegger kenne, seit wir zum ersten Male auf dem Wege zwischen Universität und Sternwarte miteinander gesprochen haben, weiß ich, daß Sie und Ihr Werk der Mittelpunkt sind, um den sein Denken, sein Schaffen, sein Wollen kreist. Er hat mich in diesen kosmischen Wirbel hineingezogen – ja, Helius, ich bin gleichsam der Trabant Ihres Trabanten geworden, und Sie wissen, wie stark und gesetzvoll sich solche Wunder vollziehen. Glauben Sie wirklich, Sie hätten das Recht oder die Macht, von Menschen, die Ihnen nach innersten Gesetzen verbunden sind, sich loszulösen und die Bahn allein zu vollenden?«
»Um die große Fahrt ins Weltall zu wagen, Friede,« sagte Wolf Helius heiser, »muß man ein Fanatiker sein oder ein Verbrecher oder ein Desperado oder einfach allein. Aber man reißt sich nicht von der Erde los, wenn man darauf die Frau zurückläßt, in deren Liebe man Sonne, Mond und alle Sterne und Himmel und Erde in einem gefunden hat … Ich weiß, daß ich auf und ab in der Welt keinen besseren Kameraden treffen werde, als Hans mir in all den Jahren gewesen ist. Doch jetzt, junge Friede, gehört er zu Ihnen allein – an die Erde gebunden mit allen Gnaden der Erde – verwurzelt, ein Mann, in der Frau, geliebt und liebend …«
»Ich finde die Worte nicht, wie Sie sie finden«, sagte das Mädchen. »Aber das weiß ich, Helius: Sie werden die Fahrt zum Monde nicht ohne Hans Windegger fahren – und nicht ohne mich!«
Wolf Helius lächelte.
»Kind …«, sagte er und weiter kein Wort. Er schüttelte nicht einmal den Kopf.
»Nicht ohne Hans Windegger und nicht ohne mich!« wiederholte das Mädchen und hob das Gesicht, das in der weißen Flamme der Entschlossenheit brannte, gegen den Mann und sein Lächeln.
Helius stand auf.
»Weder mit ihm noch mit Ihnen, Friede«, sagte er ruhig. »Wir wollen von etwas anderem sprechen.«
»Wir werden so lange von nichts anderem sprechen, bis Sie mit mir einer Meinung geworden sind. Es kann sein, daß Sie aus diesem oder jenem Grunde die Fahrt zum Monde überhaupt nicht antreten. Aber wenn Sie sie antreten, Helius, dann nicht ohne Hans Windegger und nicht ohne mich!«
»Friede … ich weiß, Sie haben Energie genug, um nicht nur den Ida auf den Ossa zu wälzen, sondern den Pelion auch noch obendrauf. Aber hier werden Sie scheitern! Solange ich noch eine Hand zu rühren vermag und im Besitz meines Verstandes bin, werde ich zum mindesten Sie von dem Abenteuer dieser Mondfahrt fernzuhalten wissen.«
»Es handelt sich hier nicht um ein Abenteuer! Es handelt sich um die letzte Konsequenz eines dreieinigen oder, wenn Sie Manfeldt miteinrechnen mögen, viereinigen Wollens. Sie werden uns schon erlauben müssen, Helius, diese letzte, abschließende Konsequenz gemeinsam mit Ihnen zu ziehen und zu tragen!«
»Lieber sprenge ich das Weltraumschiff mit eigener Hand in die Luft!«
»Aber warum? – Warum –? Ich will wissen, warum, Helius –?!«
»Weil –«, brach der Mann im Reißen seiner zerschabten Nerven aus wie ein Vulkan, »ich es nicht ertragen würde, Friede – wenn Sie es denn schon darauf angelegt haben, mich verrückt zu machen! –, Sie in Gefahr zu wissen und – Herrgott im Himmel! in was für einer Gefahr –! Jede einzelne Sekunde ein Taumeln zwischen Wahnsinn und Vernichtung –! Trotz allem und allem das Ganze ein neunundneunzigprozentiger Selbstmord – – –!«
Seine Worte sprangen sie an wie ein Rudel Wölfe. Sie waren so körperlich in ihrer Gewalt, daß sie unter dem Anprall zusammenzuckte. Die Kraft und Grellheit seiner Worte waren wie der heißeste Blitz eines Nachtgewitters, bevor der Regen aus den Wolken stürzt: für die Ewigkeit einer Sekunde offenbart er lohend das Chaos und die Finsternis der bestürmten Landschaft, um sie gleich darauf in so letztes Dunkel zurückzutauchen, daß das Auge zweifelt, ob es recht gesehen hat. So hatte die Seele des Mädchens die Seele des Mannes erblickt, und beider Augen schauten sich an, erschreckt und geblendet, und wandten sich voneinander ab – und es wurde sehr still um sie her.
»Jetzt, Helius,« sagte nach einem tiefen Schweigen die tapfere Stimme des Mädchens, »gibt es nichts auf der ganzen Welt mehr, was mich abhalten könnte, mit auf die große Fahrt zum Monde zu gehen. Denn ich glaube, meine Gegenwart wird ein guter Sicherheitskoeffizient für die Reise sein – ein Talisman, Helius, nicht nur für die Reise zum Mond, sondern vor allem für die Heimkehr zur Erde. Denn die Frau, die sich Ihnen anvertraut, die ihr Schicksal an Ihr eigenes bindet, werden Sie unversehrt wieder heimbringen wollen – aus dem Weltall zurück auf unsere Allwelt, auf das Staubkorn, das wir Mutter nennen …«
Wolfgang Helius ließ die Hände fallen; er wandte den Kopf von einer Schulter zur anderen.
»Gut, Friede«, sagte er. »Ich gebe es auf. Ich bin Ihnen nicht gewachsen, wenigstens heute nicht. Warten wir, bis Windegger wiederkommt. Der wird Ihnen diesen Wahnsinn wirksamer ausreden …«
Das Mädchen lächelte: »Nein.«
»Doch, Friede, doch … Sein stürmisches und sehnsüchtiges Herz wird die Worte schon finden, daß unsere bunte Erde für zwei, die sich lieben, mehr Wunder hat, als sie je ergründen können, und daß der goldene Mond für Sie und für ihn in Zukunft nichts sein wird als eine freundliche alte Lampe der Liebe …«
Sie schüttelte das ungestüme Haar. Sie strich es mit beiden flachen Händen zurück, ließ die Hände ruhen über der leuchtenden Stirn und sah mit einem undeutbaren Ausdruck auf Helius.
»Ich würde ihn nicht mehr lieben«, sagte sie. Er wollte reden – sie unterbrach ihn, rasch atmend: »Nein, nein … nein, Helius – ich würde ihn nicht mehr lieben, wenn er Sie so im Stiche lassen könnte …«
Mit einer zugleich traurigen und heftigen Bewegung wandte der Mann sich ihr zu. Aber da flog die Tür auf wie geschleudert, und Hans Windegger brach in das Zimmer ein gleich einer Bö aus Nordwest.
Es bedurfte keines Wortes von seiner Seite, um den beiden zu sagen, in welchem Zustand er das Geheimfach seines Schreibtisches gefunden hatte.
»Ich wußte es«, sagte Friede, seinem Grimmbericht zuvorkommend. »Aber es ist jetzt nicht so wichtig … Etwas anderes ist viel wichtiger … Höre, Hans – höre mich an –«
Sie schloß die Augen und legte die Hände auf den Rücken; vielleicht wollte sie ihren Augen und ihren Händen verbieten, den Mann durch ihre Inbrunst zu beeinflussen. Sie beugte sich tief nach vorn, als hinge sie mit gefesselten Händen an einem Pfahle –
»Was hast du?« fragte Windegger; seine Augen gingen von einem zum andern, blieben zuletzt auf dem Freunde haften. »Was habt ihr beide –?«
Wolf Helius schwieg und sah aus, als würde er ewig schweigen. Seine Blicke lagen auf dem Mädchen mit einer lastenden Erbitterung.
»Es ist nur –« sagte das Mädchen. Ihre Stimme klang hoch und fremd, als wollte sie – seltsam genug bei Friede Velten – in Tränen ausbrechen. »Es ist nur … weil diese Stunde so wichtig ist … so wichtig, wie keine zuvor in unserm Leben. Er hat die Fahrt zum Monde beschlossen, Hans – – –«
»Wundervoll!« sagte Hans Windegger rasch und einfach. »Und wann starten wir? Und wer fährt mit?«
Friede Veltens Kopf fuhr funkelnd hoch.
»Manfeldt, Helius und du und ich –«, rief sie. Es klang, als sprängen ihr Sterne vom Munde. Und eine sausende Stille folgte dem nach.
Windegger stand ein wenig taumelig da. Er lächelte und wußte nicht, daß er's tat. Er hatte das Blut wie einen purpurnen Sturzbach im Gesicht. Er sah das Mädchen an und dachte nichts anderes, als daß es das schönste Geschöpf auf der Erde sei, kühn wie der junge Tag und bereit, ihm zu folgen, wohin noch nie, seit die Sonnen der Hand ihres Schöpfers entrollten, ein Weib dem Manne gefolgt war … Du Schönste … du Kühnste … Über die Grenzen der Erde hinaus in das Nichts …
»Ich hätte es dir verschwiegen«, hörte er Helius sagen. »Ich wollte die Fahrt mit Manfeldt allein antreten – heimlich – um dir den Zwiespalt zu ersparen …«
Windegger schüttelte seinen streitbaren Kopf.
»Was du für wunderliche Einfälle hast! … Ohne mich auf die Fahrt ins All? Nein, Helius!«
»Das wußte ich!« frohlockte die Stimme des Mädchens leise.
Helius fuhr sich mit der Hand nach der Stirn.
»Und Friede –?«
»Friede wird mit uns gehen …«
»Ja –!« sagte die leise frohlockende Stimme des Mädchens.
»Du weißt nicht, was du sprichst, Hans – oder du hast den Verstand verloren!« meinte Wolf Helius, und sein Gesicht war wie Asche.
»Kann sein, daß ich toll bin, Helius … berauscht zum mindesten … Aber nicht vom Wein, den Friede und ich getrunken haben … Berauscht von der Stunde – vom Stolz – von der Wut – von der Spannkraft … Nenne es, wie du willst: Verrücktheit … Verbrechen … den Gaurisankar der Ichsucht – aber wenn ich wüßte, daß die Mondfahrt mit Friede in der leibhaftigen Hölle enden würde – – – lieber das, als ohne sie weg von der Erde!«
»Oh –!« rief das Mädchen in einem Sturm des Frohlockens und hob sich hoch auf wie ein schlanker, weißblühender Strauch, der in der Sonne schimmert und im Winde sich wiegt, »oh, ich liebe dich – ich liebe dich –!«
Und sie warf sich ungestüm in die Arme des Mannes, die sich leidenschaftlich über ihr schlossen.
Wolf Helius wandte sein graues Gesicht zur Seite.
Er hat recht! sprach das Herz in ihm. Er hat recht … er hat recht … Mondfahrt … Himmelfahrt … Höllenfahrt … alles ist eins – wenn du nur da bist … Dein Wille geschehe, Friede …