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Fünfter Abschnitt.
Charakterbilder aus der Geschichte der Griechen.

I. Lykurg und Solon.

 

Lykurg. Nach »Bäßler – hellenischer Heldensaal.«

 

1.

Im Peloponnes, an den lieblichen Ufern des Eurotas, lag eine große alte Stadt ohne Mauern und Thore. Das war Sparta. Sie war das Haupt der Provinz Lakonien und wurde mit ihrem Stadtgebiete auch wohl Lacedämon genannt. Die eingewanderten Dorier hatten sie erobert und die Zwillingssöhne Prokles und Eurysthenes theilten sich in die Herrschaft. Seitdem hatte Sparta immer zwei Könige, den einen aus des Prokles, den andern aus des Eurysthenes Stamme. Die dorischen Spartaner sahen sich als die Vollbürger und Herren des Landes an, die unterworfenen Lakonier aber für ihre Unterthanen und Erbpächter. Hart drückte auf diese die neue Herrschaft und die Einwohner der Stadt Helos waren die ersten, welche ihr altes Recht mit den Waffen in der Hand wieder gewinnen wollten. Allein der Versuch mißlang. Die stolzen Spartaner nahmen aus Rache den Besiegten nicht nur das beschränkte Landeigenthum, sondern auch die persönliche Freiheit. Die Heloten wurden Sklaven und ihr Schicksal theilten Alle, die später noch für ihre Freiheit gegen die Spartaner zu kämpfen wagten.

Bald erhob sich aber auch Zwietracht unter den vornehmen Bürgern selber und diese standen gegen die Könige auf, wenn letztere nach ihrer Meinung zu streng regierten. In einem solchen Aufstande geschah es, daß der König Eunomos, der Vater des Lykurgos, mit einem Küchenmesser erstochen ward.

Er hinterließ die Regierung seinem ältesten Sohne Polydektes. Dieser starb jedoch bald und nun glaubte Jedermann, sein jüngerer Bruder Lykurgos sei sein Nachfolger. Lykurg übernahm das Regiment. Da erfuhr er, daß seine Schwägerin, die Wittwe des verstorbenen Königs Polydektes, ein Kind unter ihrem Herzen trage. Sogleich erklärte Lykurg den Thron für das Eigenthum dieses Kindes und verwaltete die Regierung fortan nur noch als dessen Vormund. Inzwischen that ihm die Königin heimlich zu wissen, sie sei bereit, das Kind zu tödten, wenn er ihr verspräche, sie als König zu heirathen. In der Absicht, das Kind selber zu retten, verbarg Lykurg den tiefen Abscheu, den er gegen ein solches Anerbieten empfand, und ließ die Königin bitten, sie möchte nur ihm die Tödtung des Kindes überlassen.

Als nun der Knabe geboren war, schickte die Mutter ihr Kind sogleich dem Lykurg. Dieser saß gerade mit den höchsten Beamten bei Tische; er nahm das Kind auf seine Arme und rief den Anwesenden zu: »Spartiaten, ein König ist uns geboren!« Darnach legte er es auf den königlichen Stuhl und gab ihm den Namen Charilaos, d. i. Volksfreude, denn Alles war erfreut über einen solchen Beweis von Edelmuth und Gerechtigkeit.

Auch sein übriges Betragen erwarb dem Lykurg die höchste Achtung bei seinen Mitbürgern und diese beeiferten sich, seinen Befehlen als Reichsverweser pünktlich Folge zu leisten. Aber die Königin und ihr Bruder fühlten sich schwer beleidigt und suchten nun das Gerücht zu verbreiten, Lykurg warte nur auf eine gelegenere Zeit, um den jungen König aus dem Weg zu räumen und sich selber zum Alleinherrscher zu machen. Als der brave Mann solche Verleumdung hörte, beschloß er, so lange außer Landes umherzureisen, bis sein junger Neffe zum Manne erwachsen sei.

 

2.

Zuerst begab sich Lykurg zu Schiffe nach der Insel Kreta. Diese Insel war schon lange berühmt durch die vortrefflichen Gesetze, die ein weiser König Minos den Bewohnern gegeben hatte und wodurch diese mächtig zur See und glücklich in ihrem Lande geworden waren. Durch seine Weisheit und Gerechtigkeit hatte sich Minos eine solche Achtung unter den Menschen erworben, daß nach seinem Tode die Sage ging, Minos verwalte in der Unterwelt das Richteramt über die Todten.

Von Kreta schiffte Lykurg nach Kleinasien hinüber und von dort soll er auch nach Aegypten gekommen sein. Ueberall machte er sich mit der Landesverfassung bekannt und merkte sich Alles, was er an den Gesetzen Vortreffliches fand, um es dann in seine Heimath zu verpflanzen. In Kreta hatte er die einfache, strenge Lebensweise der Einwohner bewundert; unter den kleinasiatischen Griechen fand er große Prachtliebe und Ueppigkeit. Natürlich gefiel ihm die Lebensweise der ersteren viel besser, dagegen traf er bei den letzteren auf ein unschätzbares Kleinod, nämlich die Gedichte des Homer. Diese herrlichen Gedichte schienen ihm eben so ergötzlich und unterhaltend, als reich an Lebenserfahrung und Staatsklugheit. Darum wandte er allen Eifer an, sie zu sammeln und abzuschreiben, um sie auch in Griechenland heimisch zu machen. Dorthin waren nur erst einzelne Bruchstücke gekommen, nun aber sollte das Griechenvolk das ganze Gedicht erhalten und Lykurg erwarb sich das hohe Verdienst, dies Ganze zu überbringen, das von allen Griechenstämmen mit Begeisterung ausgenommen und ein Mittel ward, daß sich die einzelnen Griechenvölker als eine Nation fühlten. Durch die Griechen sind aber die Gesänge des Homer ein Weltbuch geworden für alle gebildeten Völker der Erde.

Zu Lacedämon wurde Lykurg schmerzlich vermißt und mehrere Mal gingen Gesandte an ihn ab, um ihn einzuladen, bald zurückzukehren und die wankende Ordnung des Staates durch neue bessere Gesetze wieder zu befestigen. Er kehrte zurück, erkannte aber sogleich, daß einzelne Gesetze nichts fruchten würden; die ganze Verfassung mußte umgestaltet werden.

Mit solchen Gedanken erfüllt, wanderte er zunächst nach Delphi, um das Orakel zu befragen. Er verrichtete sein Opfer und gleich beim Eintritt in die Halle empfing er den berühmten Ausspruch der gottbegeisterten Priesterin Pythia:

O Lykurgos, du kommst zu meinem gesegneten Tempel.
Werth und theuer dem Zeus und den sämmtlichen Himmelsbewohnern.
Soll ich als Gott dich begrüßen, so frag' ich mich, oder als Menschen,
Ja, ich meine, du bist wohl eher ein Gott, o Lykurgos!

Zugleich erhielt er die Erklärung: Der Gott Apollo genehmige seine Bitte um gute Gesetze und bewillige ihm eine Verfassung, die weit besser sein würde, als alle übrigen.

 

3.

Hierdurch ermuthigt, schritt er zum Werk. Zuerst vertrauete er seinen Plan nur seinen Freunden, zog dann immer Mehrere auf seine Seite und suchte die vornehmsten Bürger für sein Unternehmen zu gewinnen. Als nun sein Vorhaben zur Reife gediehen war, mußten dreißig der angesehensten Lacedämonier in der Frühe des Morgens bewaffnet auf dem Markte erscheinen, um die Gegner einzuschüchtern und jeden Widerstand zurückzuschrecken. Der König Charilaos, in der Meinung, daß dieser Anschlag gegen ihn gerichtet sei, flüchtete sich in den Tempel der Athene; als man ihm aber seine Sicherheit durch Eidschwüre bekräftigte, ließ er sich bewegen, den Zufluchtsort zu verlassen und unterstützte nun selber den Lykurg.

Die erste und wichtigste unter den neuen Einrichtungen war die Einsetzung eines Senats, d. i. eines Rathes der Alten. Dieser Senat (Gerusia genannt) bestand aus 28 unbescholtenen Männern, die über 60 Jahr alt waren, und hatte mit den Königen gleiches Stimmrecht. Eine sehr heilsame Anordnung! Denn während bis dahin Könige und Volk um die Herrschaft gerungen hatten und der Staat immer zwischen beiden Parteien schwankte: so diente nun der Senat, zwischen beide sich bekämpfende Mächte in die Mitte gestellt, wie der Ballast in einem Schiffe – er erhielt das Gleichgewicht. Wollte das Volk zu viel fordern, hatte es den Senat gegen sich; machten die Könige Uebergriffe, stellte sich der Senat auf die Seite des Volks. Nur die Könige und Aeltesten durften, in den Versammlungen der Volksgemeinden ein Gesetz vorschlagen; das Volk hatte aber das Recht, dieses Gesetz anzunehmen oder zu verwerfen. Damit aber das Volk die hohen Staatsbeamten überwachen konnte, wählte es noch fünf Ephoren aus seiner Mitte, die an der Regierung Theil nahmen.

Die zweite und kühnste Verfügung des Lykurg war die Theilung des Grundbesitzes. Die Ungleichheit des Vermögens war zu jener Zeit überaus groß in Sparta; während der Reichthum in wenig Häuser zusammengeflossen war, fiel eine Menge besitzloser, armer Leute dem Staate zur Last. Die Einen schwelgten in Ueppigkeit, die Andern darbten im Elend. Um dieses Uebel von Grund aus zu heilen, überredete Lykurg seine Mitbürger, das gesammte Grundeigenthum als Gemeingut zu erklären und dann von Neuem unter Alle zu vertheilen. Für die Markung von Sparta wurden 9000 Loose gemacht, das übrige Lakonien in 30,000 Loose getheilt. Jedes einzelne Loos hatte die Größe, daß es dem Besitzer an Gerste, Wein und Oel – als den unentbehrlichsten Nahrungsmitteln – so viel lieferte, als nöthig war, um sich bei Kraft und Gesundheit zu erhalten.

Als er einmal, von einer Reise zurückkehrend, durch die frisch geschnittenen Felder kam und die aufgeschichteten Getreideschober sah, wie sie gleich und gleich einander gegenüber standen, sprach Lykurgos lächelnd zu seinen Begleitern: »Man sollte meinen, ganz Lakonika gehöre vielen Brüdern, welche eben getheilt haben!«

Lykurgos blieb indeß hierbei nicht stehen; auch die bewegliche Habe mußte getheilt werden, wenn die Ungleichheit schwinden sollte. Die Gold- und Silberschätze waren aber leicht zu verbergen und so gutwillig würden ihre Besitzer sie nicht weggegeben haben. Was thut nun der kluge Mann? Er schaffte alle Gold- und Silbermünzen ab und führte eisernes Geld ein, dessen Stücke aber so groß und schwer waren, daß man, um Hundert Thaler aufzubewahren, ein großes Gemach haben, und um diese Summe fortzuschaffen, einen zweispännigen Wagen nehmen mußte. Sobald diese neue Münze in Umlauf kam, verschwanden aus Sparta eine Menge von Verbrechen. Denn wer hätte noch Lust gehabt, durch Diebstahl, Betrug oder Bestechlichkeit Geld an sich zu bringen?

Mit den Gold- und Silbermünzen verschwanden noch viele unnütze Künste, ohne daß sie Lykurg besonders in Bann zu thun brauchte. Denn die übrigen Griechen bedankten sich schön für das eiserne Geld, daher konnte man in Sparta keine ausländischen Flitterwaaren kaufen; kein Handelsschiff lief in den lakonischen Hafen ein; kein Lehrer der Beredtsamkeit, kein Wahrsager, kein Goldarbeiter betrat mehr das arme Land. So mußte der Luxus von selbst absterben, und die einheimischen Künstler verwandten ihre Geschicklichkeit auf die unentbehrlichen Hausgeräthe, als Betten, Stühle, Tische und Becher.

Um alle Ueppigkeit noch wirksamer zu bekämpfen, führte Lykurg die gemeinschaftlichen Mahle ein. Keiner durfte zu Hause essen, selbst die Könige nicht. Zur bestimmten Stunde mußte sich jeder nach dem Markte verfügen, wo an großen Tischen gemeinschaftlich gespeist wurde. Jede Tischgesellschaft bestand gewöhnlich aus 14 Personen und jeder Tischgenoß lieferte dazu einen bestimmten monatlichen Beitrag an Gerstenmehl, Wein, Käse, Feigen und etwas Weniges an Geld zum Ankaufe der Zukost. Außerdem schickte der, welcher opferte, eine Erstlingsgabe, und wer ein Wild erlegt hatte, einen Theil seiner Beute. Ein Lieblingsgericht war die schwarze Suppe, ein Gemisch von Schweinefleischbrühe, Blut, Essig und Salz. Ein fremder Fürst, der viel von dieser Suppe gehört hatte, ließ sich eigens einen spartanischen Koch kommen, um sich ein solches Gericht bereiten zu lassen. Aber ihm wollte die Suppe nicht schmecken. »Ich dachte es wohl« – sagte der Koch – »denn unsere Suppe schmeckt nur Denen gut, die tüchtig gearbeitet und gehungert haben.«

Zu diesen Mahlzeiten der Erwachsenen fanden sich auch oft die Knaben in den Speisesälen ein; man führte sie dahin als in Schulen der Weisheit, wo sie Gespräche über die öffentlichen Angelegenheiten hörten, Vorbilder eines würdigen Benehmens vor Augen hatten und sowohl ohne Rohheit scherzen, als auch ohne Verdruß den Scherz ertragen lernten. Denn auch dies rechnete man zu den vorzüglichsten Eigenschaften eines Lacedämoniers, Scherz zu verstehen. Wem es übrigens wehe that, der durfte nur bitten, daß man aufhöre, und sogleich geschah es. Auch übte man dabei zugleich die männliche Tugend der Verschwiegenheit; beim Eintritt eines Jeden deutete der Aelteste auf die Thür mit den Worten: »Durch diese geht kein Wort hinaus!«

Wenn man nun gegessen und zuletzt mäßig getrunken hatte, ging man ohne Fackel nach Hause; denn es war nicht erlaubt, sich bei irgend einem Gange einer Leuchte zu bedienen, damit man in Nacht und Dunkel die Herzhaftigkeit lernte.

 

4.

Man kann sich aber denken, wie sehr diese Anordnungen den Zorn der Reichen gegen Lykurg erregen mußten. Sie stießen Schmähworte gegen ihn aus, rotteten sich zusammen, um Rache zu üben, und beleidigten ihn auf alle Weise. Zuletzt warf man gar mit Steinen nach ihm, so daß er sich genöthigt sah, den Marktplatz eilend zu verlassen und sich in einen Tempel zu flüchten. Schon hatte er den Vorsprung vor seinen Verfolgern gewonnen, als ein leidenschaftlicher Jüngling, Alkandros, ihn erreichte und den Lykurg, als dieser eben sich umwendete, mit dem Stock ein Auge ausschlug. Lykurg blieb stehen und zeigte den Bürgern sein blutiges Gesicht und das zerstörte Auge, ohne einen Laut des Schmerzes. Scham und Reue ergriff sie bei diesem Anblick und tilgte ihren Zorn; sie überlieferten ihm den Alkandros und begleiteten ihn unter lebhaften Aeußerungen der Theilnahme nach Hause. Lykurg war mit dieser Sühne zufrieden, entließ die Menge und nahm den Räuber seines Auges mit sich in sein Haus. Zerknirscht und erbangend stand der Jüngling vor dem Verletzten. Dieser aber sagte ihm kein hartes Wort, entfernte nur seine gewöhnlichen Diener und ließ nun den Alkandros deren Dienste verrichten. Der Jüngling, dem es nicht an natürlicher Gutmütigkeit fehlte, vollzog mit schweigendem Gehorsam die Befehle seines Herrn und lernte als ein täglicher Zeuge seines Wandels die Sanftmuth und Gelassenheit, die strenge Lebensart und unermüdete Thätigkeit des großen Mannes dermaßen schätzen und verehren, daß er mit aller Liebe an ihm hing und Allen das Lob des Lykurgos verkündete. So rächte sich Lykurgos, indem er aus einem ungesitteten und anmaßenden Jünglinge einen tugendsamen Mann bildete.

Der große Gesetzgeber hatte seine Gesetze nicht aufgeschrieben, gleichwie auch Sokrates und der größte Erzieher der Menschheit, unser Heiland Jesus Christus, eine schriftliche Aufzeichnung ihrer Lehren unterlassen haben. Lykurg war überzeugt, daß öffentliche Einrichtungen nur dann sicheren Bestand haben, wenn sie in die ganze Denk- und Lebensweise der Bürger übergegangen sind. Er wollte aber jeden einzelnen Bürger so erziehen, daß er sich selber ein Gesetzgeber sein könnte. Vor Allem suchte er seine Spartaner zu einem starken, abgehärteten Kriegsvolke zu bilden. Die Verhältnisse selbst erforderten dieses. Denn die Spartaner waren ursprünglich eine Kolonie von Kriegern, die sich mit Gewalt im Peloponnes niedergelassen hatten und sich inmitten einer feindseligen Bevölkerung auch nur durch Gewalt behaupten konnten. Wie Schildwachen im Felde mußten sie immer zum Empfange eines Gegners bereit sein. Darum war auch fast ihr ganzes Leben nur dem Kriege geweiht. Kein Spartaner trieb Ackerbau oder ein friedliches Gewerbe, – das Alles war Sache der Heloten, die nun ein noch härteres Schicksal hatten, nachdem die Sklaven Eigenthum des ganzen Staates geworden waren. Früher schonten die Herren ihre Sklaven des Vortheils willen, nun aber war der Tod eines Sklaven kein Verlust mehr; ja, als sich die Heloten vermehrten, sah man es gern, wenn viele derselben hingeopfert wurden. Wie weit entfernt war doch hierin das Lykurgische Gesetz von dem Geiste christlicher Liebe, die alle Menschen als Brüder betrachtet! Es mag nicht in der Absicht Lykurg's gelegen haben, aber doch kam es bald nach seinem Tode dahin, daß junge Spartaner auf die Heloten zuweilen Jagd machten, wie unsere Jäger auf Hirsche und Rehe, und wer dann die meisten erlegt hatte, wurde auch am meisten gelobt.

 

5.

Sollte der spartanische Knabe ein tapferer Krieger werden, so mußte er früh sich abhärten; den ganzen Tag übte man ihn im Laufen, Schwimmen, Werfen. Diese Uebungen wurden in leichter Unterkleidung angestellt und die Uebungsplätze hießen Gymnasien, von dem griechischen Worte gymnos = nackt. Zu Athen verband man mit diesen Gymnasien auch Uebungen in der Bildung des Geistes, daher unsere Gelehrtenschulen den Namen »Gymnasien« empfangen haben. Der Staat sollte nur aus gesunden und kräftigen Bürgern bestehen. Daher wurde jedes neugeborne Kind erst besichtigt und wenn es zu schwach und kränklich befunden wurde, dem Verhungern ausgesetzt, »weil ja das Leben eines gebrechlichen Menschen weder ihm selber, noch dem Vaterlande frommen könne.« Die lacedämonischen Ammen warteten die Kinder mit vieler Kunst und Sorgfalt und waren um dieser Vorzüge willen auch im Auslande gesucht. Sie zogen ihre Pfleglinge ohne Windeln auf und ließen ihre Glieder sich frei entwickeln. Auch sorgten sie dafür, daß die Kinder keine Kostverächter wurden, und litten an ihnen keine Unart, noch Furchtsamkeit im Finstern oder in der Einsamkeit.

Sobald die Knaben das siebente Jahr erreicht hatten, entzog sie der Staat der elterlichen Erziehung und nahm sie unter seine eigene Aufsicht, denn man hielt die Kinder für ein Gemeingut des Vaterlandes. Von nun an ließ man sie beständig zusammen leben, mit einander essen, spielen und lernen. Lesen und Schreiben lernten sie nur zur Nothdurft; Gehorsam gegen die Oberen, Ausdauer unter den Mühseligkeiten, Sieg im Kampfe – dies waren die ersten und letzten Tugenden. Darum hielt man sie mit den Jahren immer strenger; man ließ sie jederzeit in leichter Kleidung und barfuß gehen, nackend spielen, auch Hitze und Kälte, Hunger und Durst ohne Murren ertragen. Die Streu, auf welcher sie schliefen, mußten sie sich selber zusammentragen und das Schilf dazu, welches am Flusse Eurotas wuchs, mit der bloßen Hand knicken. Selbst die Mädchen härtete man durch Wettlauf und Ringen ab, damit sie einst kräftige Mütter würden. Bei ihren öffentlichen Spielen priesen die Jungfrauen bisweilen die Thaten der würdigsten Jünglinge, oder spotteten auch wohl der Schwachen und Feigen.

Weil ein guter Kriegsmann auch gewandt und klug sein muß, leitete man die Knaben frühzeitig zur List und Verschlagenheit. Man gab ihnen sehr karge Kost, damit sie aus den Speisesälen und Obstgärten auf geschickte Art stehlen lernten; wurden sie bei der That aber ertappt, so büßten sie – nicht den Diebstahl, sondern ihr Ungeschick, mit Fasten. Auch wurden sie im Tempel der Diana zuweilen bis auf's Blut gegeißelt, ohne daß sie ihr Gesicht zum Schmerz verzogen. Wie weit ihre Selbstüberwindung ging, kann man daraus entnehmen, daß Einer, der einen Fuchs gestohlen und ihn unter den Falten seines Mantels verborgen hatte, keinen Laut von sich gab, bis er todt niederfiel, weil der Fuchs ihm den Unterleib aufgebissen hatte.

Feigheit war die größte Schande und Flucht im Kriege ehrlos. Deshalb gab eine spartanische Mutter ihrem Sohne, als er in den Krieg zog, den Schild mit den Worten: » Mit ihm oder auf ihm!« d. h. entweder sieg' oder stirb! Als eine andere Spartanerin die Nachricht erhielt, ihr Sohn sei gefallen, fragte sie rasch: »Und hat er gesiegt?« Als man ihr das bejahete, fuhr sie fröhlich fort: »Nun dazu hab' ich ihn geboren, daß er für sein Vaterland zu sterben wisse.« Die spartanischen Schwerter waren kurz, »denn« – sagte einst ein Spartaner – »wir lieben es, dem Feinde nahe zu sein.« Eine Schlacht war ihnen ein Fest; geschmückt und mit fröhlichem Schalle der Flöten zogen sie in das Treffen.

Ihre Sprache war kurz und treffend, oft witzig. Eine witzige Antwort war sehr beliebt und daher nennt man noch immer eine kurze, bedeutsame, witzige Rede lakonisch. Ein athenischer Redner nannte die Lacedämonier unwissende Menschen. »Du hast Recht,« entgegnete der Spartaner, »denn wir allein unter den Griechen haben nichts Böses von euch gelernt.« Von Kunst und Wissenschaft, wie sie in Athen zur Blüthe gelangten, war freilich in Sparta keine Rede, darauf hatte es aber auch Lykurg nicht abgesehen.

Als nun so die Gesetze des großen Mannes in das Leben seiner Landsleute eingedrungen waren und das Orakel zu Delphi Alles gebilligt hatte, ließ er die Bürger schwören, so lange den Gesetzen treu zu bleiben, bis er von einer Reise in's Ausland zurückgekehrt wäre. Der Eid ward geleistet. Lykurgos nahm Abschied, kehrte aber nimmer zurück. Man sagt, er habe sich freiwillig der Speise enthalten und sich so den Tod gegeben, damit seine Mitbürger an den Eid gebunden blieben. Sein Ende war geheimnißvoll, aber es erhöhte den Werth seiner Gesetze. Sparta war der erste und mächtigste Staat in Griechenland, so lange es den Vorschriften Lykurg's treulich folgte.

 

Solon.

 

1.

In den ältesten Zeiten herrschten Könige über Athen, gute und schlechte, wie es eben kam. Die Athener hatten manche Kämpfe zu bestehen mit ihren Nachbarn; sie geriethen aber besonders in Noth, als die reichen kriegslustigen Dorier (die Athener gehörten zum milderen jonischen Stamme, während die Spartaner ihre dorische Stammesart nie verleugnen konnten) in das Gebiet von Attika einbrachen. Es war geweissagt worden, die Dorier würden siegen, wenn der König der Athener, Kodrus mit Namen, am Leben bliebe. Da beschloß der edelmüthige König, für sein Vaterland zu sterben. Er verkleidete sich in einen athenischen Bauer, fing im Lager der Feinde Händel an und wurde erschlagen. Bald wurde es ruchbar, wer der Erschlagene sei, die Dorier zweifelten an dem Siege und zogen wieder ab.

Als so der letzte athenische König sich für das Vaterland geopfert hatte, schafften die Athener, welche nicht mehr von Königen regiert sein wollten, die Monarchie ab und strebten zur Republik, in welcher das Volk regiert. An die Spitze der neuen Republik stellten sie einen Archonten oder Staatsverweser, der königliche Macht besaß, aber nicht erblich. Aus Dankbarkeit übertrugen sie dem Sohne des ruhmvoll gestorbenen Königs, nämlich dem Medon, die Archontenwürde. Diese Verfassung erhielt sich eine geraume Zeit, aber endlich dauerte dem unruhigen Athenervolke die lebenslängliche Herrschaft eines Archonten zu lange und sie wählten alle zehn Jahre einen neuen Archonten, endlich jedes Jahr neun Archonten aus den vornehmsten Familien. Das gab aber bald Hader und Zwietracht; Statt eines Königs regierten jetzt die Vornehmen, welche die niederen Volksklassen drückten. Wie in Sparta war auch in Athen ein großer Theil des Volkes verschuldet und ganz von den Reichern abhängig. Als die Bedrückungen der Armen immer empfindlicher wurden, brachen Unruhen und Aufstände aus. Vergebens trat der Archont Drakon als Gesetzgeber auf, welcher durch seine unerbittliche Strenge die Ordnung wieder herzustellen suchte. Seine Gesetze waren grausam, denn auf das kleinste Vergehen war die Todesstrafe gesetzt. Die Unordnung ward immer ärger, bis ein Mann den Staat rettete, indem er ihm eine Verfassung gab, wodurch Athen blühend und mächtig wurde. Dieser Mann war Solon.

 

2.

Solon stammte zwar nicht von reichen, aber von sehr angesehenen Aeltern ab, denn sein Vater gehörte dem Geschlechte des Kodrus an. Solon's Vater war durch seine Menschenfreundlichkeit und große Wohlthätigkeit verarmt und konnte seinem Sohne keine glänzende Erziehung geben. Doch der junge Solon fühlte Kraft in sich und vertraute lieber sich selbst, als daß er von seinen Freunden eine Unterstützung angenommen hätte. Er beschloß, Kaufmann zu werden, denn damals, war nach Hesiod's Ausdruck: »Arbeit noch keine Schande,« und die Handelsschaft hatte zudem noch bei den Athenern das Lob, daß sie Ausländisches heimisch mache, Freundschaftsbündnisse mit Königen schließe und an Kenntnissen bereichere.

Von Natur zum Frohsinn und heiteren Lebensgenuß geneigt, war Solon doch zugleich ein eifriger Verehrer der Weltweisheit, vorzüglich der Sittenlehre in ihrem Verhältnisse zum Staatsleben. Mit dem berühmten Philosophen Thales von Milet war er innig befreundet und der Scythe Anacharsis kam eigens nach Athen, um bei Solon die Weisheit der Griechen zu lernen.

Auch durch seine Anlagen zur Dichtkunst zeichnete sich Solon aus. Anfangs übte er sich nur zu seiner eigenen Unterhaltung in den Mußestunden; später aber machte er von diesem Talent einen sehr würdigen Gebrauch, indem er Sprüche der Weisheit und Lehren der Staatskunst in schönen Versen aussprach, die leicht von seinen Mitbürgern gefaßt und behalten wurden, wie noch heutzutage das Volk die Sprichwörter liebt. Ein Beispiel, wie geschickt und erfolgreich Solon seine Fertigkeit im Dichten anwandte, gibt uns das Folgende:

Die Athener hatten einen schweren und langwierigen Krieg mit den Megaräern um die Insel Salamis geführt und waren nun des Streites so überdrüssig geworden, daß sie bei Todesstrafe Jedermann verboten, von der Eroberung der Insel noch ferner zu reden. Das dünkte dem Solon schmachvoll, zumal da er wußte, daß viele junge Männer sich nach einer Erneuerung des Kampfes sehnten. Aber das Gesetz wollte er auch nicht übertreten. Da ließ er denn in der Stadt das Gerücht verbreiten, er sei wahnsinnig geworden. Zu Hause aber verfaßte er ein Gedicht, worin er die Athener mit kräftigen Worten zur Eroberung der Insel ermahnte, und dies Gedicht lernte er auswendig. Dann lief er auf den Markt, einen Filzhut auf dem Kopfe, sprang wie ein Irrsinniger umher und deklamirte sein Gedicht. Die versammelte Menge hörte aufmerksam zu und Alles klatschte den Worten Solon's Beifall. Das unlängst gegebene Gesetz ward aufgehoben, ein neuer Feldzug beschlossen. Solon leitete den Zug und die Megaräer wurden gänzlich geschlagen.

Durch diesen glücklichen Erfolg stieg Solon's Ansehen bedeutend; aber noch gefeierter ward sein Name, als er seine Stimme zum Schutz des delphischen Tempels erhob. Die Einwohner von Kirrha hatten einen zum Gebiet des delphischen Apollo gehörenden Landstrich sich zugeeignet, dazu mehrere Weihgeschenke aus dem Tempel geraubt. Da erklärte Solon, Athen dürfe diesem Frevel gegen das allen Griechen heilige Orakel nicht ruhig zuschauen und müsse den Delphiern Hülfe leisten. Die Athener schlossen sich dem Bundesheere an und das Tempelgebiet wurde gerettet.

 

3.

Was aber den weisen Solon Tag und Nacht beschäftigte und ihm die meiste Sorge machte, war die Rohheit der Sitten in Athen und die drückende Lage des Volks. Dem Nebel konnte nur durch eine ganz neue Verfassung abgeholfen werden; die Athener sehnten sich nach neueren und besseren Gesetzen, wie die Spartaner zu Lykurgos' Zeiten. Wer hätte aber besser ein neues Gesetz zu entwerfen vermocht als Solon, der zwischen den Armen und Reichen unparteiisch in der Mitte stand!

Zu diesem Zweck wurde Solon (594 v. Chr.) zum Archonten erwählt. Seine Freunde riethen ihm, er möchte die erlangte Würde benutzen, die Alleinherrschaft (Tyrannis) von Athen zu gewinnen. Aber Solon antwortete, daß er nicht seine Ehre suche, sondern das Volk der Athener groß und glücklich machen wolle. So blieb er streng in den Grenzen seines Amtes.

Sein erstes Werk war, die Armen von ihrer Schuldenlast zu befreien. Er wollte aber die Schuldner nicht ganz von ihrer Schuld entbinden, auch den Gläubigern nicht die ganze Schuldforderung entreißen, sondern er schlug einen Mittelweg ein. Die hohen Zinsen, welche für ein geliehenes Kapital zu zahlen waren, wurden herabgesetzt, dagegen ward der Geldwerth erhöhet, denn Solon ließ aus je 75 Drachmen fortan 100 Stück prägen, und diese leichtere Münze mußten die Gläubiger an Zahlungsstatt annehmen. Zugleich wurde festgesetzt, daß kein Armer wegen Zahlungsunfähigkeit zum Sklaven gemacht werden dürfe, welches bis dahin sehr oft geschehen war.

Anfangs war keiner von den beiden Theilen mit dieser »Entlastung« zufrieden; die Reichen schmerzte ihr Verlust und die Armen hatten auf eine allgemeine Gütertheilung gehofft, nach Art der Lykurgischen Gesetzgebung. Doch allmählich erkannte das Volk das Wohlthätige jener Verordnungen und alle Bürger brachten zum Dank ein gemeinschaftliches Opfer, welches man das »Entlastungsopfer« nannte.

Nun theilte Solon das ganze Volk in vier Klassen, die nach dem Vermögen unterschieden waren. Die Bürger der drei ersten Klassen hatten Theil an den Staatsämtern und mußten im Kriege eine schwere Rüstung haben. Aus den Bürgern der zweiten Klasse wurde die Reiterei genommen. Die vierte Klasse enthielt die unbemittelten Bürger, die im Krieg als Leichtbewaffnete, oder später, als Athen eine Seemacht war, auf der Flotte dienten. Diese Klasse hatte zwar Zutritt zu der Volksversammlung, aber nicht zu den Staatsämtern.

Die Volksversammlung hatte viele Rechte, die sonst nur den Königen und Fürsten zustanden. Sie konnte Krieg und Frieden schließen, Bündnisse eingehen, Beamte wählen, alte Gesetze aufheben und neue einführen. Damit aber die Macht der großen Volksmasse etwas beschränkt würde, stellte Solon der Volksversammlung den Rath der Vierhundert zur Seite, in welchen jede der vier Klassen hundert Mitglieder wählte. Nur was in diesem Rath beschlossen war, durfte der Volksversammlung vorgelegt werden, welche dann das Gesetz bestätigte oder verwarf. Somit lag immer die Hauptmacht in den Händen des Volks; die Solonische Verfassung war demokratisch, während die Lykurgische aristokratisch, d. i. Herrschaft der Vornehmsten, war.

Ferner erneuerte Solon das Ansehen des Areopags, eines sehr heilig gehaltenen Gerichtshofs, der schon seit alten Zeiten bestand und auf dem Hügel des Kriegsgottes Ares (Mars) seine Sitzungen hielt. Diese Sitzungen wurden bei Nacht ohne Licht gehalten, damit die Richter durch den kläglichen Anblick der Angeklagten nicht zum Mitleid bewegt würden. Ihre Urtheilssprüche schrieben sie auf Täfelchen und warfen diese schweigend in die Urnen, von denen die eine die Urne des Todes, die andere die der Erbarmung hieß. Waren die Stimmen aus beiden Seiten gleich, so wurde noch ein Täfelchen in die Urne der Erbarmung geworfen und der Beschuldigte frei gesprochen. Dieser oberste Gerichtshof hatte namentlich die Aufsicht über die Sitten der Bürger und die Entscheidung über vorsätzlichen Mord, Brandstiftung, Giftmischerei u. s. w. Einst verurtheilte der Areopag sogar einen Knaben, der Wachteln die Augen ausgestochen hatte, zum Tode, »weil ein solcher Mensch, wenn er herangewachsen sei, seinen Mitbürgern zum Verderben sein würde.« Das Ansehen und die Würde des Areopags befestigte Solon dadurch, daß er festsetzte, nur diejenigen Archonten, welche ihr Amt untadelhaft verwaltet hätten, dürften unter die Zahl der Richter ausgenommen werden.

Indem die Archonten nur aus der ersten Klasse der Bürger gewählt werden konnten, war die oberste Verwaltung und Gerichtsbarkeit in den Händen der Vornehmsten, also der demokratischen Grundlage eine aristokratische Spitze gegeben. Solon wollte allen Volksklassen gerecht werden und seine ganze Gesetzgebung war durchdrungen von einem milden Geiste edler Menschlichkeit. Von einem Stande der Heloten wußten die Athener nichts. Solon hatte Jedem das Recht gegeben, für einen Unrecht Leidenden Genugthuung zu fordern. Wurde z. B. Jemand von einem Stärkeren geschlagen oder sonst verletzt, so durfte, wer irgend wollte, den Beleidiger anklagen und gerichtlich verfolgen. Denn Alle sollten sich fühlen als Glieder Eines Körpers, und Solon erklärte diejenige Stadt für die beste und glücklichste, in welcher das Unrecht von Dem, der es nicht zu leiden hat, ebenso eifrig angeklagt wird, wie von dem Gekränkten.

Ein Solonisches Gesetz verordnete auch, daß bei bürgerlichen Unruhen Derjenige, welcher mit keiner Partei es halte, mit dem Verluste seiner bürgerlichen Rechte bestraft werden sollte. Diese Verordnung war sehr weise, denn am Schicksale seines Vaterlandes soll sich Jeder betheiligen.

In den Heirathsverträgen hob Solon die Mitgift gänzlich auf. Die Braut durfte nur drei Kleider und einiges Geräth von geringem Werth in das Haus ihres Gatten bringen; denn die Frau sollte keine Waare sein, die man nach ihrem höheren oder geringeren Werthe nahm, sondern ihrer Tugend willen vom Manne gesucht werden.

Lobenswerth war ferner das Verbot, Verstorbenen Uebeles nachzureden. Denn ein frommer Sinn achtet die Abgeschiedenen heilig, und wenn es schon unrecht ist, von Abwesenden Uebeles zu reden, da sie sich nicht verteidigen können, so ist es noch unbilliger, die Todten zu lästern.

Endlich war Solon ganz im Gegensatz zu Lykurg ein preiswürdiger Pfleger der Künste und Wissenschaften. Schon der felsige, unfruchtbare Boden von Attika wies seine Bewohner darauf hin, sich durch ihren Geist und ihre Geschicklichkeit Erwerbsquellen zu öffnen; ihre Lage in der Nähe des Meeres begünstigte den Handel. Um aber den fremden Kaufleuten und Seefahrern Etwas bieten zu können, das des Handels werth wäre, mußten geschickte Handwerker und Künstler vorhanden sein. In dieser Absicht verordnete Solon, daß ein Sohn, der von seinem Vater zu keinem Gewerbe angehalten sei, auch nicht mehr die Pflicht habe, ihm Unterhalt zu geben. Auch hatte der Areopag die Befugniß, auf die Beschäftigung des Einzelnen zu achten und keinen Müßiggänger zu dulden.

Dies waren die Grundzüge der Solonischen Verfassung. Welcher Weise könnte es aber allen Leuten recht machen! Nach Einführung dieser Gesetze kamen Tag für Tag zu Solon Leute bald mit Lob, bald mit Tadel, bald mit Anfragen und Erkundigungen, bald mit dem Wunsche, noch Dieses und Jenes in die Tafeln aufzunehmen. Um nun diesen Zudringlichen auszuweichen, beschloß Solon auf Reisen zu gehen. Zuvor aber ließ er die Archonten schwören, die ersten zehn Jahre an den Gesetzen unverbrüchlich fest zu halten.

 

4.

Zuerst ging er nach Aegypten und verkehrte daselbst mit den Gelehrtesten unter den Priestern. Dann schiffte er sich nach der Insel Cypern ein, wo er die besondere Gunst und Freundschaft eines Königs dieser Insel, des Philokypros, erlangte, der auf seinen Rath und unter seiner Leitung eine neue Stadt anlegte, die dem Solon zu Ehren Soloi genannt wurde. Am berühmtesten aber ist Solon's Besuch bei dem Könige Krösus von Lydien geworden, von dem er eingeladen wurde, nach der Hauptstadt Sardes zu kommen. Dem Solon verdankte dieser reiche und mächtige König späterhin sein Leben.

Während Solon's Abwesenheit war Athen leider wiederum in das alte Parteiwesen zurückgefallen. Die Küstenbewohner von Attika, das Volk vom platten Lande und dann die Gebirgsbewohner – Eins stand wider das Andere. Das Haupt der Letzteren, zu denen sich noch die große Zahl der gegen die Reichen am meisten erbitterten vierten Volksklasse schlug, war Pisistratus, ein naher Verwandter Solon's von mütterlicher Seite. Solon's Gesetze standen zwar noch in Geltung, aber man sah bereits ihrem Umsturz entgegen, denn jede der Parteien wünschte eine Veränderung der Verfassung, um wieder mehr Vorrechte vor der andern Partei zu bekommen.

So standen die Sachen, als Solon heim kam. Man erwies ihm zwar hohe Ehre, aber er war doch schon zu alt, um so kräftig aufzutreten wie vormals. Darum suchte er auf dem Wege friedlicher Unterredung die Parteihäupter zu versöhnen. Besonders schien Pisistratus ihm ein williges Ohr zu leihen. Dieser Mann war sehr gewandt und sehr anziehend in seinem Gespräche und Umgange, dabei ein Wohlthäter der Armen, bei denen er sich sehr beliebt gemacht hatte. Er strebte nach der Alleinherrschaft, wußte sich aber gut zu verstellen. Solon durchschauete ihn, warf aber deshalb keinen Haß auf ihn, sondern bemühete sich, durch freundliches Zureden ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Da irrte sich aber Solon sehr. Pisistratus war zugleich klug an Verstand, unbeugsam und fest in seinem Willen. Sobald er den günstigen Augenblick ersah, brachte er sich mit eigener Hand eine Wunde bei, fuhr dann in einem Wagen auf den Markt und klagte dem Volke, daß ihn seine Feinde hinterlistig überfallen hätten, weil er ein Freund des Volkes sei. Der große Haufe war sogleich zum Schutze seines Lieblings bereit. In der Volksversammlung ward beschlossen, dem Pisistratus eine Leibwache von 50 Keulenträgern zu geben. Solon sprach zwar mit allem Eifer dagegen, allein es bestätigte sich hier, was einst der Scythe Anacharsis über die griechischen Volksversammlungen gesagt hatte: »Bei euch Griechen halten zwar die verständigen Leute den Vortrag, aber die Einfältigen geben den Ausschlag.« Das Volk bewilligte dem Pisistratus die Leibwache und bald drang er mit Hülfe derselben in die Burg von Athen. Wer die Burg hatte, beherrschte Athen. Ueber dieses unerwartete Ereigniß gerieth die Stadt in große Bestürzung. Megakles, das Parteihaupt der Küstenbewohner, ergriff mit den Seinen die Flucht; Solon aber, obschon in hohem Alter, erschien furchtlos auf dem Markt und hielt eine Rede an die Bürger, worin er sie wegen ihrer Unbesonnenheit und Feigheit schalt und sie beschwor, nicht von der Freiheit zu lassen. Damals sprach er das berühmte Wort: »Vorher war es euch leichter, die Tyrannei, welche noch im Keime war, zu unterdrücken; jetzt ist es größer und ehrenvoller, die schon erwachsene und erstarkte zu zerstören.«

Da aber die Furcht seinen Vorstellungen den Eingang verschloß, so ging er nach Hause, ergriff die Waffen, stellte sich in voller Rüstung auf die Straße und sprach: »Ich habe, so viel in meinen Kräften stand, Vaterland und Gesetze vertheidigt.«

Von nun an verhielt er sich ruhig, ohne doch von seiner Gesinnung abzulassen. Vergeblich riethen ihm seine Freunde zur Flucht und als man ihn fragte, worauf er sich denn verlasse, daß er so tollkühn sei? antwortete er: »Auf das Alter.« Pisistratus aber bewies ihm auch fernerhin große Achtung und Zuneigung und bediente sich seiner als Rathgebers. Die Solonischen Gesetze hielt er aufrecht und ging in Befolgung derselben mit gutem Beispiele voran. Ja sogar, als er vor dem Areopag des Mordes angeklagt wurde, erschien er, wiewohl er schon damals unumschränkte Gewalt besaß, ganz bescheiden vor den Richtern, um sich zu vertheidigen. Der Ankläger aber blieb aus.

Solon widmete die Muße seiner letzten Lebensjahre den Studien und der Dichtkunst, nach seinem Grundsatze:

»Lernend ohn' Unterlaß komm' ich in's Alter hinein.«

Doch soll er die Freiheit seiner Vaterstadt nicht lange überlebt haben und bereits im zweiten Jahre der Alleinherrschaft des Pisistratus gestorben sein. Sein Name ist unsterblich und mit Recht ist Solon zu den sieben Weisen des Alterthums gezählt worden.


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