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II. Theseus.

Nach K. F. Becker »Erzählungen aus der alten Welt.«

Die Landschaft Attika ward zur Zeit des Herkules von einem König beherrscht, der Aegeus hieß. Dieser hatte schon zwei Gemahlinnen, aber noch keine Kinder. Er fragte das Orakel um Rath, und dieses gab ihm den räthselhaften Befehl, er sollte reisen. Aegeus machte sich auf den Weg und besuchte zuerst seinen Freund Pittheus, welcher Beherrscher von Tröcene war. Der gab dem Gastfreunde seine Tochter Aethra zur Frau, denn es war ihm geweissagt worden, sie werde durch einen Fremdling einen Sohn bekommen, dessen Name weit berühmt sein würde. – Aegeus verweilte noch einige Tage in Tröcene, dann schickte er sich zur Abreise an. Ehe er aber sein Schiff bestieg, ging er mit Aethra in eine abgelegene Gegend am Meere, wo große Felsstücke lagen, und stark wie er war, hob er einen großen Stein auf, und legte sein Schwert und seine Sohlen darunter. »Sieh, Aethra!« – sprach er – »wirst du mir einen Sohn gebären und er wächst heran, so führe ihn hierher an diesen Stein und laß ihn denselben aufheben. Kann er das, dann erst sage ihm, wer sein Vater ist; und sehe ich dann einmal einen Jüngling, mit diesen Sohlen angethan und mit diesem Schwerte gegürtet, zu mir kommen: so werde ich ihn mit Freuden für meinen Sohn erkennen!«

Aethra versprach das und trennte sich mit traurigem Herzen von ihrem neuen Gemahl. Dieser kam bald darauf glücklich wieder zu Athen an, und ließ sich gegen Niemand merken, wo er gewesen sei.

Aethra gebar einen Knaben, ganz so, wie es ein Orakel dem Pittheus vorausgesagt hatte. Dieser nannte seinen Enkel Theseus und erzog ihn mit größter Sorgfalt zu allen körperlichen Geschicklichkeiten, die damals den Mann schmückten und ehrten. Der Knabe wuchs zu einem schönen, starken und klugen Jüngling heran, und durch seinen Anblick allein tröstete sich die Mutter über die Langeweile ihres einsamen Lebens im elterlichen Hause, denn ihr heimlicher Gemahl Aegeus kam nie wieder.

Als Theseus seine volle Manneskraft erlangt hatte, wünschte er nichts mehr, als die Welt zu sehen und sich in Abenteuern zu versuchen. Dazu feuerten ihn besonders die Reden und Thaten des Herkules an, der oft auf seinen Zügen bei seinem Gastfreund Pittheus einzukehren pflegte und sich schon oft über den kühnen Ehrgeiz des Jünglings gefreut hatte. Damals stand dieser Held schon im Mittagsglanze seines Ruhms und war, wohin er kam, ein Gegenstand der allgemeinen Bewunderung. Ihn also nahm der junge Theseus zum Vorbilde, und in der That hatte die Natur auch ihn zum Heroen bestimmt, denn in Körperkraft und Klugheit war er dem Herkules ähnlich.

Die zärtliche Mutter konnte ihren Sohn nicht länger zurückhalten; da führte sie ihn zu dem großen Steine hin, unter den vor 20 Jahren sein Vater Aegeus sein Schwert und seine Sohlen verborgen hatte. Mit Leichtigkeit wälzte Theseus den Stein hinweg, gürtete das Schwert um seine Lenden und band die Sohlen unter die Füße. Die Mutter zeigte ihm darauf die Stelle am Ufer, wo sein Vater vormals abgesegelt sei, und rieth ihm, auch zur See nach Athen zu gehen.

Aber der kühne Jüngling verwarf den vorsichtigen Rath, denn gerade deßhalb – meinte er – weil der Landweg nach Athen sehr gefährlich sei, müsse er diesen mit Fleiß einschlagen, damit er das Land Argolis und die Landenge, den waldigen Isthmus, von bösen Menschen säubere.

Theseus hatte kaum eine Tagereise zurückgelegt, so fand sich schon eine Gelegenheit, um seinen Muth zu erproben. In dem Walde von Epidauros wohnte nahe an der Straße ein übermüthiger Unhold, mit Namen Periphetes, der allen Vorübergehenden mit einer schweren Keule auflauerte und sie von hinten erschlug. Theseus, vorher schon gewarnt, durchsuchte die Gegend sehr vorsichtig, und als er den Riesen erblickte, forderte er ihn laut zum Kampfe heraus. Der Wilde kam trotzig hervor und schwang die Keule über ihm; aber ehe er sie niederschmettern konnte, war ihm schon des Jünglings scharfes Schwert in den Leib gefahren, daß er laut stöhnend zurückwankte und rücklings auf die Erde fiel. Freudig steckte Theseus sein Schwert in die Scheide und ergriff die Keule des Periphetes, die nun sein treuer Begleiter ward.

Indem er getrosten Muthes weiter zog, kam er in bewohnte Gegenden, in welchen ihm die Leute schreckliche Geschichten von einem andern Wilden erzählten, den sie nur den »Fichtenbeuger« nannten, oder auch wohl Sinis, d. i. Bösewicht. Dieser Räuber hauste am Eingange der korinthischen Landenge, und da bog er denn zwei benachbarte Fichten mit seinen starken Armen zusammen, indem er die Vorüberreisenden einlud, ihm das Kunststück nachzumachen; konnten sie das nicht, hing er sie an den Bäumen auf. Theseus, der außer dem Herkules noch keinen Mann gesehen hatte, der ihm an Stärke gleichgekommen wäre, war recht begierig, sich mit dem gewaltigen Sinis zu messen. Er kam, faßte die glattbehauenen Fichten und bog sie so kräftig zusammen, daß ihre Spitzen sich durchkreuzten. Bei diesem Anblick erblaßte der Bösewicht zum ersten Mal in seinem Leben, denn er merkte, daß die Strafe nahe sei. Theseus packte ihn an der Kehle und hängte ihn an der Tanne auf, einem Unglücklichen gegenüber, den Sinis vor Kurzem an der andern Tanne aufgeknüpft hatte.

Weiter kam Theseus in eine Gegend, wo große Eber hausten und alle Aecker der armen Einwohner verwüsteten. Diese Thiere wurden von dem Helden aufgejagt und erlegt; noch nie hatten die Leute einen so gewaltigen Jäger gesehen, und Alle strömten herzu, ihrem Wohlthäter zu danken.

Zwischen Korinth und Megara ging ein Weg an einem Felsenabhang hin, an welchem tief unten im Grunde das Meer fluthete. Vor diesem Engpasse warnte man den Theseus, denn dort lauere ein grausamer Riese, Skiron, den Wanderern auf, um sie plötzlich in's Meer zu stürzen. Noch Niemand hatte diesen Frevler bezwingen können; doch Theseus fürchtete sich nicht vor ihm. Er ging auf ihn los und rang lange mit ihm, endlich aber stürzte er ihn in denselben Abgrund, der schon so manche unschuldige Pilger verschlungen hatte.

Theseus kam Athen, der Hauptstadt seines Vaters, immer näher; aber ein Hauptkampf stand ihm noch bevor Damastes, der Ausdehner (Prokrustes) genannt, hauste am Ufer des Cephissus und lud alle Fremdlinge freundlich in seine Wohnung ein, bewirthete sie und führte sie dann höflich in eine Schlafkammer, wo zwei Bettgestelle standen, ein großes und ein kleines. War der Gast von kleiner Statur, legte er ihn in das große Bettgestelle, band ihn mit den Füßen an das untere Ende an und zog dann so lange am Kopfe, bis der Scheitel das obere Ende berührte eine Folter, die immer mit dem Tode endigte. War der Gast aber groß, so warf er ihn in die kleine Bettstelle und hackte ihm so viel von den Füßen ab, bis das Mißverhältniß gehoben war. Theseus, von der Gewohnheit des Unholds unterrichtet, kehrte freiwillig bei demselben ein und ließ sich ruhig in die Folterkammer führen. Damastes wies ihm das kurze Bett an, und freuete sich schon tückisch auf den Augenblick, da sein Gast sich niederlegen würde. Aber zu seinem Schrecken fühlte er sich plötzlich umschlungen, aufgehoben und selbst auf seine Folterbank niedergedrückt. Kein Bitten half; der Kopf ward mit den schon vorhandenen Schlingen festgeschnürt, die Beine wurden ausgestreckt und was zu lang war, mit dem wohlbekannten Beile abgehauen. Dann, um die Marter zu endigen, gab der Sieger mit seinem Schwerte dem Prokrustes noch einen Gnadenstoß.

Nun gelangte Theseus nach Athen; aber dort herrschte Zwietracht zwischen Aegeus und den Söhnen seines Bruders Pallas, die nach der Herrschaft strebten und denen der alte schwache König nicht zu widerstehen vermochte. Dem alten Vater kam der herrliche Sohn wie ein Engel vom Himmel; aber die Neffen des Königs stellten ihm nach dem Leben. Theseus faßte den weisen Entschluß, vor allen Dingen sich erst die Liebe des athenischen Volkes zu erwerben und ihm zu zeigen, daß er als Wohlthäter der Menschen gekommen sei. Ein grimmiger Auerochs irrte eben damals in den Feldern von Marathon umher; es war derselbe Stier, den Eurystheus losgelassen hatte. Das wüthende Thier streifte bis in die Nähe von Athen, und Keiner wagte sich mehr auf das Feld. Theseus faßte einen Wurfspieß in seine Rechte und begann sogleich den Kampf. Eine Menge Neugieriger schaute von den Stadtmauern herab zu, wie gewandt Theseus den Stößen des Stiers begegnete und wie kräftig er endlich den Spieß ihm in die Brust stieß. Frohlockend jauchzten die Athener dem Sieger entgegen.

Bald darauf leistete ihnen Theseus noch einen wichtigeren Dienst. Der mächtige König Minos in Kreta, dem die Athener einen Sohn getödtet hatten, war mit Heeresmacht herangezogen und hatte das Völklein der Athener gezwungen, ihm einen jährlichen Tribut von sieben Jünglingen und sieben Jungfrauen zu schicken, die in das Labyrinth, ein großes Gebäude mit vielen Irrgängen, geworfen wurden, wo ein Ungeheuer, der Minotaur, sie verzehrte. Eben sollte wieder die Sendung der unglücklichen Opfer nach Kreta abgehen, da erbot sich Theseus, selber den Zug mitzumachen und als Opfer dem Minos sich zu stellen. Mit blutendem Herzen sah der alte Vater den blühenden Sohn scheiden; dieser versprach, im Fall er siegreich zurückkehrte, wollte er ein weißes Segel aufstecken anstatt des schwarzen, mit welchem die armen Kinder absegelten.

Das Schiff kam in Kreta an; die Knaben und Mädchen wurden ausgeschifft. Die schöne Gestalt und kräftige Mannheit des Theseus gefielen der Königstochter Ariadne, und bald hatte der Held ihr Herz gewonnen. Als nun die Opfer in das Labyrinth gebracht werden sollten, gab Ariadne dem Theseus heimlich einen Knäuel, dessen Faden er unbemerkt am Eingange festknüpfte; nun drang er muthig mit seinem Schwerte bis zum Minotaurus vor. Dieser, halb Mensch, halb Stier, wollte den Helden verschlingen; aber Theseus hieb ihm den Kopf ab und kam mit den Seinigen glücklich wieder aus den Irrgängen heraus. Heimlich entfloh er mit den sieben Knaben und den sieben Mädchen; auch Ariadne nahm er mit in sein Schiff, und fröhlich segelte die Gesellschaft nach Athen zurück.

Aegeus hatte schon lange mit Sehnsucht der Rückkehr des Schiffes geharrt; alle Tage ging er an das Gestade des Meeres und stellte sich auf einen Felsen, von dem er weit in die See hineinschauete. Jetzt kam das Schiff, noch konnte man die Farbe des Segels nicht erkennen; aber Theseus hatte vergessen, an die Stelle des schwarzen Segels ein weißes zu setzen. Der alte König schauet, und o Jammer! ein schwarzes Segel wehet auf dem Schiffe. Verzweiflungsvoll stürzt er sich in das Meer hinab, um in den Fluthen seinen Kummer zu begraben. Seitdem führt das Griechische Meer auch den Namen des »Aegäischen.«

Bittere Reue kam in das Herz des Theseus, als er den Tod seines Vaters erfuhr. Doch die Athener jubelten und erwählten sogleich den heldenmüthigen Sohn an der Stelle des Vaters zu ihrem Könige. Jetzt sann der Held darauf, wie er das Land, das er fortan regieren sollte, blühend und kräftig machen könnte. Zuerst beschloß er, die in weiter Entfernung zerstreuten Bewohner in Einen Staat zu vereinigen. Athen bestand damals noch aus einer bloßen Burg, der Akropolis, und aus einigen um dieselbe herum gehenden Gassen, die zusammen mit einer Mauer umschlossen waren. Rings auf dem Felde umher lagen zwölf kleine Kolonien, Dörfern ähnlich, von denen jede ihren eigenen Beherrscher hatte. Theseus, im Vertrauen auf sein Ansehen, durfte es schon wagen, diesen kleinen Herrschern einen Vorschlag zu machen. Er lud sie ein, ihre Gerichtsbarkeit aufzugeben und sich mit der Mutterstadt zu vereinigen. Dafür sollten sie in einem Rathe Sitz und Stimme haben, in welchem auch Theseus nur ein Mitglied sein wollte. Ihr Herrscheramt gewann also im Grunde an Bedeutung, und so gingen denn die zwölf Häuptlinge in den Vorschlag des Theseus ein. Die engen Mauern von Athen wurden niedergerissen, die zwölf Dörfer schlossen sich an ihren gemeinsamen Mittelpunkt an. Die Einwohner wurden in drei Klassen abgetheilt, in Landbauer, Handwerker und Adlige. Unter den letzteren wurden alle jene regierenden Familien ausgenommen, und nur aus diesen die Mitglieder des hohen Gerichtshofes und die Priester erwählt.

Diese Einrichtungen waren ein sehr wichtiger Schritt zur Bildung, ein Schritt, den die Landschaft Attika allen andern griechischen Staaten vorausthat. Bald gewann der athenische Staat ein Ansehen in ganz Griechenland. Theseus vereinigte auch das benachbarte Gebiet von Megara mit Athen, maß dann die Grenzen von Attika ab, und weil er neue Spiele und neue Feste einführte, zog er die nächsten Nachbarn nach Athen, die gern sich in einer so lebenslustigen Stadt ansiedelten.

Für den Krieg hatte sich Theseus den Oberbefehl ausbedungen; da aber jetzt Alles in Frieden lebte, beschloß er, an einem Heldenzuge seines großen Meisters und Vorbildes Herkules Theil zu nehmen. Herkules hatte eben damals den Auftrag bekommen, den Gürtel der Amazonenkönigin zu holen, und warb überall in Griechenland tapfere Jünglinge zu Gefährten auf dem weiten Zuge. Theseus schloß sich mit Freuden an und gewann so sehr die Liebe seines Meisters, daß ihm dieser die schönste Beute, nämlich die Amazone Antiope, schenkte.

Indem er wieder nach Hause zurückkehren wollte, traf er aus einen verwegenen Jüngling, Namens Pirithous, den Sohn des Lapithenkönigs Ixion aus Thessalien; dieser war in die marathonischen Felder eingebrochen, um dort eine zahlreiche Heerde zu entführen. Es war nicht sowohl Raubsucht, als vielmehr ein Kitzel, sich durch irgend einen kühnen Streich hervorzuthun, denn auch in ihm brannte die Begierde, unter den Starken und Berühmten seiner Zeit genannt zu werden. Noch hatte er Herkules und Theseus nicht gesehen, aber er sehnte sich nach ihrem Anblick. Er hatte vielleicht den Einfall in Marathon nur deshalb gethan, um mit dem Theseus persönlich bekannt zu werden.

Mit geheimer Freude und Bewunderung sah er hieraus wirklich den Helden erscheinen, denn daß es Theseus war, verrieth ihm sogleich der ausgezeichnete Adel der Gestalt, die Würde des Ganges und der Stimme. So etwas hatte er nie gesehen; denn er stand bewundernd still, faßte sich und rief ihm entgegen, indem er ihm zum Zeichen des Friedens die Hand hinstreckte: »Würdigster Held, ich weiche dir ehrfurchtsvoll. Sei selbst mein Richter! Welche Genugthuung verlangst du?« – Theseus sah ihn mit Wohlgefallen an. »Daß du mein Waffenbruder werdest,« antwortete er ihm. Freudig fiel ihm Pirithous um den Hals, und Beide wurden unzertrennliche Freunde.

Noch manches Abenteuer bestand Theseus mit seinen Freunden gegen seine Feinde. Aber auf heimliche Feinde in seiner Nähe hatte er nicht geachtet; dies waren die Söhne seines Oheims Pallas, die Pallantiden genannt. Sie benutzten jede Gelegenheit, um den Theseus beim Volke zu verdächtigen, als strebe er nach der Alleinherrschaft. Die Athener vergaßen schnell die Wohlthaten, die ihnen der Held erwiesen, und verbannten ihn aus der Stadt. Er floh aus die Insel Skyros zum König Lykomedes; dieser nahm ihn freundlich auf, aber in seinem Herzen war er falsch gesinnt und trachtete, wie er den gefährlichen Gast am besten los werden konnte; denn er fürchtete sich vor den Pallantiden in Athen. Als nun Theseus gar keine Anstalt machte, wieder abzureisen, führte ihn der hinterlistige Lykomedes auf eine Felsenspitze, um ihm die ganze Landschaft und das Meer zu zeigen. Als der Held, ohne Arges zu ahnen, sich umschaut, stößt ihn Lykomedes hinab in den Abgrund des Meeres. – So schmählich endete ein Wohlthäter des Menschengeschlechts. Die Athener bereueten bald ihre Undankbarkeit, bauten dem Theseus Tempel und Altäre, und holten später seine Gebeine von der Insel Skyros nach Athen. In der Schlacht bei Marathon erschien ihnen der Geist des Helden, und man sagte, er habe sich an die Spitze der Athener gestellt und tapfer aus die Perser eingehauen.


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