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Adrian schrieb seiner Frau:
Condaford, am 10. August
‹Meine Liebste!
Ich versprach Dir, wahrheitsgetreu und eingehend darüber Bericht zu erstatten, wie Dinny unter die Haube kam. Willst Du wissen, wie Braut und Bräutigam beim Verlassen der Kirche aussahen, dann sieh dir das Bild in der «Laterne» an. Zum Glück fing die Kamera des neugierigen Reporters die beiden just im richtigen Augenblick ein, während sie noch stillstanden. Sonst wäre es ein Juxbild geworden – die Sohle des einen Fußes bis ans Auge gehoben, das Knie des andern Beins plump und verschwommen, die Hosen ganz aus der Form; denn nur die Filmkamera gibt Bewegungen richtig wieder. In der «Laterne» sieht Dornford ganz famos aus in seinem funkelnagelneuen Frack; und Dinny trägt – Gott sei Dank – nicht das herkömmliche «bräutliche Lächeln» zur Schau, sie scheint fast die Ironie der Angelegenheit zu durchblicken. Seit ihrer Verlobung habe ich mich immer wieder gefragt, was sie denn eigentlich für Dornford fühle. Eine Liebe wie die zu Desert bestimmt nicht, doch wenn ich nicht irre, hat sie auch keine physische Abneigung gegen ihn. Als ich sie gestern fragte: «Mit ganzem Herzen?», gab sie zurück: «Mit halbem jedenfalls nicht.» Wir beide wissen doch aus Erfahrung, daß ihre selbstlose Sorge für andere keine Grenzen kennt. Aber diesen Schritt tut sie doch für sich selbst. Sie wird das Geschlecht fortsetzen, wird Kinder haben, wird eine Rolle spielen. Das soll sie auch, und das fühlt sie auch, scheint mir. Sie ist keineswegs in Dornford «verschossen», doch sie achtet und bewundert ihn, meiner Meinung nach mit vollem Recht. Übrigens weiß er durch mich, vielleicht auch durch sie selbst, welcher Liebe zu ihm sie fähig ist, und erhofft sich vorderhand nicht mehr, als ihm wirklich zuteil wird. Das Wetter blieb den ganzen Tag über schön, und die Kirche, in der übrigens Dein eigener Partner einst die Taufe empfing, sah noch nie so feierlich aus. Die Hochzeitsgäste gemahnten vielleicht ein wenig an das England vergangener Tage, doch sieht man, glaube ich, solche Dutzendgesichter auch heute noch auf Schritt und Tritt.
Ganz vorn im Kirchenschiff in den weihevollen Regionen tauchte unser eigener Klüngel auf, Landadel und angehender Landadel. Je genauer ich mir den Landadel ansah, um so mehr muß ich Gott dafür danken, daß er die Cherrells unserer Generation gnädig davor bewahrt hat, diesem Adel zu gleichen. Sogar Conway und Lizzy, die doch ihr Leben draußen auf dem Land verbringen müssen, tragen nicht ganz diesen Stempel. Der Gedanke ist sonderbar, daß sich dieser englische Landadel bis auf den heutigen Tag erhalten hat; aber vermutlich wird er weiterdauern, solang es eine Jagd gibt. Ich entsinne mich noch, sooft ich als Junge zur Jagd aus unsern oder andern Ställen ein Reitpferd auftrieb, stahl ich mich gewöhnlich davon, um nur ja nicht mit den Jagdgefährten plaudern zu müssen; ihre Reden und ihr Tonfall gingen mir so auf die Nerven. Lieber ein gewöhnlicher Mensch sein als ein Mitglied des Landadels oder angehenden Adels. Ich muß gestehen, Clare benahm sich nach dieser ganzen Komödie im Gerichtssaal erstaunlich gelassen, und soviel ich sehen konnte, ließ sich niemand sein Vorurteil gegen geschiedene Frauen anmerken. Dann, in weniger weihevollem Hintergrund, fand sich korporativ das ganze Dorf ein – Dinny ist ja der besondere Liebling – eine richtige Versammlung uralter Bauern. Ein paar echte Charakterköpfe; ein alter Bursche namens Downer in einem Rollstuhl. Sein schlaues gebräuntes Gesicht umrahmte ein weißer Backenbart. Er entsann sich noch genau, wie Hilary und ich von einer Heufuhre herabpurzelten, auf die wir nicht hätten klettern sollen. Und Mrs. Tibwhite – eine liebe alte Hexe, die mir anno dazumal immer ihre Himbeeren zu essen gab. Die Schulkinder hatten einen Ferientag. Wie mir Lizzy sagte, hat kaum einer unter zwanzig von diesen Leuten London je gesehen oder sich fünfzehn Kilometer vom Dorf entfernt, trotz der modernen Verkehrsmittel. Dennoch wirken die jungen Burschen und Mädchen jetzt ganz anders. Die Mädel haben tadellose Beine und Strümpfe und ganz geschmackvolle Kleider; die Jungen tragen gute Flanellanzüge, auch Kragen und Krawatte – der Einfluß der vielen Motorräder und des Kinos. In der Kirche haufenweise Blumen, emsiges Glockenläuten, asthmatisches Orgelspiel. Hilary nahm den beiden blitzschnell wie gewöhnlich das Gelöbnis ab, und der alte Pfarrer Tasbourgh, der ihm assistierte, war ganz starr über dieses Tempo und Hilarys viele Kürzungen. Du möchtest natürlich auch über die Toiletten etwas erfahren. Im Kirchenschiff schien mir helles Enzianblau die Farbe des Tages. Selbst Dinny wirkte so, obwohl sie natürlich ein weißes Kleid trug; aber die Brautjungfern waren mit oder ohne Absicht alle in der gleichen Farbe herausstaffiert; Monica, Joan und die beiden jungen Nichten Dornfords, alle schlank und hochaufgeschossen, gemahnten wirklich an blauen Rittersporn; vor ihnen schritten vier blaugekleidete Gören, herzig, aber nicht so hübsch wie Sheila. Diese Schafblatterngeschichte kam wirklich sehr ungelegen, Du und Deine beiden Sprößlinge wurden ganz besonders vermißt; und Ronald hätte als Page bestimmt alle andern ausgestochen. Ich ging mit Lawrence und Emily, einer höchst imposanten Erscheinung in stahlgrauer Robe, nach Condaford zurück; ihre Wangen sahen etwas gestriemt aus, denn Tränen hatten den Puder an manchen Stellen fortgespült und verwischt. Ich mußte Emily also unter einem vom Blitz gehöhlten Baum zum Stehen bringen und ihr mit einem der seidenen Taschentücher, die Du mir mitgabst, einen Freundschaftsdienst erweisen. Lawrence war in bester Stimmung, erklärte, eine so schnurrige Gesellschaft habe er schon lang nicht mehr gesehen; er hoffe jetzt zuversichtlicher auf das weitere Fallen des Pfunds. Emily hatte Dornfords neues Haus in Campden Hill besichtigt; sie prophezeite, Dinny werde Dornford binnen Jahresfrist heiß lieben, und diese Vorstellung entlockte ihr eine neue Träne; deshalb lenkte ich ihre Aufmerksamkeit auf den Baum, den der Blitz getroffen hatte, während sie, Hilary und ich darunter gestanden. «Ach ja», sagte sie, «ihr wart Lausbuben, aber noch so klein, daß ihr gar keine Angst hattet. Der Kammerdiener schnitt uns aus dem Holz einen Federstiel, aber die Schreibfedern fielen stets heraus, darum gab ich ihn Conway für die Schule, und er verwünschte mich. Lawrence, ich bin alt geworden.» Worauf Lawrence sie an der Rechten nahm; den Rest des Weges legten sie Hand in Hand zurück.
Der Empfang fand auf der Terrasse und dem Rasen statt. Alle kamen, Schulkinder und die übrigen, eine sonderbar buntscheckige Gesellschaft, doch herzlich, wie mir schien. Ich hatte gar nicht mehr gewußt, wie sehr mir das liebe Condaford ans Herz gewachsen war. Mag man auch großen Wert darauf legen, alles gleich zu machen, diese alten Landsitze haben doch ihren besondern Reiz. Und läßt man sie einmal aus den Händen, so findet man keinen Ersatz mehr für sie; irgendwie bilden sie seltsamerweise den Brennpunkt der Landschaft. Manche Dörfer und Gegenden kommen einem so seelenlos vor, man weiß nicht recht, warum, aber sie scheinen so hohl und schal und flach. Ein richtiger alter Landsitz ist sozusagen das Herz der ganzen Gegend. Und wenn seine Bewohner nicht gerade abscheuliche Egoisten sind, so bedeuten sie den Leuten, die selbst keinen Grund und Boden besitzen, mehr als man glauben sollte. Schloß Condaford ist eine Art Anker für die Nachbarschaft. Unter den ärmsten Dorfbewohnern wirst Du nicht einen finden, der über diesen Herrensitz murren oder seinen Verfall nicht beklagen würde. Generationen haben auf dieses Gut ein Leben voll Liebe und Sorgen, aber Gott weiß nicht allzu viel Geld verwendet, und darum wirkt es nun ganz eigenartig, als ganz heimisches Erzeugnis. Alles ist dem Wandel unterworfen, muß sich ja wandeln, und eines unsrer größten, doch zumeist vernachlässigten Probleme besteht darin, wie wir in Landschaft, Häusern, Sitten und Gebräuchen, Institutionen, Charaktertypen und so fort alles, was weiter zu leben verdient, vor dem Untergang bewahren; wir konservieren unsere alten Kunstwerke, unsere alten Möbel, treiben einen hochentwickelten Kult mit «Antiquitäten» und selbst die modernsten Köpfe lehnen sich mit keinem Gedanken dagegen auf. Warum nicht auch Einrichtungen des sozialen Lebens vor dem Untergang bewahren? «Die alte Ordnung weicht» – freilich, aber einiges vom alten Erbe sollten wir uns doch erhalten: Schönheit, Würde, den Willen zu dienen, und unsere Bräuche – all das hat sich wohl sehr langsam entwickelt, kann aber in kurzer Zeit ausgerottet werden, wenn wir uns nicht irgendwie um die Erhaltung kümmern. Wie die Menschennatur nun einmal ist, scheint mir das Unterfangen, alles bis auf den Grund niederzureißen und neu aufzubauen, vollkommen nutzlos. Die alte Ordnung hatte ja mancherlei Auswüchse und war keineswegs über jeden Einwand erhaben; aber jetzt, da diese Ordnung demoliert wird, erkennt man erst richtig, daß ganz leicht in einer Stunde die Arbeit von Jahrhunderten zertrümmert werden kann. Wenn man aber nicht völlig im klaren darüber ist, ob man eine zugegebenermaßen unvollkommene Ordnung durch etwas Vollkommeneres ersetzen kann, so schleudert man die Menschen auf eine tiefere Kulturstufe zurück, statt sie zu erhöhen. Man müßte eben das Wertvolle heraussuchen und erhalten, allerdings dürfte es nicht sehr viel davon geben. Das sind recht böse Anzeichen! Um auf Dinny zurückzukommen – die beiden werden die Flitterwochen in Shropshire, Dornfords engerer Heimat, verbringen. Dann kehren sie für kurze Zeit nach Condaford zurück und lassen sich schließlich in Campden Hill nieder. Ich wünsche ihnen, daß das Wetter schön bleibt. Verregnete Flitterwochen gehen einem arg auf die Nerven, besonders wenn der eine Teil verliebter ist als der andere. Vielleicht interessiert es Dich, daß Dinny bei der Abreise ein blaues Kostüm trug, das ihr nicht übermäßig gut stand. Eine Minute konnten wir uns ungestört sprechen. Ich überbrachte ihr Deinen Glückwunsch, sie trug mir recht herzliche Grüße an Dich auf und erklärte: «Nun hab ich's beinahe hinter mir. Lieber Onkel, wünsch mir Glück!» Mir kamen fast die Tränen. Weshalb nur? Immerhin, wenn Glückwünsche helfen können, dann zieht sie glückbeladen hin; aber es war gewiß keine Kleinigkeit für sie, diese Küsserei über sich ergehen zu lassen. Conway und Lizzy erledigten ihre unten beim Auto. Als ich ihnen nach Dinnys Abreise ins Gesicht sah, kam ich mir geradezu herzlos vor. Das Brautpaar fuhr in Dornfords Auto davon, er lenkte es selbst. Danach, ich muß es gestehen, stahl ich mich fort. Über die beiden brauche ich mir keine Sorgen zu machen, aber es ging mir doch gegen das Gefühl. Jede Hochzeit wirkt so verwünscht unwiderruflich, mag man auch heutzutage die Scheidung noch so sehr erleichtern; übrigens läge es wohl nicht in Dinnys Charakter, einen Mann, der sie liebt, zu heiraten und ihn dann im Stich zu lassen; sie hält sich bestimmt eher an die altmodische Trauformel: «im Glück, im Unglück» – ich hoffe zuversichtlich, daß ihr diese Ehe Glück bringt, wenigstens im Lauf der Zeit. Ich schlich mich in den Obstgarten, dann hinauf durch die Felder in den Wald. Hoffentlich hast Du auch so herrliches Wetter gehabt wie wir. Diese Buchenwälder auf den Hügelhängen sind viel schöner als die Buchengruppen, die in regelmäßigen Abständen auf dem Hügelgelände gepflanzt werden; dennoch gemahnen auch die an einen Tempel, obgleich sie dem Zweck dienen, ein Grundstück abzugrenzen oder den Schafen Schatten zu spenden. Ich versichere Dir, um halb sechs wirkte dieser Buchenwald wie verzaubert. Ich stieg den Abhang hinan, setzte mich nieder und genoß den Anblick. Große Bündel von Sonnenstrahlen drangen durchs Laub herab und malten ihre Kringel auf die Stämme; dazwischen ganz tief grüne, kühle Flecken – wahrhaftig, ein Heiligtum! Viele der Bäume setzten erst hoch oben die Äste an, einige Stämme schimmerten fast weiß. Nicht viel Unterholz, ganz wenig Lebendiges, nur ein paar Häher und ein braunes Eichhörnchen. Wenn man in einem solchen Wald an Erbschaftssteuern und Schlagholz denkt, dreht sich einem der Magen um, als hätte man zum Nachtmahl eine Schüssel spanischer Zwiebeln verzehrt. Zweihundert Jahre dauerte es wohl, bis dieser Wald so herrlich wurde, und aus Ehrfurcht vor seinem Schöpfer dürfte man ihn nicht fällen. Diese Wälder sind nicht länger «verboten», und jeder darf sie betreten. Vermutlich machen die jungen Leute von dieser Erlaubnis Gebrauch, wie herrlich, mit der Liebsten darin umherzuwandern! Ich streckte mich auf einem sonnigen Fleck hin und dachte an Dich; zwei kleine graue Holztauben saßen etwa fünfzig Schritt vor mir auf den Ästen und unterhielten sich traulich miteinander – schade, daß ich nicht den Feldstecher mithatte. An den Stellen, wo die Bäume geschlagen und entfernt worden waren, wucherten Rainfarn und Weiderich – Fingerhut blühte nur vereinzelt in der Nähe. Alles atmete tiefen Frieden, aber das Herz tat mir ein wenig weh, weil alles ringsum gar so schön und grün war. Seltsam, daß Schönheit weh tun kann! Vielleicht beschleicht uns ein Gefühl der Vergänglichkeit darum, weil wir eines Tages alles lassen müssen, und je schöner es gewesen, um so empfindlicher trifft uns der drohende Verlust! Ein schwerer Fehler, das. Aber je schöner die Welt ist, je wunderbarer Licht und Wind im Laub der Bäume spielen, je anmutiger die Natur sich offenbart, um so sanfter und wohliger werden wir in ihr ruhen. Wie seltsam! Ich weiß ja, der Anblick eines toten Kaninchen macht inmitten eines solchen Waldes viel tiefern Eindruck auf mich als im Wildbretladen. Auf dem Heimweg sah ich eines am Wegrand liegen, ein Wiesel hatte es umgebracht. Mir war's, als riefe mir sein weicher, schlaffer Körper zu: ‹Jammerschade, daß ich tot bin!› Mag der Tod auch schön sein, das Leben ist noch viel schöner. Wie erschütternd wirkt doch ein Leichnam, der die Gestalt des Lebenden noch unversehrt bewahrt! Gestalt und Leben sind eins, und ist erst das Leben dahin, dann scheint es uns unbegreiflich, daß der Tote die Gestalt noch jene kleine Zeitspanne behält. Gern wäre ich länger geblieben, hätte gern noch gesehen, wie der Mond aufging, neugierig spähte und langsam sein fahles, geisterhaftes Licht über alles ergoß; vielleicht hätte ich mir dann gedacht: Am Ende lebt die Gestalt ja doch weiter, nur irgendwie verklärt, und wir alle, auch die toten Kaninchen, Vögel und Motten, regen uns noch immer, dauern auch im Tode fort – das mag schon so sein, nach allem, was ich weiß, was ich je wissen werde. Doch für acht Uhr war das Dinner festgesetzt, darum mußte ich fort aus dem noch immer grüngoldenen Licht. Draußen auf der Terrasse traf ich Foch, Dinnys Wachtelhund. Mir war's, als sähe ich einen Verbannten, ich kannte ja seine Geschichte; zwar stieß er kein Geheul aus, doch erinnerte er mich ganz deutlich an alles, was Dinny erlebt und ausgestanden. Er saß auf den Hinterbeinen und starrte ins Leere, wie es Hunde, besonders Wachtelhunde, gerne tun, wenn sie etwas ganz und gar nicht fassen können und ihren einziggeliebten Herrn nicht mehr wittern. Wenn die beiden zurückkommen, geht Foch mit ihnen selbstverständlich nach Campden Hill. Ich stieg hinauf, nahm ein Bad, zog mich um und stand am Fenster. Von den Feldern drang das Surren einer Mähmaschine herüber, die noch Korn schnitt; der Duft des Geißblatts und der Blumen, die mein Fenster umranken, machte mich ein wenig trunken. Nun erst verstand ich, was Dinny mit den Worten ‹hinter mir› eigentlich gemeint hatte. Hinter ihr lag jetzt der Strom, von dem sie in ihren Träumen gewähnt, sie könne ihn nie überqueren. Nun, das ganze Leben ist ja ein solches Überqueren, mitunter ertrinkt man auch auf halbem Weg. Ich hoffe – ja, ich glaube fast, sie landet am andern Ufer. Die Mahlzeit verlief, wie solche Mahlzeiten stets verlaufen – wir sprachen nicht von ihr, gaben unsern Gefühlen in keiner Weise Ausdruck. Ich spielte mit Clare eine Partie Billard – sie kam mir überraschend sanft vor und anziehender, als ich sie je gesehn. Dann saß ich bis Mitternacht bei Conway, natürlich schwiegen wir uns dabei gründlich aus. Er und Lizzy werden Dinny gewiß arg vermissen.
Als ich wieder in meinem Zimmer war, fand ich das Schweigen bedrückend, der Mond schien fast gelb. Eben verbirgt er sich hinter den Ulmen, und über einem dürren Ast funkelt der Abendstern. Ein paar andre Sterne stehen auch am Himmel, aber zart und blaß. Diese Nacht ist fern dem Getriebe unserer Tage, fern der ganzen Welt. Kein Käuzchen schreit, nur das Geißblatt duftet noch immer berauschend. Und hier, Herzliebste, endet die Geschichte! Gute Nacht!
Stets Dein Dich liebender
Adrian›
Der 1867 in Coombe/Surrey geborene und 1933 in London gestorbene Nobelpreisträger hat mit seinen berühmten Trilogien «Forsyte-Saga» («Der reiche Mann» rororo Nr. 45, «In Fesseln» rororo Nr. 123, «Zu vermieten» rororo Nr. 124), «Moderne Komödie» («Der weiße Affe» rororo Nr. 165, «Der silberne Löffel» rororo Nr. 166, «Schwanengesang» rororo Nr. 166a), und «Cherrell-Chronik» («Ein Mädchen wartet» rororo Nr. 27, «Blühende Wildnis» rororo Nr. 297 und dem vorliegenden Band «Über den Strom» rororo Nr. 298) ein überzeugendes Bild englischen Wesens und Lebens vor und nach der Jahrhundertwende geschaffen. Er war zunächst Advokat, ehe er sich zur schriftstellerischen Laufbahn entschloß und rasch durch seine Dramen und Romane berühmt wurde. Mit naturalistischer Treue strebt Galsworthy eine objektive Menschendarstellung an, hinter der freilich leuchtend die Ideale des Gentleman und der Lady sichtbar werden. Ein hohes, untadeliges Gesellschaftsethos liegt seinen realistischen Romanen zugrunde. Auf der ganzen Welt gelesen, gilt er noch heute als der bedeutendste Schilderer des traditionellen England.
Inhalt: Mit diesem Band schließt die Cherrell-Chronik. Dinny, die einen ihrer würdigen Mann heiratet, tritt ein wenig zurück – zugunsten der Liebesverwirrungen ihrer Schwester Clare. Clare läuft ihrem Gatten, einem sadistischen Kolonialbeamten, davon. Sie lernt den biederen, zuverlässigen Tony kennen, dem sie sich aber erst nach einem aufregenden und für die ganze Familie peinlichen Scheidungsprozeß verbinden kann. Diesen Prozeß und andere die Familienehre bedrohende Händel nutzt Galsworthy dazu, die Hohlheit der Gesellschaftsordnung nach allen Richtungen zu durchleuchten. Auch in diesem Band seiner letzten großartigen weit ausgreifenden Familien-Trilogie bewährt Galsworthy sich als der warmherzige und hellsichtige Menschenkenner, als der er zum literarischen Repräsentanten einer ganzen Epoche wurde: «der dichterische Historiker des englischen Bürgertums», wie Thomas Mann ihn genannt hat.
Literatur über Galsworthy in deutscher Sprache: K. Schrey, J. G. und die besitzenden Klassen Englands, 1917 / F. C. Steinermayr, Der Werdegang von J. G.'s Welt- und Kunstanschauung, «Anglia» 49/50. 1925 / L. Schalit, J. G., 1928 / E. Leinert, Victorianismus bei G., Diss. Marburg 1930 / W. Héraucourt, Die Darstellung des englischen Nationalcharakters in J. G.'s «Forsyte-Saga», 1933 / J. Kroener, Die Technik des realistischen Dramas bei Ibsen und G., 1935 / W. Schmitz, Der Mensch und die Gesellschaft im Werke J. G.'s, Diss. Köln 1936 / G. Gese, G. als sozialer Kritiker und Reformer, Diss. Greifswald 1938 / O. Funke, Wege und Ziele, 1945.