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Seit grauen Zeiten zeichnet die führenden Männer Englands eine gewisse Eigenschaft aus, die sie zu dem gemacht hat, was sie sind – die schon so viele Advokaten ins Parlament gebracht hat, so viele Diener Gottes auf den Bischofsstuhl, die so viele Finanzmänner flott gemacht, so vielen Politikern die Sorge um das Morgen erspart, so vielen Richtern die Gewissensbisse genommen hat; und auch Eustace Dornford besaß diese Eigenschaft in nicht geringem Maße. Kurzum, seine Verdauung war ausgezeichnet, er konnte jederzeit essen und trinken, ohne später etwas davon zu spüren. Stets erwies er sich als unermüdlicher Arbeiter, auch bei Sport und Spiel. Und er besaß just jenes Quantum Nervenkraft, das ihn das Steeplechase der Juristen gewinnen ließ. Jetzt hatte er für das Parlament kandidiert, obwohl seine Praxis gewaltig gewachsen war, seit er vor zwei Jahren den Titel eines Königlichen Gerichtsrats erhalten hatte. Dennoch durfte man ihn keineswegs für einen rücksichtslosen Streber halten. Sein blaßbraunes, schöngeschnittenes Gesicht mit den haselnußbraunen Augen verriet Takt und Feingefühl, sein Lächeln war gewinnend. Er hatte ein nettes dunkles Schnurrbärtchen; das wellige dunkle Haar war noch nicht durch die Ratsperücke gelichtet. Nach seiner Studienzeit in Oxford hatte er sich durch so manches offizielle Dinner durchgegessen und in der Kanzlei eines wohlbekannten Advokaten seine Praxis begonnen. Bei Kriegsbeginn war er Fähnrich im Shropshire-Freiwilligenkorps gewesen, dann zur Kavallerie gekommen und bald darauf in den Schützengraben, wo er mehr Glück gehabt als so mancher andre. Nach dem Krieg hatte seine Laufbahn bei Gericht sehr raschen Aufschwung genommen. Die Anwälte mochten ihn gut leiden. Nie geriet er mit den Richtern in Konflikt und bewährte sich ausgezeichnet im Kreuzverhör, weil er es fast zu bedauern schien, daß er so viele Belastungsmomente ans Licht zog. Er war im römisch-katholischen Glauben erzogen, hielt sich aber nicht besonders streng daran. In Liebessachen war er wählerisch und seine Anwesenheit bei einer Tafelrunde brachte die losen Zungen zwar nicht ganz zum Schweigen, bewog sie aber doch zur Mäßigung.
In Harcourt Buildings, im Londoner ‹Temple›-Gebäudekomplex, hauste er in einer geräumigen Wohnung, wo er behaglich leben und arbeiten konnte. Ob schön, ob Regen, machte er frühmorgens nach zweistündiger Arbeit einen Spazierritt in der Reitallee des Hydeparks. Um zehn Uhr hatte er bereits gebadet, das Frühstück genommen, die Tagesneuigkeiten gelesen, und begab sich dann in den Gerichtssaal. Ab vier Uhr, nach Schluß der Verhandlungen, arbeitete er bis halb sieben noch an seinen Fällen. Die Abende, an denen er bis dahin frei gewesen, würde er fortan im Parlament verbringen. Vor dem Schlafengehen mußte er meist noch ungefähr eine Stunde lang einen Fall bearbeiten; seine sechsstündige Ruhezeit würde also vermutlich auf vier bis fünf Stunden zusammenschrumpfen.
Clares Pflichten bei ihm waren einfach genug. Sie kam um dreiviertel zehn, öffnete seine Post und nahm von zehn bis viertel elf seine Anweisungen entgegen. Dann blieb sie im Büro und erledigte die Korrespondenz; um sechs Uhr erschien sie wieder, um irgendeine Arbeit zu beginnen oder eine alte zu vollenden.
Am Abend, der auf den eben beschriebenen folgte, betrat Dornford punkt viertel neun das Empfangszimmer in der Mount Street, wurde willkommen geheißen und Adrian vorgestellt, den man wieder zu Tisch gebeten hatte. Sie unterhielten sich über den Pfundkurs und andre ernste Probleme; da sagte plötzlich Lady Mont: «Die Suppe ist serviert. Was haben Sie mit Clare angefangen, Mr. Dornford?»
Sein Blick, der bis jetzt fast nur an Dinny gehangen, glitt nun mit leiser Überraschung zur Hausfrau.
«Sie ging um halb sieben vom Temple fort und sagte, wir würden uns noch heute treffen.»
«Gehn wir also hinunter», sagte Lady Mont.
Nun folgte eine jener unbehaglichen Stunden, wie sie wohlerzogene Menschen nicht selten durchleben, wenn vier von ihnen besorgt sind, den Grund ihrer Besorgnis aber dem Fünften nicht verraten wollen und dieser Fünfte dennoch ihre Unruhe gewahrt.
Es saßen zu wenig Leute bei Tisch, als daß es sich hätte verschleiern lassen, denn was der eine sagte, konnten alle hören. Eustace Dornford war es unmöglich, mit einem seiner Nachbarn vertraulich zu plaudern; auch fühlte er instinktiv, er dürfe ohne vertrauliche Ansprache jenen Gegenstand nicht berühren. Darum war er sorgfältig darauf bedacht, streng offiziell zu bleiben und nur Themen zu erörtern wie etwa den Ministerpräsidenten, die noch ungeklärten Giftmorde, die Ventilation des Unterhauses, das Problem, was einer dort mit seinem Hut anfangen solle, also lediglich Gegenstände von allgemeinem Interesse. Doch gegen Ende des Abendessens merkte er nur zu deutlich, wie sehr alle schon drauf brannten, über Dinge zu sprechen, die er nicht hören durfte; deshalb erfand er einen telephonischen Anruf und ließ sich von Blore aus dem Zimmer führen.
Kaum war er draußen, sagte Dinny:
«Er muß ihr aufgelauert haben, Tantchen. Soll ich nicht hingehn? – Ihr könnt mich ja entschuldigen.»
«Warten wir doch lieber bis zum Aufbruch der Gäste, Dinny», erwiderte Sir Lawrence; «einige Minuten mehr oder weniger spielen jetzt keine Rolle mehr.»
«Meint ihr nicht», fragte Adrian, «man sollte Dornford über den Stand der Dinge unterrichten? Clare geht doch täglich zu ihm.»
«Ich werd es ihm sagen», erklärte Sir Lawrence.
«Nein», widersprach Lady Mont, «Dinny soll mit ihm reden. Dinny, wart hier auf ihn. Wir gehn inzwischen hinauf.»
So kam es, daß Dornford nach seinem Anruf eines Mannes in der Provinz, den er bestimmt nicht zu Hause wußte, Dinny wartend vorfand. Sie reichte ihm die Zigarren, nahm selbst eine Zigarette und sagte:
«Verzeihn Sie uns, Mr. Dornford, es handelt sich um meine Schwester. Geben Sie mir, bitte, Feuer; hier ist der Kaffee. Blore, könnten Sie mir ein Taxi besorgen?»
Als sie den Kaffee getrunken hatten und am Kamin standen, wandte sie ihm das Gesicht zu und fuhr hastig fort:
«Clare hat sich mit ihrem Gatten entzweit, wissen Sie; vor einigen Tagen traf er in England ein, um sie zurückzuholen. Sie will aber nicht und macht jetzt schwere Tage durch.»
«Hm!» äußerte Dornford taktvoll. «Ich bin Ihnen höchst dankbar, daß Sie mir das erzählen. Ich habe mich während der ganzen Mahlzeit sehr bedrückt gefühlt.»
«Leider muß ich jetzt gehn, um herauszubekommen, was los ist.»
«Darf ich mit Ihnen kommen?»
«Oh, danke, aber –»
«Es wäre mir wirklich eine Freude!»
Dinny zögerte. Er konnte ihr jetzt vielleicht von Nutzen sein, dennoch gab sie zurück:
«Danke, aber am Ende wäre es meiner Schwester nicht erwünscht.»
«Verstehe. Doch sobald ich Ihnen helfen darf, geben Sie mir, bitte, gleich Nachricht.»
«Ihr Taxi steht vor der Tür, Miss.»
«Eines Tages», sagte sie, «möchte ich Sie in einer Scheidungssache um Auskunft bitten.»
Im Auto fragte sie sich, was sie anfangen sollte, wenn sie nicht in Clares Wohnung könnte, gleich danach, was sie täte, wenn sie hinein könnte und Corven vorfände. An der Ecke der Hintergasse ließ sie den Wagen halten.
«Bitte, warten Sie hier, in einer Minute sag ich Ihnen, ob ich Sie noch brauche.»
Dunkel und abgeschieden lag die kleine Gasse da.
‹Wie das Leben›, dachte Dinny und zog die ziselierte Glocke. Leises Bimmeln, niemand erschien. Wieder und wieder schellte sie; dann trat sie zurück, um nach den Fenstern zu sehn. Die Vorhänge – es waren schwere Vorhänge, wie sie sich entsann – waren fest geschlossen. Sie nahm nicht aus, ob ein Licht dahinter brannte oder nicht. Wieder zog sie die Klingel, schlug mit dem Klopfer an die Haustür, hielt den Atem an und horchte. Kein Laut! Schließlich ging sie unruhig und verwirrt zum Auto zurück. Clare hatte gesagt, Corven sei im Bristol-Hotel abgestiegen; sie gab dem Lenker die Adresse. Es gab ja ein Dutzend Gründe, die Clare abhalten konnten; doch warum hatte sie in einer Stadt der Telephone die Tante nicht verständigt? Halb elf! Vielleicht hatte sie schon angerufen!
Der Wagen fuhr beim Hotel vor.
«Bitte, warten Sie!»
Sie betrat die in ruhigem Goldton schimmernde Halle und stand einen Augenblick ganz verlegen. Die Umgebung schien so gar nicht zu ihren Sorgen zu passen.
«Sie wünschen, Gnädige?» fragte die Stimme eines Hotelpagen.
«Bitte, könnten Sie nicht in Erfahrung bringen, ob mein Schwager, Sir Gerald Corven, im Hotel ist?»
Was sollte sie nur sagen, wenn man Jerry zu ihr brachte? Ein Spiegel warf ihre Gestalt im Abendmantel zurück; daß sie sich so aufrecht hielt, überraschte sie selbst, ihr war es, als müsse sie gebeugt gehn, taumeln. Doch man führte den Schwager nicht zu ihr. Er befand sich weder in seinem Zimmer, noch in einem der Gesellschaftsräume. Sie trat wieder auf den Chauffeur zu.
«Zurück in die Mount Street.»
Dornford und Adrian waren gegangen, Onkel und Tante spielten Piquet.
«Nun, Dinny?»
«Ich konnte nicht in ihre Wohnung. Und er war nicht im Hotel.»
«Du bist ins Hotel gefahren?»
«Mir fiel nichts Besseres ein.»
Sir Lawrence erhob sich. «Ich werde in den Burton-Klub telephonieren.» Dinny nahm neben der Tante Platz.
«Tantchen, ihr ist gewiß etwas zugestoßen. Clare ist doch nie rücksichtslos.»
«Entführt oder eingesperrt», erklärte Lady Mont. «In meiner Jugendzeit gab es einen solchen Fall. Thompson oder Watson – hat viel Staub aufgewirbelt. Beraubung der persönlichen Freiheit, oder so was Ähnliches – heutzutage hat ein Ehemann nicht mehr das Recht, den Verführer vor Gericht zu zitieren. Nun, Lawrence?»
«Seit fünf ist er nicht mehr im Klub gewesen. Wir müssen bis morgen früh warten. Vielleicht hat sie einfach vergessen; oder sie glaubt, für einen andern Abend eingeladen zu sein.»
«Sie sagte aber Mr. Dornford, sie würden einander noch treffen.»
«Das werden sie auch – morgen früh. Zerbrich dir jetzt nicht den Kopf, Dinny.»
Dinny ging in ihr Zimmer hinauf, blieb aber angekleidet. Hatte sie wirklich alles getan, was sich tun ließ? Die Nacht war klar und schön, für November noch warm. Kaum einen halben Kilometer weit lag diese einsame Hintergasse, sollte sie hinausschlüpfen und nochmals hingehn?
Sie warf das Abendkleid ab, zog ein Straßenkleid an, nahm Hut und Pelz und schlich die Treppe hinunter. In der Halle war es finster. Leise schob sie den Riegel zurück, trat hinaus und begab sich auf die Straße.
Als sie in die Hintergasse bog, wo eben zwei Wagen über Nacht in die Garage geschafft wurden, sah sie in den oberen Fenstern von Nr. 2 Licht. Sie waren geöffnet, die Vorhänge beiseitegezogen. Sie läutete.
Einen Augenblick später öffnete ihr Clare im Morgenrock die Tür.
«Warst du vorhin hier, Dinny?»
«Ja.»
«Leider konnte ich dich nicht hereinlassen; komm doch hinauf.»
Sie schritt ihr über die Wendeltreppe voran. Dinny folgte.
Oben war es warm und hell, die Tür in das kleine Badezimmer stand offen, das Lotterbett war zerwühlt. Clare sah ihre Schwester unglücklich, aber mit einem gewissen Trotz an.
«Ja, Jerry war hier, vor kaum zehn Minuten ist er fort.»
Ein Schauer des Entsetzens lief Dinny über den Rücken.
«Er kommt schließlich von sehr weit her», sagte Clare. «Lieb von dir, daß du dich so um mich sorgst, Dinny.»
«Ach Liebling!»
«Er stand schon vor der Haustür, als ich vom Temple zurückkam. Idiotisch von mir, ihn hereinzulassen. Nach allem – na, Schwamm drüber! Ein zweites Mal passiert mir das nicht.»
«Möchtest du, daß ich bei dir übernachte?»
«Ach nein. Aber trink doch eine Tasse Tee! Ich hab ihn eben gekocht. – Niemand darf etwas davon erfahren!»
«Natürlich nicht. Ich werde sagen, du hattest arges Kopfweh und konntest nicht ausgehn, um zu telephonieren.»
Als sie Tee tranken, fragte Dinny:
«Das hat doch deine Pläne nicht geändert?»
«Keine Spur!»
«Dornford war heute abend bei uns. Wir hielten es für das Beste, ihm zu sagen, daß du jetzt schwere Tage durchmachst.»
Clare nickte.
«Das Ganze muß euch allen sehr komisch vorkommen.»
«Mir erscheint es tragisch.»
Clare zuckte die Achseln, stand auf und schlang die Arme um die Schwester. Nach diesem stummen Abschied trat Dinny in die Hintergasse hinaus, die wieder dunkel und verlassen dalag. An der Ecke des Square lief sie fast in einen jungen Mann hinein.
«Mr. Croom, nicht wahr?»
«Miss Cherrell? Waren Sie bei Lady Corven?»
«Ja.»
«Geht es ihr gut?»
Seine Miene war bekümmert, seine Stimme klang besorgt. Dinny holte tief Atem, ehe sie ihm zur Antwort gab:
«Sie sagte mir gestern abend, dieser Mensch sei in London. Das beunruhigt mich furchtbar.»
‹Wenn er erst diesem Menschen begegnet wäre!› schoß es Dinny durch den Kopf. Doch sie sagte ruhig:
«Begleiten Sie mich bis zur Mount Street.»
«Vor Ihnen habe ich kein Geheimnis», sagte er, «ich bin bis über die Ohren in sie verliebt. Wer wäre das nicht? Miss Cherrell, sie sollte in diesem Hause nicht allein wohnen. Sie erzählte mir, daß er sie gestern besuchen wollte, während Sie bei ihr waren.»
«Ganz richtig. Ich hab ihn fortgeführt, so wie ich Sie jetzt fortführe. Ich glaube, man sollte meine Schwester sich selbst überlassen.»
Er schien sich zusammenzuraffen.
«Waren Sie je verliebt?»
«Ja.»
«Dann wissen Sie, wie das ist.»
Wahrhaftig, sie wußte es!
«Eine grauenhafte Qual, daß ich nicht bei ihr sein kann und danach sehn, ob es ihr gut geht. Sie nimmt das alles so leicht, aber ich bringe das nicht fertig.»
Nimmt alles so leicht! Und dieser Blick, mit dem Clare sie angesehn!
Sie gab keine Antwort.
«Mögen die Leute sagen und denken, was sie wollen», stieß der junge Croom ohne Zusammenhang hervor, «aber wenn sie fühlten, was ich fühle, könnten sie es einfach nicht. Ich mag Clare wahrhaftig nicht belästigen, aber ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß dieser Mann sie in Gefahr bringt.»
Dinny zwang sich, möglichst ruhig zu sagen: «Ich glaube nicht, daß Clare in Gefahr schwebt, aber sie gerät vielleicht noch in Gefahr, wenn man erfährt, daß Sie –» Er sah ihr gerade in die Augen.
«Ich bin so froh, daß Clare Sie hat, Miss Cherrell; um Gottes willen, geben Sie acht auf sie!»
Die beiden hatten die Ecke der Mount Street erreicht. Dinny streckte ihm die Hand hin.
«Seien Sie überzeugt, was immer Clare tut, ich halte fest zu ihr. Gute Nacht! Kopf hoch!»
Er drückte ihr heftig die Hand und lief davon, als sei der Teufel hinter ihm her. Dinny trat ins Haus und schob leise die Riegel vor.
Jawohl, ‹auf dünnem Eis›! Sie konnte kaum noch einen Fuß vor den andern setzen, als sie die Treppe emporstieg, und sank erschöpft aufs Bett.